Malachi Martin

 

Der letzte Papst

 

 

Roman

 


 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Geschichte als Prolog: Vorzeichen der Endzeit

 

Erster Teil - Abend

Wohlerwogene Pläne ...

 Freunde von Freunden

 Windswept House

 Von Mäusen und Menschen

 

Zweiter Teil - Dämmerung

 Im Dienste Roms

 Unvorstellbare Wahrheiten und die Politik der Extreme

 

Dritter Teil - Nacht

 Das Rücktrittsprotokoll

 Quo Vadis?

 


 

Geschichte als Prolog: Vorzeichen der Endzeit

1957

Diplomaten, die die Schule harter Zeiten und der rauen Sitten der Finanzwelt, der Wirtschaft und internationaler Rivalitäten durchschritten haben, geben nicht viel auf Vorzeichen. Dennoch war das Unternehmen jenes Tages so verheißungsvoll, dass die sechs Außenminister, die sich am 25. März 1957 in Rom trafen, das Gefühl überkam, alles, was sie umgab - die Unerschütterlichkeit der altehrwürdigen Hauptstadt Europas, die reinigenden Winde, der offene Himmel, das angenehm milde Wetter -, sei ein günstiger Fingerzeig des Schicksals, als sie den Grundstein für ein neues Gebäude der Nationen legten.

Als Partner beim Aufbau eines neuen Europa, das den zänkischen Nationalismus hinwegfegen sollte, der dieses uralte Dreieck so oft gespalten hatte, waren diese sechs Männer und ihre Regierungen eins in der Überzeugung, dass sie ihren Ländern einen weiteren ökonomischen Horizont und ein höheres politisches Ziel erschließen würden, als man je für möglich gehalten hatte. Sie waren im Begriff die Verträge von Rom zu unterzeichnen. Sie standen vor der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

In jüngster Vergangenheit war nichts als Tod und Zerstörung in ihren Hauptstädten gediehen. Noch vor einem Jahr hatten die Sowjets ihre expansionistische Entschlossenheit durch die blutige Niederschlagung des Aufstands in Ungarn unterstrichen; jeden Tag konnten die sowjetischen Panzer Europa überrollen. Niemand traute den USA oder deren Marshallplan zu für immer die Last des Aufbaus eines neuen Europa zu tragen. Außerdem konnte keiner europäischen Regierung daran gelegen sein, zwischen die Fronten einer amerikanisch-sowjetischen Rivalität zu geraten, die sich in den kommenden Jahren nur noch vertiefen konnte.

Als sei das Selbstverständlichste auf der Welt angesichts solcher Realitäten in einem Sinne zu handeln, unterzeichneten alle sechs Minister als Gründungsmitglieder der EWG: die drei Vertreter der Beneluxstaaten, weil Belgien, die Niederlande und Luxemburg die Idee eines neuen Europa einer Feuerprobe unterzogen und sie für vernünftig befunden hatten - oder zumindest als machbar; der Vertreter Frankreichs, weil sein Land das schlagende Herz des neuen Europa werden sollte, wie es stets das schlagende Herz des alten Europa gewesen war; der Vertreter Italiens, weil sein Land die lebende Seele Europas war; und der Vertreter Westdeutschlands, weil die Welt sein Land nie wieder ausgrenzen sollte.

So entstand die Europäische Gemeinschaft. Man brachte Trinksprüche auf die geopolitischen Visionäre aus, die dies möglich gemacht hatten: auf Robert Schuman und Jean Monnet aus Frankreich; auf Konrad Adenauer aus Westdeutschland; auf Paul-Henri Spaak aus Belgien. Und es wurde von allen Seiten gratuliert. Es sollte nicht lange dauern, bis auch Dänemark, Irland und England die Vorzüge des neuen Systems einsehen und, auch wenn es etwas geduldige Nachhilfe erfordern mochte, selbst Griechenland, Portugal und Spanien sich anschließen würden. Natürlich bestand immer noch das Problem die Sowjets im Zaum zu halten. Außerdem musste ein neuer Schwerpunkt gefunden werden. Aber an einem gab es keinen Zweifel: Die im Entstehen begriffene EWG war der Prüfstein des neuen Europa, das entstehen musste, wenn Europa überleben wollte.

Nach all dem Unterzeichnen, Besiegeln und Anstoßen war die Zeit reif für das typisch römische Ritual, das ein Privileg der Diplomaten ist: eine Audienz bei dem achtzigjährigen Papst in dessen Palast in der Vatikanstadt.

Auf seinem traditionellen Thron inmitten all des Pomps einer vatikanischen Zeremonie in einem reich geschmückten Saal empfing Seine Heiligkeit Pius XII. die sechs Minister und ihr Gefolge mit lächelndem Gesicht. Sein Willkommensgruß war aufrichtig, seine Bemerkungen knapp. Seine Haltung glich der eines langjährigen Besitzers und Bewohners eines riesigen Guts, der den neu eingetroffenen Mitbewohnern, die so viele Pläne für die Zukunft hatten, einige Ratschläge gab.

Europa, gemahnte sie der Heilige Vater, hatte seine großen Zeitalter erlebt, als ein gemeinsamer Glaube die Herzen seiner Menschen beseelte. Europa, drängte er, könne seine geopolitische Bedeutung zurückerlangen, in neuem Glanz erstrahlen, wenn in ihm ein neues Herz zu schlagen begänne. Europa, deutete er an, könne wieder einen überirdischen, gemeinsamen und verbindenden Glauben schmieden.

Innerlich zuckten die Minister zusammen. Pius hatte auf die größte Schwierigkeit aufmerksam gemacht, der sich die EWG am Tage ihrer Geburt gegenübersah. In seinen Worten schwang die Warnung mit, dass weder demokratischer Sozialismus noch kapitalistische Demokratie, noch die Aussicht auf ein gutes Leben oder ein mystisches »Europa« des Humanismus die Triebkraft zur Verwirklichung ihres Traumes liefern könnten. Praktisch ausgedrückt fehlte ihrem neuen Europa ein strahlender Mittelpunkt, ein höheres Prinzip, eine höhere Kraft, die es einte und vorantrieb. Praktisch ausgedrückt fehlte ihrem Europa etwas, was der Papst anzubieten vermochte. Ihm fehlte, was er verkörperte.

Als er seine Ausführungen beendet hatte, schlug der Heilige Vater zum traditionellen päpstlichen Segen drei Kreuze. Einige wenige knieten nieder um ihn zu empfangen. Andere, die stehen blieben, senkten die Köpfe. Aber es war ihnen unmöglich, den Papst mit der heilsamen Kraft zu assoziieren, die er als Statthalter Christi zu repräsentieren behauptete, oder diese Kraft als einzigen einigenden Faktor zu akzeptieren, der die Seele der Welt zu heilen vermochte; auch mochten sie nicht zugestehen, dass ökonomische und politische Verträge nicht die Bindemittel waren, die die Herzen und Seelen der Menschheit zusammenhielten.

Doch so zerbrechlich er auch war, so konnten sie diesen einzigartigen, über ihnen thronenden Würdenträger nur beneiden. Denn er, so bemerkte der Belgier Paul-Henri Spaak später, war das Haupt einer universellen Organisation. Und er war mehr als der gewählte Repräsentant dieser Organisation. Er war der Inhaber ihrer Macht. Er war ihr Zentrum, ihr Schwerpunkt.

 

Aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in der zweiten Etage des Papstpalastes sah der Heilige Vater zu, wie auf dem Platz unter ihm die Architekten des neuen Europa in ihre Limousinen stiegen.

»Was denken Sie, Euer Heiligkeit? Kann Ihr neues Europa stark genug werden um Moskau aufzuhalten?«

Pius wandte sich seinem Begleiter zu - einem deutschen Jesuiten seinem langjährigen Freund und bevorzugten Beichtvater. »Der Marxismus ist immer noch der Feind, Pater. Aber die Angelsachsen sind am Zug.« In der Diktion des Papstes war mit den Angelsachsen das angloamerikanische Establishment gemeint. »Ihr Europa wird weit kommen. Und es wird sich schnell entwickeln. Aber der größte Tag für Europa ist noch nicht angebrochen.«

Der Jesuit konnte der päpstlichen Vision nicht folgen. »Welches Europa, Euer Heiligkeit? Der größte Tag für wessen Europa?« »Für das Europa, das heute geboren wurde.« Der Papst antwortete ohne zu zögern. »An dem Tag, da dieser Heilige Stuhl vor das neue Europa der Diplomaten und Politiker gespannt wird - ein Europa, dessen Mittelpunkte Brüssel und Paris sind -, an jenem Tag wird die Kirche in ernste Schwierigkeiten geraten.« Dann wandte er sich wieder dem Fenster zu und sah die Limousinen über den Petersplatz davonfahren. »Das neue Europa wird seinen kleinen Feiertag haben, Pater. Aber nur einen Tag.«

 

 

1960

Kein vielversprechenderes Unternehmen hatte je auf der Kippe gestanden und kein wichtigeres vatikanisches Geschäft war je zwischen einem Papst und seinen Beratern getätigt worden als jener Punkt auf der Tagesordnung des Papstes an diesem Februarmorgen des Jahres 1960. Seit dem Tag seiner Wahl zum Papst vor knapp einem Jahr hatte Seine Heiligkeit Johannes XXIII. - »der gute Papst Johannes«, wie er bald genannt wurde - den Heiligen Stuhl, die päpstliche Regierung und den Großteil der äußeren diplomatischen und religiösen Welt auf eine neue Ebene gehoben. Nun schien er auch die Welt selbst erheben zu wollen.

Schon zum Zeitpunkt seiner Wahl war dieser rundlich-bäuerliche Mann nur als Übergangspapst vorgesehen gewesen; als ein gangbarer Kompromiss, dessen kurze Regentschaft ein wenig Zeit verschaffen mochte - vier oder fünf Jahre wurden veranschlagt - um einen geeigneten Nachfolger zu finden, der die Kirche durch den Kalten Krieg führen sollte. Aber schon wenige Monate nach seiner Inthronisierung und zum Erstaunen aller hatte er im Vatikan zu einem ökumenischen Konzil eingeladen. Fast jeder vatikanische Beamte - darunter alle Berater, die zu dieser vertraulichen Sitzung in den päpstlichen Gemächern in der dritten Etage des Papstpalastes geladen waren - hatte bereits alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen dieses Konzils.

Mit der ihm eigenen Direktheit weihte der Papst die Männer, die sich zu diesem Anlass versammelt hatten, in seine Gedanken ein - gut ein Dutzend seiner wichtigsten Kardinäle, dazu einige Bischöfe und Monsignori aus dem Staatssekretariat. Zwei versierte portugiesische Dolmetscher standen zur Verfügung. »Wir haben eine Entscheidung zu fällen«, vertraute Seine Heiligkeit seinen Beratern an. »Und wir ziehen es vor, sie nicht allein zu fällen.« Zu Debatte stehe, erklärte er, ein inzwischen weltberühmter Brief, den sein Vorgänger auf dem Stuhl Petri empfangen hatte. Die Geschichte dieses Briefes, bemerkte er ferner, sei inzwischen so gut bekannt, dass er sie an diesem Morgen nur grob umreißen wolle.

Fatima, einst ein eher unbekanntes Städtchen in Portugal, hatte im Jahre 1917 unvermittelt Berühmtheit erlangt als jener Ort, wo drei kleine Bauernkinder - zwei Jungen und ein Mädchen - Zeugen von sechs Besuchen oder Erscheinungen der Heiligen Jungfrau Maria geworden waren. Wie viele Millionen Katholiken wusste heute jeder der Anwesenden, dass die Jungfrau den Kindern von Fatima drei Geheimnisse anvertraut hatte. Jeder wusste, dass zwei der Kinder - wie ihre himmlische Besucherin prophezeit hatte - schon in jungen Jahren verstorben waren; nur Lucia, die Älteste, lebte noch. Jeder wusste, dass Lucia, die inzwischen in ein Kloster eingetreten war, schon vor langer Zeit die ersten beiden Geheimnisse von Fatima offenbart hatte. Aber es war Lucias Worten nach der Wunsch der Heiligen Jungfrau, dass »der Papst des Jahres 1960« jenes dritte Geheimnis öffentlich machte; und dass derselbe Papst zugleich »Russland« der Jungfrau Maria weihen sollte. Diese Weihe sollte von allen Bischöfen der Welt am selben Tag durchgeführt werden, von jedem in seiner eigenen Diözese, von jedem mit denselben Worten. Diese Weihe würde einer weltweiten öffentlichen Verurteilung der Sowjetunion gleichkommen.

Die Jungfrau hatte Lucia zufolge versprochen, dass »Russland« nach Vollzug dieser Weihe bekehrt wäre und keine Bedrohung mehr darstellen würde. Wenn ihr Wunsch vom »Papst des Jahres 1960« allerdings nicht erfüllt werden sollte, dann würde »Russland seine Verfehlungen über alle Nationen verbreiten«, Leid und Zerstörung die Folge sein und der Glaube der Kirche so weit verfallen, dass allein in Portugal »das Dogma des Glaubens« unangetastet bliebe.

»Was heute Morgen als Erstes zu tun ist« - mit diesen Worten zog der gute Papst Johannes einen Umschlag aus einer kleinen Schachtel, die neben ihm auf dem Tisch stand - »dürfte auf der Hand liegen.« Seine Berater wurden unruhig. Sie hatten sich hier also zu einer privaten Lesung des geheimen Briefes von Lucia versammelt. Es war keine Übertreibung zu behaupten, dass einige Dutzend Millionen Menschen überall auf der Welt darauf warteten, dass »der Papst des Jahres 1960« sein Wort hielt, den Inhalt des dritten Geheimnisses offenbarte, das bisher so ehern bewahrt worden war, und sich der Weisung der Jungfrau beugte. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf unterstrich Seine Heiligkeit sein genaues und wörtliches Verständnis der Vokabel »privat«. Als er gewiss sein konnte, dass seine Mahnung zur Verschwiegenheit auf offene Ohren gestoßen war, reichte der Heilige Vater den Brief aus Fatima den beiden portugiesischen Übersetzern; diese wiederum trugen den geheimen Text mündlich auf Italienisch vor.

»Nun.« Nach dem Vortrag stellte der Papst die Entscheidung zur Debatte, die er vorzog nicht allein zu fällen. »Wir müssen gestehen, dass wir seit dem August 1959 heikle Verhandlungen mit der Sowjetunion führen. Unser Ziel ist es, dass wenigstens zwei Prälaten der orthodoxen Kirche der UdSSR unserem Konzil beiwohnen.« Papst Johannes betonte immer wieder, dass er das bevorstehende Zweite Vatikanische Konzil als »unser Konzil« betrachtete.

Was also sollte er tun, fragte Seine Heiligkeit an diesem Morgen. Die Vorsehung hatte ihn zum »Papst des Jahres 1960« bestimmt. Doch wenn er sich dem fügte, was Schwester Lucia eindeutig als Weisung der Himmelskönigin beschrieben hatte - wenn er und seine Bischöfe öffentlich, offiziell und weltweit erklärten, dass »Russland« vielen verderblichen Irrtümern anhinge -, würde das seiner Initiative in Richtung Sowjetunion ein Ende setzen. Doch selbst abgesehen davon - abgesehen von seinem inbrünstigen Wunsch die orthodoxe Kirche im Konzil vertreten zu wissen -: Wenn der Pontifex die ganze Autorität seines Amtes und seiner Hierarchie dazu nutzen würde, die Weisung der Heiligen Jungfrau auszuführen, käme das einer Brandmarkung der Sowjetunion und ihres marxistischen Diktators Nikita Chruschtschow als Kriminellem gleich. Würden die Sowjets in ihrer Wut nicht Vergeltung üben? Wäre der Papst dann nicht für eine neue Welle von Verfolgungen - für den grausamen Tod von Millionen Menschen - überall in der Sowjetunion und ihren Satelliten- und Stellvertreterstaaten verantwortlich?

Um seine Sorge zu unterstreichen ließ Seine Heiligkeit einen Abschnitt des Briefes aus Fatima erneut vorlesen. Er sah in jedem Gesicht in der Runde Verständnis dämmern - und in einigen Erschrecken. Wenn jeder in diesem Raum diese Schlüsselpassage des dritten Geheimnisses so leicht verstanden hatte, fragte er, würden die Sowjets sie dann nicht ebenso schnell verstehen? Würden sie ihr nicht eine strategische Information entnehmen, die ihnen einen unschätzbaren Vorteil im Verhältnis zur freien Welt verschaffen würde?

»Wir können nach wie vor unser Konzil abhalten, aber ...« Seine Heiligkeit brauchte den Gedanken nicht auszusprechen. Alles lag nun klar auf der Hand. Die Veröffentlichung des Geheimnisses würde überall heftige Reaktionen hervorrufen. Freundlich gesinnte Regierungen wären zutiefst beunruhigt. Die Sowjets wären einerseits ausgegrenzt, andererseits strategisch begünstigt. Die Entscheidung, die der gute Papst zu fällen hatte, war von grundlegender geopolitischer Bedeutung.

Niemand bezweifelte den guten Willen der Schwester Lucia. Aber einige Berater wiesen darauf hin, dass nahezu zwanzig Jahre zwischen dem Tag im Jahre 1917, als sie die Worte der Heiligen Jungfrau vernommen, und dem Zeitpunkt Mitte der Dreißigerjahre verstrichen waren, als sie diesen Brief geschrieben hatte. Welche Garantie hatte der Heilige Vater, dass die Zeit nicht ihre Erinnerungen getrübt hatte? Und welche Garantie gab es, dass drei ungebildete Bauernkinder - von denen damals keines älter als elf Jahre gewesen war - eine so komplizierte Botschaft gewissenhaft übermittelt hatten?

Könnte hier nicht eine von mündlicher Überlieferung geprägte kindliche Fantasie am Werk sein? Könnte es nicht sogar noch etwas ganz anderes geben, das die Wahrheit entstellte? Truppen aus der Sowjetunion hatten in den spanischen Bürgerkrieg eingegriffen, der nur wenige Kilometer weiter tobte, als Lucia ihren Brief schrieb. Hatte Lucias eigene Furcht vor den Sowjets ihre Worte gefärbt?

In dem Konsens, der sich bildete, gab es nur eine skeptische Stimme. Ein Kardinal - ein deutscher Jesuit, bis vor kurzem noch Freund und bevorzugter Beichtvater des Papstes - konnte nicht schweigen angesichts einer solchen Herabwürdigung der Rolle des göttlichen Eingreifens. Es war eine Sache, wenn Minister weltlicher Regierungen die praktische Bedeutung des Glaubens preisgaben. Doch Derartiges konnte kaum von Kirchenleuten hingenommen werden, die den Heiligen Vater berieten.

»Die Entscheidung, die wir hier zu fällen haben«, argumentierte der Jesuit, »ist einfach und auf den ersten Blick ersichtlich. Entweder akzeptieren wir diesen Brief, beugen uns seinem Wortlaut und warten die Konsequenzen ab. Oder wir ziehen seinen Inhalt ernsthaft in Zweifel. Wir vergessen alles. Wir unterdrücken den Brief als historisches Relikt; wir machen weiter wie bisher und berauben uns aus freier Entscheidung eines besonderen Schutzes. Aber wofür wir uns auch entscheiden, niemand hier sollte einen Zweifel daran hegen, dass wir über das Schicksal der gesamten Menschheit sprechen.«

 

 

1963

Die Inthronisation des gefallenen Erzengels Luzifer fand am 29. Juni 1963 in der römisch-katholischen Zitadelle statt: ein passendes Datum für die Erfüllung eines historischen Versprechens. Wie jeder Anhänger dieses Zeremoniells wusste, hatte die Tradition des Satanismus schon lange prophezeit, dass die Zeit des Fürsten in dem Moment anbräche, da ein Papst den Namen des Apostels Paulus annähme. Diese Voraussetzung - das Signal für die hereinbrechende Zeit der Ernte - war acht Tage zuvor mit der Wahl des jüngsten Nachfolgers Petri erfüllt worden.

Seit Beendigung des päpstlichen Konklaves war kaum genug Zeit für die komplexen Vorbereitungen geblieben, die getroffen werden mussten; aber das höchste Gericht hatte beschlossen, dass es keinen günstigeren Zeitpunkt für die Inthronisation des Fürsten gebe als ebenjenen Feiertag der beiden Fürsten der Zitadelle, der Heiligen Petrus und Paulus. Und es konnte keinen passenderen Ort geben als die Kapelle des heiligen Paulus, die dem Papstpalast so nahe lag.

Die Schwierigkeiten bei den Vorbereitungen wurden vor allem von der Natur der bevorstehenden Zeremonie bestimmt.

Die Sicherheitsvorkehrungen in jenem vatikanischen Bezirk, in dem sich dieses Schmuckstück von einer Kapelle befand, waren so gründlich, dass der ganze Aufwand zur Durchführung des Zeremoniells hier unmöglich einer Entdeckung entgehen konnte. Wenn das Ziel erreicht werden sollte - wenn sich die Heraufkunft des Fürsten tatsächlich am Tag der Ernte ereignen sollte -, dann musste jede Station des Kreuzwegs in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das Heilige musste profanisiert, das Profane erhöht werden. Die unblutige Darstellung des Opfergangs des namenlosen Schwächlings am Kreuz musste durch eine erhabene und blutige Verletzung der Würde des Namenlosen ersetzt werden. Schuld musste zu Unschuld, Schmerz als Freude empfunden werden. Gnade, Reue, Vergebung mussten in einer Orgie der Gegensätze untergehen. Und all das musste ohne Fehler durchgeführt werden. Die Abfolge der Ereignisse, die Bedeutung der Worte, der Inhalt der Handlungen, alles musste sich zu einer perfekten Inszenierung des Sakrilegs, einem endgültigen Ritual der Niedertracht zusammenfügen.

Die ganze delikate Affäre wurde in die erfahrenen Hände des vertrauten Wächters des Fürsten in Rom gelegt. Als Meister des kunstvollen Zeremoniells der römischen Kirche war dieser granitgesichtige, scharfzüngige Prälat ebenso ein Meister der Zeremonie der Dunkelheit und des Feuers, die dem Fürsten galt. Das unmittelbare Ziel jeder Zeremonie, das wusste er, besteht darin, die »Gräuel der Trostlosigkeit« zu ehren. Aber ein weiteres Ziel musste nun darin bestehen, das Bollwerk des namenlosen Schwächlings zu erschüttern, die Zitadelle des Schwächlings zur Zeit der Ernte zu besetzen, die Heraufkunft des Fürsten in der Zitadelle gegen alle Widerstände durchzusetzen, den Hüter der Zitadelle zu verdrängen, alle Schlüssel in die Hand zu bekommen, die der Schwächling dem Hüter anvertraut hatte.

Der Wächter ging das Problem der Sicherheitsvorkehrungen frontal an. Solche unauffälligen Hilfsmittel wie das Pentagramm, die schwarzen Kerzen und die entsprechenden Dekorationen ließen sich problemlos als Teil des römischen Zeremoniells ausgeben. Für andere kultische Rubriken aber - die Knochenschale und die rituelle Kakophonie etwa, die Opfertiere und das eigentliche Opfer - galt das nicht mehr. Es musste also eine Parallelinthronisation stattfinden. Mit einer zeitgleich stattfindenden Parallelfeier vermochten die Brüder in einer dazu ermächtigten »zielenden« Kapelle dasselbe Resultat zu erzielen. Unter der Voraussetzung, dass alle Teilnehmer an beiden Schauplätzen auf jedes einzelne Element der Veranstaltung in der römischen Kapelle »zielten«, würde das Ereignis im »Ziel« den gewünschten Verlauf nehmen. Es wäre alles eine Frage des Gleichklangs der Herzen, der Einheit des Wollens und der perfekten Synchronisierung von Worten und Handlungen zwischen der »zielenden« Kapelle und dem »Ziel«. Der lebendige Wille und der tätige Verstand der Teilnehmer, konzentriert auf das eine Ziel des Fürsten, würde alle Entfernungen überwinden.

Einem so erfahrenen Mann wie dem Wächter fiel die Auswahl der »zielenden« Kapelle leicht; es bedürfte nur eines Telefonanrufs in den Vereinigten Staaten. Im Laufe der Jahre hatten die Anhänger des Fürsten in Rom einen solch makellosen Gleichklang der Herzen und eine ebenso nahtlose Einheit ihres Wollens mit einem Freund des Wächters entwickelt, mit Leo, dem Bischof der Kapelle in South Carolina.

Leo war nicht nur sein Name; es war eine Charakterisierung. Die silberweiße Mähne auf seinem großen Kopf erschien aller Welt wie eine zottige Löwenmähne. In den gut vierzig Jahren, seit Seine Exzellenz seine Kapelle aufgebaut hatte, hatten Anzahl und sozialer Rang der Anhänger, die er um sich versammelte, die unübertroffene Blasphemie seiner Zeremonien und seine häufige und bereitwillige Zusammenarbeit mit jenen, die seinen Standpunkt und sein letztendliches Ziel teilten, so beredtes Zeugnis von seinen überragenden Fähigkeiten abgelegt, dass sein Haus unter den Eingeweihten inzwischen weithin als die Mutterkapelle der Vereinigten Staaten galt.

Die Nachricht, dass seine Kapelle zur »zielenden« Kapelle eines so bedeutsamen Ereignisses wie der Inthronisation des Fürsten im Herzen der römischen Zitadelle erwählt worden war, stellte eine hohe Auszeichnung dar. Für Leo sprach außerdem, dass sein ausgeprägtes zeremonielles Wissen und seine Erfahrung viel Zeit sparten. Es war zum Beispiel nicht erforderlich, sein Wissen um die kontradiktorischen Prinzipien zu überprüfen, auf denen jede Anbetung des Erzengels fußte. Es bestand kein Zweifel an seinem Wunsch alles zu geben in jener letzten Schlacht - der Schlacht, die der römisch-katholischen Kirche als päpstlicher Institution, die sie seit ihrer Begründung durch den namenlosen Schwächling gewesen war, ein Ende setzen wollte. Niemand musste ihm erklären, dass das oberste Ziel nicht direkt darin bestand, die römisch-katholische Organisation zu liquidieren. Leo begriff, wie dumm und verschwenderisch das wäre. Weit vernünftiger wäre es, diese Organisation in etwas wirklich Nützliches umzuwandeln, sie der großartigen, weltweiten Ordnung alles Menschlichen anzugleichen und sie mit ihr zu verschmelzen. Sie an das breite Spektrum humaner - und nur humaner - Ziele zu binden.

Als gleichermaßen Geistesverwandte und Experten konnten der Wächter und der amerikanische Bischof ihre Vereinbarungen für die zweifache Zeremonie auf eine Namensliste und ein Inventar von Rubriken beschränken.

Die Namensliste des Wächters - die Teilnehmer in der römischen Kapelle - umfasste Männer von höchstem Ansehen. Hochrangige Kirchenleute und Laien, deren Meinung Gewicht hatte. Wahrhaftige Diener des Fürsten in der Zitadelle. Einige waren im Laufe der Jahrzehnte in der römischen Phalanx ausgesucht, hinzugewählt, ausgebildet und befördert worden, während andere eine neue Generation repräsentierten, die es als ihre Aufgabe betrachtete, die Pläne des Fürsten über die nächsten Jahrzehnte fortzuführen. Alle begriffen sie die Notwendigkeit unentdeckt zu bleiben; denn das Gesetz, die Regel besagt, dass »die Gewissheit für unser Morgen unsere Überzeugung ist heute nicht zu existieren«.

Leos Teilnehmerliste - Männer und Frauen, die in Wirtschaft, Regierung und sozialem Leben ihre Spuren hinterlassen hatten - war in jeder Hinsicht so beeindruckend, wie es der Wächter erwartet hatte. Aber erst das Opfer, sagte Seine Exzellenz - ein Kind -, sei ein wirklich angemessener Preis für die Vergewaltigung der Unschuld.

Die Liste der Kultgegenstände und Anweisungen, die für die Parallelzeremonie erforderlich waren, konzentrierte sich im Wesentlichen auf jene Elemente, die in Rom nicht benutzt werden konnten. In Leos »zielender« Kapelle mussten vier Phiolen vorhanden sein, die Erde, Luft, Feuer und Wasser enthielten. Abgehakt. In ihr müsste die Knochenschale stehen. Abgehakt. Die roten und die schwarzen Säulen. Abgehakt. Der Schild. Abgehakt. Die Tiere. Abgehakt. Die ganze Liste hinunter. Abgehakt. Abgehakt.

Das Problem die Zeremonien in den beiden Kapellen zu synchronisieren war Leo vertraut. Wie üblich wurden für die Anhänger in beiden Kapellen Bündel bedruckten Papiers vorbereitet, die man blasphemisch Missale nannte; und wie üblich war ihr Text in fehlerfreiem Latein abgefasst. Über eine telefonische Verbindung und einen zeremoniellen Boten sollten die Teilnehmer auf beiden Seiten jederzeit in die Lage versetzt werden ihre Aufgaben in perfekter Harmonie mit ihren kooperierenden Brüdern auszuführen.

Während des Ereignisses musste der Puls jedes einzelnen Teilnehmers perfekt auf Hass, nicht auf Liebe eingestimmt sein. Die freudige Hinnahme des Schmerzes und die Erfüllung mussten unter Leos Anleitung in dessen Kapelle bis zu Vollkommenheit getrieben werden. Die Ermächtigung die Anweisungen und das Zeugnis - die letzten und alles entscheidenden Elemente, die allein und einzig diesem Ereignis dienten - zu dirigieren, diese Ehre blieb dem Wächter im Vatikan persönlich vorbehalten.

Wenn jeder sich genau an das Gesetz hielt, würde der Fürst endlich seine alte Rache an dem Schwächling vollziehen, dem gnadenlosen Feind, der als der Gnadenreiche durch die Jahrhunderte gewandert war, dem die dunkelste aller Dunkelheiten nichts hatte verbergen können.

Alles Weitere konnte sich Leo vorstellen. Das Ereignis der Inthronisation würde eine perfekte Tarnung schaffen, undurchsichtig und samtweich, um den Fürsten innerhalb der offiziellen Kirchengemeinschaft der römischen Zitadelle zu verbergen. In Dunkelheit inthronisiert würde der Fürst ebendiese Dunkelheit verströmen können wie nie zuvor. Freund und Feind wären gleichermaßen betroffen. Die Düsternis seines Willens würde so fundamental sein, dass sie selbst den eigentlichen Zweck der Existenz der Zitadelle unterhöhlen würde: die immer währende Verehrung des Namenlosen. Mit der Zeit und schlussendlich würde die Ziege das Lamm verjagen und in den Besitz der Zitadelle gelangen. Der Fürst würde sich selbst in den Besitz eines Hauses bringen - des Hauses schlechthin -, das nicht seines war.

»Denk darüber nach, mein Freund.« Bischof Leo war beinahe außer sich vor Vorfreude. »Das Unvollendbare wird vollendet. Dies wird der Schlussstein meiner Karriere. Der krönende Abschluss des Jahrhunderts!« Leo war nicht weit von der Wahrheit entfernt.

 

Es war Nacht. Der Wächter und einige wenige Akolythen waren in der Paulskapelle, dem »Ziel«, mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Ein Halbkreis von Kniestühlen wurde dem Altar gegenüber aufgebaut. Auf dem Altar selbst wurden fünf Kerzenständer mit eleganten schwarzen Wachskerzen arrangiert. Ein silbernes Pentagramm wurde im Tabernakel platziert und mit einem blutroten Schleier bedeckt. Ein Thron, Symbol des regierenden Fürsten, wurde links vom Altar aufgestellt. Die Wände mit ihren schönen Fresken und Gemälden, die Szenen aus dem Leben Christi und der Apostel darstellten, wurden mit schwarzen Tüchern drapiert, passend verziert mit goldenen Symbolen aus der Geschichte des Fürsten.

Während die große Stunde näher rückte, trafen nach und nach die wahrhaftigen Diener des Fürsten in der Zitadelle ein, die römische Phalanx. Unter ihnen einige der herausragendsten Persönlichkeiten, die derzeit im Kollegium, der Hierarchie und der Bürokratie der römisch-katholischen Kirche zu finden waren. Unter ihnen auch weltliche Vertreter der Phalanx, die auf ihre Art nicht weniger bedeutend waren als die Angehörigen der Hierarchie.

Man nehme etwa diesen Preußen, der gerade durch die Tür schritt: ein Musterbeispiel für eine neue Laiengeneration, falls es je dergleichen geben sollte. Noch unter vierzig hatte er bereits einige Bedeutung in kritischen internationalen Angelegenheiten erlangt. Selbst das Licht der schwarzen Kerzen schien von seiner stahlgerahmten Brille und seinem kahlen Schädel wider, als wollte es ihn besonders herausheben. Als internationaler Gesandter und außerordentlicher Generalbevollmächtigter der Inthronisation auserwählt, trug der Preuße in einer Ledertasche die Briefe mit der Ermächtigung und den Anweisungen zum Altar, bevor er seinen Platz im Halbkreis einnahm.

Etwa dreißig Minuten vor Mitternacht waren alle Kniestühle mit der neuen Ernte fürstlicher Tradition besetzt, die über einen Zeitraum von gut achtzig Jahren in der alten Zitadelle gesät, gehegt und gepflegt worden war.

Obwohl zunächst nur von geringer Zahl, hatte sich die Gruppe im Schutze der Dunkelheit als Fremdkörper und als fremder Geist im Schoß ihres Wirts und Opfers festgesetzt. Sie durchdrang schließlich alle Dienste und Aktivitäten innerhalb der römischen Zitadelle, verbreitete ihre Symptome durch den Blutkreislauf der katholischen Kirche wie eine subkutane Infektion - Symptome wie Zynismus und Gleichgültigkeit, Gesetzesübertretungen und Machtmissbrauch in hohen Ämtern, Abweichung von der wahren Lehre, Missachtung des moralischen Urteils, Verwässerung der sakralen Vorschriften, die Trübung all der wesentlichen Erinnerungen und der Worte und Gesten, die von ihrer Anwesenheit zeugten.

Solcherart waren die Männer, die sich zur Inthronisation im Vatikan versammelt hatten; und solcherart war die Tradition, mit der sie die weltweite Administration, deren Mittelpunkt die Zitadelle bildete, infiltriert hatten. Missale in den Händen, den Blick auf Altar und Thron gerichtet, Wille und Gedanken in tiefer Konzentration warteten sie schweigend auf Mitternacht um zum Fest der Heiligen Petrus und Paulus den einzig wahren heiligen Tag Roms zu verkünden.

 

Die »zielende« Kapelle - ein großer Veranstaltungssaal im Erdgeschoss einer Pfarrschule - war streng den Regeln gemäß eingerichtet worden. Bischof Leo hatte sich um alles persönlich gekümmert. Nun, da seine handverlesenen Akolythen in schweigendem Eifer die letzten Einzelheiten richteten, überprüfte er noch einmal alles selbst.

Zunächst der Altar, aufgestellt am nördlichen Ende des Kapelle: flach auf dem Altar ein großes Kreuz, der Kopf des Körpers zeigte nach Norden.

Direkt daneben das rot verhüllte Pentagramm, flankiert von zwei schwarzen Kerzen. Darüber eine rote Sanktuariumslampe, in der die rituelle Flamme leuchtete. Am Ostende des Altars ein Käfig; und in dem Käfig Flinnie, ein sieben Wochen alter Welpe, leicht ruhig gestellt für den kurzen Augenblick, den er dem Fürsten nützlich sein würde. Hinter dem Altar ebenholzfarbene Kerzen, deren Dochte der Berührung durch die rituellen Flamme harrten.

Eine schnelle Drehung zur südlichen Wand: auf einem Kredenztisch das Weihrauchfass und das Gefäß mit Knochenkohle und Räucherwerk. Vor dem Kredenztisch die rote und die schwarze Säule, mit dem Schlangenschild und der Glocke der Unendlichkeit. Eine Drehung zur Ostwand: Vier Phiolen mit Erde, Luft, Feuer und Wasser umgeben einen zweiten Käfig. In dem Käfig eine Taube, blind für das ihr zugedachte Schicksal als Parodie nicht nur des namenlosen Schwächlings, sondern der ganzen Dreieinigkeit. Lesepult und Buch einsatzbereit an der Westwand. Der Halbkreis der Kniestühle nach Norden auf den Altar ausgerichtet. Zu Seiten der Kniestühle die Embleme des Eintritts: die Knochenschale an der Westseite nahe der Tür; nach Osten hin die Mondsichel und der fünfzackige Stern mit nach oben gerichteten Ziegenhörnern. Auf jedem Stuhl ein Exemplar des Missale, für jeden der Teilnehmer.

Schließlich blickte Leo direkt zum Eingang der Kapelle. Besondere Messgewänder, identisch mit denen, die er und seine fleißigen Akolythen bereits angelegt hatten, hingen an einem Ständer neben der Tür. Er verglich gerade seine Armband- mit der großen Wanduhr, als die ersten Teilnehmer eintrafen. Zufrieden mit den Vorbereitungen begab er sich in die große angrenzende Garderobe, die als Sakristei diente. Der Erzpriester und der Bruder Medico sollten inzwischen das Opfer vorbereitet haben. Kaum dreißig Minuten noch und sein zeremonieller Bote würde die telefonische Verbindung zum »Ziel«, der Paulskapelle im Vatikan, herstellen. Dann würde die große Stunde anbrechen.

 

So unterschiedliche Anforderungen sich an die äußerlichen Arrangements in den beiden Kapellen stellten, so unterschiedlich waren auch die Anforderungen an die Teilnehmer. Jene in der Paulskapelle, durchweg Männer, trugen Soutanen und Schärpen, sofern sie ein kirchliches Amt innehatten, oder tadellos sitzende schwarze Anzüge, soweit es sich um weltliche Würdenträger handelte. Konzentriert und ihres Zieles bewusst, ihre Blicke geschärft für den Altar und den leeren Thron, erschienen sie tatsächlich als die frommen römischen Kleriker und gläubigen Laien, für die man sie im Allgemeinen hielt.

Von ihrem Rang her der römischen Phalanx zwar ähnlich unterschieden sich die amerikanischen Teilnehmer in der »zielenden« Kapelle doch erheblich von ihren Gefährten im Vatikan. Männer und Frauen traten hier ein. Und statt sich wohl gekleidet hinzusetzen oder niederzuknien, legte jeder beim Eintreten seine Kleidung vollständig ab und streifte das nahtlose Gewand über, das für die Inthronisation vorgeschrieben war - blutrot zum Opfer passend; knielang und ärmellos; mit v-förmigem Halsausschnitt und vorn offen. Aus- und Ankleiden gingen lautlos vonstatten, ohne Eile oder Aufregung, voller Konzentration und ritueller Gelassenheit.

Nach dem Umkleiden gingen die Teilnehmer an der Knochenschale vorbei und langten hinein um eine kleine Hand voll aufzunehmen, bevor sie ihre Plätze im Halbkreis der Stühle gegenüber dem Altar einnahmen. Während die Knochenschale sich leerte und die Kniestühle sich füllten, begann die rituelle Kakophonie die Stille zu erschüttern. Zum unaufhörlichen Klappern der Knochen begannen alle Teilnehmer zu reden - mit sich selbst, mit anderen, mit dem Fürsten, mit niemandem. Ganz leise zu Anfang, doch in einer beunruhigenden rituellen Kadenz.

Weitere Teilnehmer trafen ein. Weitere Knochen wurden in die Hand genommen. Der Halbkreis vervollständigte sich. Die gemurmelte Kadenz, zuerst ein leises, misstönendes sussuro, schwoll an. Das unaufhörlich sich steigernde Kauderwelsch aus Gebeten, Bitten und Knochenrasseln entwickelte eine Art gebändigte Hitze. Das Geräusch gewann etwas Wütendes, nahezu Gewalttätiges, wurde zu einem kontrollierten Konzert des Chaos. Ein nervenzerfetzendes Konzert des Hasses und der Revolte. Ein konzentriertes Vorspiel zur Inthronisation des Fürsten dieser Welt in der Zitadelle des Schwächlings.

 

Sein blutrotes Gewand schwang elegant hin und her, als Leo in den Andachtsraum schritt. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, als sei alles perfekt vorbereitet. Sein Mitzelebrant, der fast kahle, Brille tragende Erzpriester, hatte zur Vorbereitung der Prozession bereits eine einzige schwarze Wachskerze entzündet. Er hatte einen großen goldenen Kelch mit rotem Wein gefüllt und mit einer versilberten und vergoldeten Patene bedeckt. Auf die Patene hatte er eine übergroße Scheibe weißes ungesäuertes Brot gelegt.

Ein dritter Mann, Bruder Medico, saß auf einer Bank. Gewandet wie die beiden anderen hielt er ein Kind auf dem Schoß. Seine Tochter Agnes. Leo nahm befriedigt zur Kenntnis, dass Agnes ruhig und für eine Veränderung offen zu sein schien. Diesmal schien sie wirklich für den Vorgang bereit zu sein. Sie trug ein weites weißes Gewand, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Und wie ihrem Welpen auf dem Altar war ihr eine leichte Dosis Beruhigungsmittel verabreicht worden um die Zeit durchzustehen, bis sie ihren Zweck für die Mysterien erfüllen sollte.

»Agnes«, flüsterte Bruder Medico dem Kind ins Ohr. »Bald wird's Zeit mit Vati zu gehen.«

»Ist nicht mein Vati...« Trotz der Drogen schlug das Mädchen die Augen auf und starrte ihren Vater an. Ihre Stimme klang schwach, doch hörbar. »Gott ist mein Vati ...«

»BLASPHEMIE!« Agnes' Worte ließen Leos zufriedene Stimmung umschlagen wie elektrische Energie, die sich in einem Blitzschlag entlädt. »Blasphemie!« Er feuerte das Wort wie eine Kugel ab. Sein Mund verwandelte sich förmlich in ein Gewehr, das ein Sperrfeuer von Vorwürfen auf Bruder Medico abschoss. Ob Arzt oder nicht, der Mann war ein Tölpel! Das Kind hätte angemessen vorbereitet sein sollen! Dafür hatte er reichlich Zeit gehabt!

Bruder Medico wurde aschfahl unter Bischof Leos Angriff. Nicht so seine Tochter. Sie mühte sich, ihre unvergesslichen Augen auf etwas anderes zu richten; versuchte Leos wildem, zornigem Blick zu begegnen; rang darum, das Wagnis zu wiederholen. »Gott ist mein Vati ...!«

Zitternd vor nervöser Erregung packte der Bruder Medico mit beiden Händen den Kopf seiner Tochter und zwang sie ihn wieder anzusehen. »Liebling«, redete er auf sie ein. »Ich bin dein Vati. Ich war immer dein Vati. Ja, und sogar deine Mami, seit sie fortgegangen ist.«

»Nicht mein Vati... Du lässt mir Flinnie wegnehmen ... Darfst Flinnie nicht wehtun ... Ist doch nur ein kleiner Welpe ... Gott hat die kleinen Welpen gemacht ...«

»Agnes. Hör mir zu. Ich bin dein Vati. Es wird Zeit...«

»Nicht mein Vati... Gott ist mein Vati... Gott ist meine Mami. Vatis machen keine Sachen, die Gott nicht gefallen ... Nicht mein ..,«

Weil er wusste, dass man im »Ziel« im Vatikan sicher schon darauf wartete, dass die zeremonielle Verbindung telefonisch hergestellt wurde, gab Leo dem Erzpriester mit einem strengen Nicken einen Befehl. Wie so oft in der Vergangenheit war das Notverfahren die einzige Rettung; und weil es erforderlich war, dass das Opfer während des ersten rituellen Vollzugs bei Bewusstsein war, musste es unbedingt jetzt geschehen.

Der Erzpriester nahm seine priesterlichen Pflichten wahr, setzte sich neben Bruder Medico und hob Agnes' von Drogen geschwächten Körper auf seinen Schoß. »Agnes. Hör mir zu. Ich bin auch dein Vati. Erinnerst du dich, wie gern wir uns gehabt haben? Weißt du noch?«

Agnes wehrte sich störrisch weiter. »Nicht mein Vati ... Vatis tun keine schlimmen Sachen mit mir ... tun mir nicht weh ... tun Jesus nicht weh ...«

 

Die große Stunde brach an. Der Beginn der Zeit der Ernte für die Heraufkunft des Fürsten in der Zitadelle. Als die Glocke der Unendlichkeit tönte, standen alle Teilnehmer in Leos Kapelle gemeinsam auf. Die Missale in den Händen, das unaufhörliche Klappern und Klacken der Knochen als schreckliche Begleitung, stimmten sie aus voller Kehle ihre Prozessionshymne an, eine triumphale Profanisierung der Hymne des Apostels Paul. »Mara Atha! Komme, oh Herr! Komme, oh Fürst! Komme! Oh erscheine ...«

Akolythen, die alles sorgfältig einstudiert hatten, schritten aus der Sakristei zum Altar voraus. Hinter ihnen trug Bruder Medico, dürr, doch von würdevoller Erscheinung selbst in seinem roten Gewand, das Opfer zum Altar und legte es hingestreckt neben das Kruzifix. Im flackernden Schatten des verhängten Pentagramms berührte ihr Haar fast den Käfig, in dem ihr kleiner Hund hockte. Als Nächster in der Rangfolge trug der Erzpriester, die Augen hinter den Brillengläsern blinzelnd, die einzige schwarze Kerze aus der Sakristei und nahm seinen Platz links vom Altar ein. Als Letzter trat Bischof Leo vor, Kelch und Hostie in den Händen, und stimmte in die Prozessionshymne ein. »So sei es!« Die letzten Worte des uralten Gesangs schallten über den Altar hinweg in die »ziehende« Kapelle hinein.

»So sei es! Amen! Amen!« Die uralten Worte schallten über den Altar hinweg in die Paulskapelle hinein. Ihr Herz und ihr Wille eins mit den »zielenden« Teilnehmern in Amerika stimmte die römische Phalanx den Refrain der Mysterien an, der für sie in ihren lateinischen Missalen niedergeschrieben stand, begannen mit der Hymne an die vergewaltigte Jungfrau und endeten mit der Anrufung der Dornenkrone.

In der »zielenden« Kapelle nahm Bischof Leo den Opferbeutel, den er um den Hals trug, und legte ihn ehrfurchtsvoll zwischen das Kopfende des Kruzifixes und das Fußende des Pentagramms. Dann legten Akolythen zum wieder aufgenommenen murmelnden und summenden Chor der Teilnehmer und dem Klappern der Knochen drei rechteckige Stücke Räucherwerk auf die glühende Holzkohle im Thuribulum. Fast im selben Augenblick trieben blaue Rauchfahnen durch den Saal und ihr beißender Geruch umschloss Opfer, Zelebranten und Teilnehmer gleichermaßen.

 

Auch ohne dass man ihm ein Zeichen gab, ließ der zeremonielle Bote, der seine Rolle gut einstudiert hatte, sein Gegenüber im Vatikan wissen, dass die Anrufungen gleich beginnen würden. Eine plötzliche Stille erfasste die amerikanische Kapelle. Bischof Leo hob mit ernster Miene das Kruzifix neben Agnes' Körper hoch, lehnte es verkehrt herum an die Vorderseite des Altars und hob, indem er sich der Versammlung zuwandte, zu einer ins Gegenteil verkehrten Segnung die linke Hand: der Handrücken den Teilnehmern zugewandt; der Daumen und die beiden mittleren Finger in die Handfläche gedrückt; Zeige- und kleiner Finger als Symbol der Ziegenhörner nach oben gerichtet. »Lasst uns anrufen!«

Umgeben von Dunkelheit und Feuer intonierte in beiden Kapellen der jeweilige Hauptzelebrant eine Reihe von Anrufungen des Fürsten. Die Teilnehmer in beiden Kapellen sangen die Antwort. Jeder Antwort folgte in der »zielenden« Kapelle in Amerika, eine »geziemende« Handlung - eine dem Ritual folgende Darstellung des Geistes und der Bedeutung der Worte. Für den vollkommenen Einklang der Worte und der Willenskräfte in beiden Kapellen war der zeremonielle Bote verantwortlich, der die telefonische Verbindung betreute. Aus diesem vollkommenen Einklang sollte ein geeignetes Gewebe menschlicher Wünsche und Vorstellungen geknüpft werden, welches das Drama der Inthronisation des Fürsten umgab.

»Ich glaube an die eine Macht«, sang Bischof Leo voll innerer Überzeugung.

»Und ihr Name ist Kosmos«, sangen die Teilnehmer in beiden Kapellen die ins Gegenteil verkehrte Antwort aus den lateinischen Missalen. In der »zielenden« Kapelle folgten die »geziemenden« Handlungen. Zwei Akolythen schwenkten Weihrauch über den Altar. Zwei weitere holten die Phiolen mit Erde, Luft, Feuer und Wasser, legten sie auf den Altar, verbeugten sich vor dem Bischof und kehrten an ihre Plätze zurück.

»Ich glaube an den eingeborenen Sohn der kosmischen Dämmerung«, sang Leo.

»Und Sein Name ist Luzifer.« Die zweite uralte Antwort. Leos Akolythen entzündeten die Pentagrammkerzen und schwenkten Weihrauch über das Pentagramm.

Die dritte Anrufung: »Ich glaube an den geheimnisvollen Einen.«

Die dritte Antwort: »Und er ist die Giftschlange im Apfel des Lebens.« Unter dem unaufhörlichen Klappern der Knochen traten Diener an die rote Säule, drehten den Schlangenschild um und enthüllten so die Seite mit dem Baum des Wissens.

Der Wächter in Rom und der Bischof in Amerika intonierten die vierte Anrufung: »Ich glaube an den alten Leviathan.«

Zu beiden Seiten des Atlantiks, auf beiden Kontinenten tönte unisono die vierte Antwort: »Und sein Name ist Hass.« Die rote Säule und der Baum des Wissens wurden in Weihrauch gehüllt. Die fünfte Anrufung: »Ich glaube an den alten Fuchs.«

Die fünfte energische Antwort: »Und sein Name ist Lüge.« Die schwarze Säule wurde als Symbol alles Hinfälligen und Widerwärtigen in Weihrauch gehüllt.

Im flackernden, von den Wachskerzen geworfenen Licht und im blauen Rauch, der sich um ihn kräuselte, richtete Leo den Blick auf Flinnies Käfig, der neben Agnes auf dem Altar stand. Der Welpe wurde nun reger, richtete sich auf, als habe ihn der Singsang, das Klicken und Klacken geweckt. »Ich glaube an die alte Krabbe«, las Leo die sechste lateinische Anrufung.

»Und ihr Name ist lebendiger Schmerz«, kam der eindringliche Singsang der sechsten Antwort, unterstrichen vom Klicken und Klacken der Knochen. Alle Blicke richteten sich auf einen Akolythen, der an den Altar trat, in den Käfig griff, wo der Welpe in freudiger Erwartung mit dem Schwanz wedelte, und das unselige Tier mit einer Hand niederhielt, während er mit der anderen eine perfekte Vivisektion ausführte, indem er dem schreienden Tier zunächst die Fortpflanzungsorgane amputierte. Der Diener ging dabei so geschickt vor, dass sich die Qual des Welpen, wie auch der rasende Jubel der Teilnehmer über das Ritual des Schmerzes, lange hinzog.

 

Auf jede Einzelheit bedacht sah Bischof Leo auf das Opfer hinab. Selbst in ihrem nahezu bewusstlosen Zustand sträubte sie sich. Immer noch war Widerstand in ihr. Immer noch empfand sie Schmerz. Immer noch ließ ihr unbeugsamer Starrsinn sie beten. Leo war zufrieden. Welch ein perfektes kleines Opfer. Wie es dem Fürsten schmeicheln würde. Gnadenlos und ohne innezuhalten führten Leo und der Wächter ihre Versammlungen durch die übrigen der vierzehn Anrufungen, während die »geziemenden« Handlungen, die ihnen folgten, sich zu einem wilden Theater der Perversion steigerten.

Schließlich beendete Bischof Leo den ersten Teil der Zeremonie mit der großen Anrufung: »Ich glaube, dass der Fürst dieser Welt heute Nacht in der alten Zitadelle inthronisiert und von dort eine neue Gemeinschaft gründen wird.«

Die Antwort wurde in einem selbst für diese gespenstische Szenerie eindrucksvollen Gestus vorgetragen. »Und ihr Name wird >Die eine universelle Kirche des Menschen< sein.«

Es wurde für Leo Zeit, Agnes vom Altar in die Arme zu nehmen. Es wurde Zeit für den Erzpriester, den Kelch in die rechte und die große Hostie in die linke Hand zu nehmen. Es wurde Zeit für Leo, das Opfergebet vorzusprechen und nach jeder rituellen Frage darauf zu warten, dass die Teilnehmer die Antwort aus ihren Missalen lasen.

»Wie lautete des Opfers Name, als es zum ersten Mal geboren wurde?« »Agnes!«

»Wie lautete des Opfers Name, als es zum zweiten Mal geboren wurde?«

»Agnes Susannah!«

»Wie lautete des Opfers Name, als es zum dritten Mal geboren wurde?«

»Rahab Jericho!«

Leo legte Agnes wieder auf den Altar und stach in den Zeigefinger ihrer linken Hand, bis Blut aus der kleinen Wunde trat.

Von Kälte durchdrungen, Übelkeit in den Eingeweiden, spürte Agnes, wie sie vom Altar gehoben wurde, doch sie war nicht mehr imstande den Blick auf etwas zu richten. Sie zuckte unter dem scharfen Stich in ihrer linken Hand zusammen. Sie fing einzelne Worte auf, in denen etwas Bedrohliches mitschwang, das sie nicht benennen konnte. »Opfer... Agnes ... zum dritten Mal... Rahab Jericho ...«

Leo tauchte seinen linken Zeigefinger in Agnes' Blut und indem er ihn hochhob, damit die Teilnehmer ihn sehen konnten, stimmte er die Opfergesänge an.

 

»Dies, unser Opfer Blut, ward vergossen * Um unseren Dienst am Fürsten zu vollenden * Auf dass er souverän in Jakobs Hause herrsche * Im neuen Land der Auserwählten.«

 

Nun war der Erzpriester an der Reihe. Kelch und Hostie noch immer hoch erhoben, sprach er die rituelle Opfererwiderung.

 

»Ich nehme dich mit mir, hochreines Opfer * Ich bringe dich zum unheiligen Norden * Ich bringe dich auf den Gipfel des Fürsten.«

 

Der Erzpriester legte die Hostie auf Agnes' Brust und hielt den Kelch voller Wein über ihren Unterleib.

Am Altar nun von seinem Erzpriester und dem Akolythen Medico flankiert, warf Bischof Leo dem zeremoniellen Boten einen Blick zu. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der steinern blickende Wächter und seine römische Phalanx in völliger Übereinstimmung mit ihm handelten, intonierten er und seine Teilnehmer das Bittgebet.

 

»Wir bitten Dich, Herr Luzifer, Fürst der Dunkelheit * Kornkammer all unserer Opfer * Unsere Gabe anzunehmen * Bis zur Übernahme der vielen Sünden.«

 

Und in vollkommenem Einklang, der von langer Übung herrührt, sprachen Bischof und Erzpriester die heiligsten Worte der lateinischen Messe. Beim Erheben der Hostie: »HOC EST ENIM CORPUS MEUM.« Beim Erheben des Kelches: »HIC EST ENIM CALIX SANGUINIS MEI, NOVI ET AETERNI TESTAMENTE MYSTERIUM FIDEI QUI PRO VOBIS ET PRO MULTIS EFFUNDETUR IN REMISSIONEM PECCATORUM. HAEC QUOTIESCUMQUE FECERITIS IN MEI MEMORIAM FACIETIS.« Augenblicklich reagierten die Teilnehmer mit einem neuen Schwall ritueller Kakophonie, einer Sintflut der Verwirrung, einem Babel aus Worten und rasselnden Knochen, begleitet von lüsternen Ausbrüchen aller Art, während der Bischof ein winziges Bruchstück der Hostie aß und einen Schluck aus dem Kelch nippte.

Auf Leos Zeichen hin - wiederum einer ins Gegenteil verkehrten Segnung - ging die rituelle Kakophonie in ein etwas geordneteres Chaos über, als die Teilnehmer sich gehorsam in lockeren Reihen aufstellten. Als sie am Altar vorbeigingen um die Kommunion zu empfangen - einen Bissen der Hostie, einen Schluck aus dem Kelch -, hatten sie auch die Gelegenheit Agnes zu bewundern. Dann kehrten sie eilig, um nichts von der rituellen Züchtigung des Opfers zu versäumen, zu ihren Kniestühlen zurück und sahen erwartungsvoll zu, wie der Bischof seine ganze Aufmerksamkeit auf das Kind richtete.

Agnes schrie vor Entsetzen, aber niemand kam dem Kind zu Hilfe, als sich das Gewicht des Bischofs auf sie legte.

 

Leo stand wieder am Altar, sein schweißnasses Gesicht gerötet von neuer Vorfreude auf diesen einen Augenblick höchsten persönlichen Triumphes. Ein knappes Nicken zum zeremoniellen Boten am Telefon. Ein kurzes Warten. Eine Antwort in Form eines Nickens. Rom war bereit.

»Durch die Macht, die mir als paralleler Zelebrant des Opfers und paralleler Vollzieher der Inthronisation verliehen wurde, führe ich alle hier und in Rom zur Beschwörung Deiner, Fürst aller Geschöpfe! Im Namen aller in dieser Kapelle Versammelten und aller Brüder in der römischen Kapelle beschwöre ich Dich, oh Fürst!«

Das zweite Gebet wurde vom Erzpriester vorgesprochen. Seine Rezitation, der Höhepunkt all dessen, worauf er gewartet hatte, war pure beherrschte Emotion:

 

»Nimm Deines Feindes Haus in Besitz * Tritt ein, wo Dir der Boden bereitet * Steige zu Deinen gläubigen Dienern herab * Die Dir Dein Bett gerichtet * Die Dir Deinen Altar errichtet und ihn mit Schande gesegnet.«

 

Es entsprach dem geregelten Ablauf, dass Bischof Leo das letzte Gebet in der »zielenden« Kapelle sprach:

 

»Gemäß den hochheiligen Weisungen vom Berge * Im Namen aller Brüder * Bete ich Dich an, Fürst der Dunkelheit * Mit der Stola alles Unheiligen * Lege ich nun in Deine Hände * Die dreifache Krone des Petrus * Auf Luzifers gnadenloses Geheiß * Auf dass Du hier herrschen mögest * Auf dass es die eine Kirche gebe * Die eine Kirche von Küste zu Küste * Die eine große und mächtige Gemeinde Aus Mann und Frau * Aus Tier und Pflanze * Auf dass unser Kosmos wieder * Einig, frei und ungefesselt sei.«

 

Auf Leos letztes Wort und eine Geste hin nahmen alle Anwesenden in seiner Kapelle Platz. Das Ritual ging an das »Ziel« in Rom über.

 

Die Inthronisation des Fürsten in der Zitadelle des Schwächlings war nun nahezu abgeschlossen. Nur die Ermächtigung, die Anweisungen und das Zeugnis standen noch aus. Der Wächter blickte vom Altar auf und richtete einen freudlosen Blick auf den preußenhaften internationalen Gesandten, dessen Ledertasche die Briefe mit der Ermächtigung und den Anweisungen enthielt. Alle sahen zu, wie er seinen Platz verließ und zum Altar schritt, der Tasche die Papiere entnahm und mit einem starken Akzent die Ermächtigung vorlas:

»Im Auftrag der Versammlung und der hochheiligen Älteren erkläre, ermächtige und weihe ich diese Kapelle fortan zur inneren Kapelle, beansprucht, angeeignet und in Besitz genommen von Ihm, den wir als Herrn und Meister unseres menschlichen Schicksals inthronisiert haben.

Wer immer mithilfe dieser inneren Kapelle zum letzten Nachfolger des Amtes Petri erwählt und bestimmt wird, soll gemäß seinem Amtseid sich und alles, was er tut, zum willigen Instrument und Verschworenen des Einen weihen, der dem Menschen auf Erden und überall im menschlichen Kosmos ein Heim errichten wird. Er soll die alte Feindschaft in Freundschaft, Toleranz und Anpassung verwandeln, die ein Muster abgeben werden für Geburt, Erziehung, Arbeit, Finanzwesen, Handel, Industrie, Bildung, Kultur, Leben und Zeugung von Leben, Sterben und Umgang mit dem Tod. So wird die neue Epoche der Menschheit gestaltet.«

»So sei es!«

Der Wächter sprach der römischen Phalanx die rituelle Erwiderung vor. »So sei es!«

Auf ein Zeichen des zeremoniellen Boten sprach Bischof Leo den Teilnehmern in seiner Kapelle ihre Bekräftigung vor.

Der nächste Schritt des Rituals, die Anweisungen, stellte eigentlich einen beschworenen Treuebruch dar, mit dem jeder der in der Paulskapelle anwesenden Kleriker - Kardinäle, Bischöfe und Monsignores gleichermaßen - seinen Willen und seine Entschlossenheit bekundete das Sakrament der Weihe zu schänden, das ihm einst die Gnade und die Macht verliehen hatte andere zu weihen.

Der internationale Gesandte hob die linke Hand zum Zeichen. »Schwört ihr alle hier«, las er den Eid vor, »nachdem ihr die Ermächtigung gehört habt, feierlich, ohne Vorbehalte und Einwände, ihr willig, eindeutig und unverzüglich Folge zu leisten?«

»Wir schwören!«

»Schwört jeder Einzelne von euch feierlich, dass ihr in Ausübung eures Amtes ausschließlich den Zielen der einen Kirche des Menschen dienen werdet?«

»Wir schwören es feierlich!«

»Ist jeder Einzelne von euch bereit diesen einmütigen Willen mit eurem eigenen Blut zu besiegeln, auf dass Luzifer euch strafen möge, wenn ihr seinem Gefolgschaftsschwur untreu werdet?«

»Wir sind willens und bereit.«

»Ist jeder Einzelne von euch uneingeschränkt damit einverstanden, dass durch diesen Eid Herrschaft über und Anspruch auf eure Seelen von dem alten Feind, dem großen Schwächling in die allmächtigen Hände eures Herrn Luzifer übergehen?«

»Wir sind einverstanden.«

Die Zeit für den letzten Abschnitt des Rituals war gekommen. Für das Zeugnis.

Die beiden Dokumente vor sich auf dem Altar streckte der Delegierte seine linke Hand dem Wächter entgegen. Mit einer goldenen Nadel stach der Römer mit dem steinernen Gesicht dem Gesandten in die linke Daumenkuppe und presste einen blutigen Fingerabdruck neben den Namen des Gesandten auf den Text der Ermächtigung.

Die vatikanischen Teilnehmer taten es ihm unverzüglich gleich. Als alle Mitglieder der Phalanx dieser letzten Anforderung des Rituals entsprochen hatten, wurde in der Paulskapelle eine kleine silberne Glocke angeschlagen.

In der amerikanischen Kapelle tönte die Glocke der Unendlichkeit dreimal mit zartem, melodischem Klang eine leise Bekräftigung. Ding! Dong! Ding! Eine ganz bezaubernde Note, dachte Leo, als beide Versammlungen den Schlussgesang anstimmten:

 

»Ding! Dong! Deng! * So werden die alten Stätten herrschen ! * So werden Kreuz und Felsen scheitern * Für immer! * Ding! Dong! Deng!«

 

Die Anwesenden verließen ihrer Rangfolge entsprechend die Kapelle. Erst die Akolythen. Dann der Bruder Medico mit Agnes' schlaffer und erschreckend blasser Gestalt in den Armen. Schließlich sangen nur noch der Erzpriester und Bischof Leo, als sie auf demselben Wege, auf dem sie gekommen waren, in die Sakristei zurückgingen.

 

In den frühen Morgenstunden des Festtags der Heiligen Petrus und Paulus traten die Angehörigen der römischen Phalanx auf den Damasushof hinaus. Einige der Kardinäle und eine Hand voll Bischöfe nahmen die respektvollen Grüße der Wachen zur Kenntnis, indem sie mit abwesendem Blick das Kreuz schlugen, als sie in ihre Limousinen stiegen. Binnen Sekunden erstrahlten die Mauern der Paulskapelle, wie sie es immer getan hatten, mit ihren schönen Gemälden und Fresken Christi und des Apostels Paulus, dessen Name der jüngste Nachfolger Petri angenommen hatte.

 

 

1978

Für den Papst, der den Namen des Apostels angenommen hatte, war der Sommer des Jahres 1978 sein letzter auf Erden. Gleichermaßen ausgezehrt von den Turbulenzen seiner fünfzehnjährigen Amtszeit und den Schmerzen und dem körperlichen Verfall einer langen Krankheit wurde er am 6. August von seinem Gott aus dem höchsten Amt der römisch-katholischen Kirche abberufen.

Es gab Männer, die für ein neues Konzept des Papsttums und der römisch-katholischen Kirche eintraten. Ihrer Meinung nach sollten Papst und Kirche nicht mehr abseits stehen und bestenfalls das Menschengeschlecht in den Schoß des Katholizismus bitten. Es wurde Zeit, dass sich Papsttum und Kirche als Institution den Bemühungen der Menschheit anschlossen eine bessere Welt für alle zu schaffen. Das Papsttum sollte sein Vertrauen in dogmatische Autorität aufgeben und von seinem Beharren auf einen absoluten und ausschließlichen Wahrheitsanspruch abrücken.

Natürlich wurden solche Pläne nicht innerhalb des isolierten Vakuums vatikanischer Innenpolitik ausgebreitet. Der Kardinalstaatssekretär stand diesen Ideen jedoch mehr als nur ansatzweise nahe. Er und seine gleich gesinnten vatikanischen Bundesgenossen hatten mit ihren weltlichen Förderern einen Pakt geschlossen. Gemeinsam hatten sie sich darauf eingeschworen, jeweils ihren Teil zu der gewünschten und grundlegenden Umwandlung von Kirche und Papsttum beizutragen. Als der Papst starb, waren sie sich darin einig, dass dieses Konklave genau zum richtigen Zeitpunkt stattfand um einen aufgeschlossenen Nachfolger auf den Stuhl Petri zu wählen. Da Kardinal Vincennes den Vorsitz führte, zweifelte niemand daran, dass der richtige Mann als Sieger - und damit als Papst - aus dem Konklave im August 1978 hervorgehen würde.

Angesichts dessen, was von seinem Erfolg abhing, war es nicht verwunderlich, dass Seine Eminenz alles andere beiseite geschoben hatte, darunter auch die persönlichen Unterlagen des alten Papstes. Der dicke Umschlag mit den päpstlichen Siegeln lag nun unbeachtet in einem geheimen Schubfach im Schreibtisch des Kardinals.

Aber der Kardinal hatte sich schwer verrechnet. Einmal hinter Schloss und Riegel, wie es für die Dauer eines Konklaves üblich ist, hatten die wahlberechtigten Kardinäle einen völlig ungeeigneten Mann zum Papst bestimmt. Einen Mann, der nicht im Mindesten mit den Plänen zu vereinbaren war, die der Kämmerer des Heiligen Stuhles und seine Verbündeten geschmiedet hatten. Wenige Menschen im Vatikan würden je den Tag vergessen, an dem der neue Papst gewählt wurde. Vincennes war buchstäblich aus dem Konklave gestürmt, als die schweren Türen wieder aufgeschlossen wurden. Statt wie üblich von einem »gesegneten Konklave« zu sprechen, stapfte er wie die Fleisch gewordene Vergeltung in seine Unterkunft.

Wie schwer die Fehlentscheidung seines Konklaves wog, ging Staatssekretär Kardinal Vincennes während der ersten Amtswochen des neuen Papstes auf. Es waren Wochen anhaltender Frustration für ihn gewesen. Wochen andauernder Streitigkeiten mit dem neuen Papst und hitziger Diskussionen mit seinen eigenen Kollegen. Die Sichtung der päpstlichen Dokumente hatte er über das Gefühl drohender Gefahr, das seine Tage erfüllte, völlig vergessen. Er hatte keine Möglichkeiten seinen Bundesgenossen zu prognostizieren, wie der neue Inhaber des Stuhles Petri agieren und reagieren würde. Seine Eminenz hatte die Fäden nicht mehr in der Hand.

Unsicherheit und Furcht hatten einen Höhepunkt erreicht, als das vollkommen Unerwartete eintrat. Dreiunddreißig Tage nach seiner Wahl starb der neue Papst und die Atmosphäre in Rom und Umgebung war voller hässlicher Gerüchte.

Als die Papiere des gerade gestorbenen Papstes in einem zweiten versiegelten Umschlag gesammelt wurden, hatte der Kardinal keine andere Wahl als sie zu dem ersten auf seinen Schreibtisch zu legen. Während er das zweite Konklave vorbereitete, das im Oktober stattfinden sollte, galten seine ganzen Bemühungen dem Ziel den Fehler vom August zu korrigieren. Seine Eminenz hatte einen Aufschub gewährt bekommen. Er zweifelte nicht, dass sein Leben davon abhing, ob er das Beste daraus machte. Diesmal musste er dafür sorgen, dass ein entsprechend nachgiebiger Papst gewählt wurde.

Dennoch widerfuhr ihm das Undenkbare. Trotz seiner enormen Anstrengungen ging das Oktoberkonklave ebenso katastrophal für ihn aus wie jenes im August. Hartnäckig hatten die Wahlberechtigten darauf bestanden, einen Mann zu wählen, der nicht im Entferntesten als entgegenkommend bezeichnet werden konnte. Hätten es die Umstände erlaubt, dann hätte Seine Eminenz sicher lange darüber nachgegrübelt, was zwischen den beiden Wahlen schief gegangen war. Doch die Zeit blieb ihm nicht.

Nachdem binnen weniger Monate nun schon der dritte Papst auf dem Stuhle Petri saß, war die Sichtung der Papiere in den beiden Umschlägen, jeder mit dem päpstlichen Siegel versehen, schließlich ganz besonders dringlich geworden. Trotz des Drucks, unter dem er stand, wollte Seine Eminenz diese beiden Pakete nicht ohne sorgfältige Prüfung aus seinen Händen geben.

 

Die Sichtung fand an einem Oktobertag an einem ovalen Konferenztisch im geräumigen Büro von Staatssekretär Kardinal Vincennes statt.

Wie es der Brauch verlangte, hatte der Kardinal zwei Männer is Zeugen und Gehilfen eingeladen. Der erste, Erzbischof Silvio Aureatini - ein verhältnismäßig junger Mann von einigem Ansehen und beträchtlichem Ehrgeiz - war ein aufmerksamer jsforditaliener mit schneller Auffassungsgabe. Der zweite, Pater Aldo Carnesecca, war ein einfacher und unbedeutender Priester, der vier päpstliche Amtszeiten miterlebt und bereits zweimal bei einer Sichtung päpstlicher Papiere assistiert hatte. Pater Carnesecca galt bei seinen Vorgesetzten als »vertrauenswürdiger Mann«.

Männer wie Aldo Carnesecca mögen mit großen Ambitionen in den Vatikan kommen, doch ohne jegliche Lust an parteigängerischer Eifersucht und Hass - sich ihrer eigenen Sterblichkeit zu bewusst um über Leichen die Karriereleiter emporzusteigen, doch zu dankbar um die Hand zu beißen, die sie anfangs fütterte - halten sie an ihrem grundlegenden, lebenslangen Ehrgeiz fest, der sie hergeführt hat: dem tiefen Wunsch ein Römer zu sein.

Anfangs ging die Sichtung reibungslos vonstatten. Nach einem Pontifikat von fünfzehn Jahren war nichts anderes zu erwarten, als dass der erste Umschlag, der die Unterlagen des alten Papstes enthielt, prall gefüllt war. Aber es stellte sich heraus, dass er Kopien von Memoranden zwischen dem Pontifex und Seiner Eminenz enthielt, die dem Kardinal bereits vertraut waren. Vincennes behielt nicht alle Gedanken für sich, während er seinen beiden Gehilfen Seite um Seite zuwarf.

Schließlich blieben nur noch fünf Dokumente des alten Papstes zur Durchsicht übrig, bevor sie sich der Sichtung der zweiten Pontifikatspapiere zuwenden konnten. Jedes davon war in einem eigenen Umschlag versiegelt und mit dem Vermerk »Personalissimo e Confidenzialissimo« versehen. Von diesen Umschlägen hatten die vier für die direkten Verwandten des alten Papstes vorgesehenen keine weitere Bedeutung, abgesehen davon, dass es dem Kardinal wenig gefiel, sie nicht lesen zu dürfen. Der letzte der fünf Umschläge trug eine weitere Aufschrift: »Für Unseren Nachfolger auf dem Stuhl Petri«. Diese Worte, in der unverkennbaren Handschrift des alten Papstes geschrieben, rückten den Inhalt dieses Dokuments in die Kategorie jener Papiere, die ausschließlich für die Augen des neu gewählten jungen polnischen Papstes bestimmt waren.

Was jedoch augenblicklich die Aufmerksamkeit Seiner Eminenz fesselte, war der undenkbare, doch unübersehbare Umstand, dass jemand das ursprüngliche päpstliche Siegel erbrochen hatte. Der Umschlag war tatsächlich an der Oberkante aufgeschlitzt und geöffnet worden. Also hatte offensichtlich jemand seinen Inhalt gelesen. Ebenso offensichtlich war der Riss mit einem Stück Gewebeband geflickt worden. Ein neues päpstliches Siegel und eine neue Unterschrift waren vom Nachfolger des alten Papstes hinzugefügt worden; von jenem Papst, der so plötzlich gestorben war und dessen eigene Papiere immer noch der Sichtung harrten.

Aber da war noch etwas. Eine zweite Beschriftung in der weniger vertrauten Handschrift des zweiten Papstes: »Betreffend den Zustand der Heiligen Mutter Kirche nach dem 29. Juni 1963.«

In seiner Verblüffung betastete der Kardinal den Umschlag, als könne seine Dicke ihm Aufschluss über seinen Inhalt geben oder als könne er ihm das Geheimnis zuflüstern, wie er von seinem Schreibtisch verschwunden und wieder dorthin gelangt war. Indem er Pater Carnesecca ignorierte - was ihm nicht schwer fiel -, schob er Aureatini über den Tisch den Umschlag zu.

»Aber Eminenz ...« Aureatini fand als Erster seine Stimme wieder, doch erst danach sein Denkvermögen. »Wie zum Teufel hat er ...«

Das weiß nicht einmal der Teufel.« Durch schiere Willensanstrengung gewann der Kardinal allmählich etwas von seiner inneren Ruhe wieder. Gebieterisch nahm er den Umschlag zurück und schlug ihn vor sich auf den Tisch. Was seine Gehilfen darüber dachten, kümmerte ihn nicht im Mindesten. Mit so vielen Ungewissheiten konfrontiert musste er sich den Fragen widmen, die sich in seinem Kopf überschlugen.

Wie hatte der Dreiunddreißig-Tage-Papst die Unterlagen seines Vorgängers in die Hände bekommen? Gab es im Sekretariatspersonal Seiner Eminenz einen Verräter? Bei diesem Gedanken warf der Kardinal einen Blick auf Pater Carnesecca. Für ihn repräsentierte dieser schwarz gewandete, professionelle Untergebene die ganze vatikanische Unterschicht bürokratischer Nichtstuer.

Natürlich hatte der Papst theoretisch einen Anspruch auf jedes Dokument im Sekretariat; aber er hatte sich niemals an Vincennes' Angelegenheiten interessiert gezeigt. Und dann stellte sich auch die Frage, was der zweite Papst überhaupt gesehen hatte. Hatte er das gesamte Dossier des alten Pontifex erhalten - und alle Papiere gelesen? Oder nur den Umschlag mit dem fraglichen Datum 29. Juni 1963, das nun in seiner Handschrift auf der Oberseite stand? Wenn Letzteres zutraf, wie war der Umschlag wieder unter die Dokumente des alten Papstes geraten? Und wer hatte auf dem Schreibtisch des Kardinals alles wieder so hergerichtet, wie es vorher gewesen war? Wie hatte das jemandem gelingen können ohne Aufmerksamkeit zu erwecken?

Abrupt stand er vom Tisch auf, ging durch das Zimmer zu seinem Schreibtisch, griff nach seinem Terminkalender und schlug ihn an dem betreffenden Datum auf. Ja, er hatte die übliche morgendliche Besprechung mit dem Heiligen Vater gehabt, sich aber nichts Nennenswertes notiert. Am Nachmittag hatte eine Sitzung mit den Kardinälen stattgefunden, die die Vatikanbank verwalteten; auch dabei war nichts Interessantes vorgefallen.

Doch eine andere Notiz erregte seine Aufmerksamkeit. Er hatte in der kubanischen Botschaft an einem Mittagessen für seinen Freund und Kollegen, den scheidenden Botschafter, teilgenommen. Nach dem Essen war er noch für ein privates Gespräch geblieben.

Der Kardinal bat seinen Sekretär den Dienstplan zu überprüfen. Wer hatte an diesem Tag am Empfangstisch des Sekretariats gesessen? Er musste nicht lang auf die Antwort warten; und als er sie erhielt, richtete er einen brütenden Blick auf den ovalen Tisch. In diesem Augenblick wurde Pater Aldo Carnesecca für Seine Eminenz zu weit mehr als nur einem Symbol der vatikanischen Unterschicht.

In der Zeit, die es dauerte, den Hörer wieder aufzulegen und an den Tisch zurückzukehren, stahl sich ein fast kaltes Licht in die Gedanken des Kardinalsekretärs. Ein Licht auf die Vergangenheit; und ein Licht auf seine Zukunft. Seine massige Gestalt entspannte sich sogar etwas, als er die Teile zusammenfügte. Die beiden päpstlichen Dossiers auf seinem Schreibtisch, die der Sichtung harrten. Seine eigene lange Abwesenheit aus seinem Büro am 28. September. Carnesecca, der während der Mittagsstunden Dienst hatte. Vincennes begriff, wie alles zusammenhing. Er war von Niederträchtigkeit überlistet, von Arglist, die sich als Unschuld tarnte, übertölpelt worden. Sein Spiel war geplatzt. Er konnte nun nichts Besseres mehr tun, als dafür zu sorgen, dass der doppelt versiegelte päpstliche Umschlag dem polnischen Papst nie in die Hände fiel.

»Beenden wir unsere Arbeit!« Indem er nacheinander ins immer noch aschfahle Gesicht Aureatinis und dann in Carneseccas gelassene Züge blickte, wurde der Kardinal wieder klar im Kopf und war nun ganz bei der Sache. In dem Ton, den er immer gegenüber Untergebenen angeschlagen hatte, rasselte er eine Reihe von Entscheidungen herunter, mit der er die Sichtung der alten Papstpapiere beendete. Carnesecca sollte sich darum kümmern, dass den Verwandten des Pontifex die vier entsprechend adressierten Umschläge zugingen. Aureatini sollte die anderen Papiere dem vatikanischen Archivar überbringen, der dafür zu sorgen hatte, dass sie in irgendeinem entsprechend obskuren Winkel Staub ansetzten. Um den doppelt versiegelten Umschlag wollte sich der Kardinal persönlich kümmern.

Danach machte Seine Eminenz sich eilig an die Sichtung der verhältnismäßig wenigen Papiere, die der zweite Papst während seiner allzu kurzen Amtszeit angesammelt hatte. Weil er keinen Zweifel hatte, dass das bedeutsamste Dokument, das jener Papst hinterlassen hatte, bereits vor ihm lag, blätterte er hastig durch den Inhalt des Dossiers. Binnen einer Viertelstunde hatte er es an Aureatini weitergereicht, der es dem Archivar bringen sollte.



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Erster Teil

 

ABEND

 

 

Wohlerwogene Pläne ...

 

1

Im Vatikan war niemand überrascht, dass der Heilige Vater Anfang Mai zu einem weiteren Pastoralbesuch abreiste. Es war schließlich nur einer von zahlreichen Besuchen, die er seit seiner Wahl im Jahre 1978 bisher gut fünfundneunzig Ländern auf allen fünf Kontinenten abgestattet hatte.

Es schien fast so, als habe dieser polnische Papst in seiner nun über zehnjährigen Amtszeit das Pontifikat zu einer einzigen langen Pilgerreise durch die Welt gemacht. Er war, leibhaftig oder durch die Medien, von über drei Milliarden Menschen gesehen oder gehört worden. Er hatte mit unzähligen Regierungschefs an einem Tisch gesessen. Er verblüffte mit einem Kenntnisreichtum über deren Länder und ihre Sprachen, der seinesgleichen suchte. Er hatte sie alle als ein Mann ohne sichtliche Vorurteile gegen irgend] emanden beeindruckt. Er wurde von diesen politischen Führern, wie von Männern und Frauen überall auf der Welt, selbst als Führergestalt anerkannt: als ein Mann, der sich der Hilflosen, Heimatlosen, Arbeitslosen und Kriegsopfer annahm. Ein Mann, der sich um die sorgte, denen sogar das Lebensrecht vorenthalten wurde - die abgetriebenen Babys und die, die nur zur Welt kamen um gleich wieder an Hunger und Krankheit zu sterben. Ein Mann, der sich um die Millionen in Somalia, Äthiopien und dem Sudan sorgte, die nur lebten um an einer von ihrer Regierung verschuldeten Hungersnot zugrunde zu gehen. Ein Mann, der sich um die Menschen in Afghanistan, Kambodscha und Kuwait Gedanken machte, wo noch über achtzig Millionen Landminen im Boden steckten.

Alles in allem war dieser Papst zu einem kristallklaren Spiegel geworden, der der Welt ihre Wirklichkeit und die wahren Nöte ihrer Völker vor Augen hielt.

Gemessen an solch übermenschlichen Anstrengungen sollte der päpstliche Ausflug, zu dem er an diesem Samstagmojgen aufbrach, ein verhältnismäßig kurzer werden: ein Pastoralbesuch des Wallfahrtsortes Sainte-Baume, hoch in den französischen Seealpen. Dort würde der Pontifex die traditionellen Andachten zu Ehren der heiligen Maria Magdalena leiten, die hier der Legende zufolge dreißig Jahre ihres Lebens als Büßerin in einer Höhle zugebracht hatte.

Der Samstag, an dem der Papst nach Sainte-Baume abreisen wollte, brach hell und klar herein. Als Staatssekretär Kardinal Cosimo Maestroianni mit dem slawischen Papst und seinem kleinen Gefolge aus einem der rückwärtigen Portale des päpstlichen Palastes trat und durch die Gärten zum vatikanischen Hubschrauberlandeplatz schritt, empfand Seine Eminenz, obwohl nicht als heiterer Mensch bekannt, doch eine gewisse glückliche Erleichterung. Denn wenn er den Heiligen Vater erst sicher auf den Weg nach Sainte-Baume gebracht hatte, wie es Pflicht und Anstand verlangten, hätte er endlich einige Tage wertvoller Zeit für sich.

Maestroianni hatte keine wirkliche Krise vor sich. Aber in gewissem Sinne war Zeit gerade jetzt besonders kostbar für ihn. Obwohl die Nachricht offiziell noch nicht verlautbart worden war, wollte der Kardinal nach vorheriger Absprache mit dem papst von seinem Amt als Staatssekretär zurücktreten. Selbst nach seiner Pensionierung hätte er noch beträchtlichen Einfluss auf die hohe Politik des Vatikans - dafür hatten er und seine Kollegen gesorgt. Maestroiannis bereits gewählter Nachfolger War eine bekannte Größe; nicht der ideale Mann, aber lenksam. Dennoch sollte er besser einige Dinge regeln, solange er selbst noch offiziell ein hohes Amt bekleidete. Vor seinem Ausscheiden als Leiter des Päpstlichen Sekretariats hatte Seine Eminenz drei besonders wichtige Aufgaben zu erledigen. Jede war auf ihre Art heikel. Und alle drei standen kurz vor der Entscheidung: Nur noch ein paar Fortschritte hier, einige weitere Kleinigkeiten dort in Gang gesetzt und er konnte sicher sein, dass sein Zeitplan nicht umgestoßen werden konnte.

Der Zeitplan war jetzt das Wichtigste. Und die Zeit wurde knapp.

An diesem frühen Samstagmorgen, flankiert von den stets gegenwärtigen uniformierten Wachen, gefolgt von seiner Reisegesellschaft und dem persönlichen Sekretär des Pontifex, Monsignore Daniel Sadowski, an letzter Stelle, schritten der polnische Papst und sein Kardinalstaatssekretär über den schattigen Weg wie zwei synchrone Seiltänzer. Während er neben dem Heiligen Vater dahinhastete - seine kurzen Beine zwangen ihn zwei Schritte zu gehen, wenn der Papst einen tat -, referierte Seine Eminenz die wichtigsten Punkte auf dem Besuchsplan des Pontifex für Sainte-Baume und verabschiedete sich mit den Worten: »Bittet die Heilige ihre Gnade über uns auszugießen, Euer Heiligkeit.«

 

Als er sich in nunmehr seliger Einsamkeit wieder dem Papst-Palast zuwandte, gestattete sich Kardinal Maestroianni einige Augenblicke zusätzlichen Nachdenkens in diesen schönen Gärten. Nachdenklichkeit war nur natürlich für einen Mann, der den Umgang mit dem Vatikan und den Weltmächten gewöhnt war, und vor allem, wenn er kurz vor dem Ausscheiden aus seinem Amt stand. Es war auch keine Zeitverschwendung. Denn es waren nützliche Überlegungen, Überlegungen, die Veränderungen betrafen. Und die Einheit der Kirche.

In der Zusammenschau erschien es Seiner Eminenz so, als sei alles in seinem Leben, alles in der Welt, stets dem Prozess der Veränderung unterworfen und für Veränderungen bestimmt gewesen, als habe sich alles um die vielen Fassetten und den vielfältigen Nutzen der Einheit gedreht. Genau genommen hatte Seine Eminenz die späte, dafür umso klarere Einsicht gewonnen, dass schon damals in den Fünfzigerjahren, als er als junger, ehrgeiziger Kleriker in den diplomatischen Dienst des Vatikans trat, die Veränderung als einzige Konstante den Lauf der Welt bestimmt hatte.

Maestroianni kehrte in Gedanken zu dem letzten langen Gespräch zurück, das er mit seinem langjährigen Mentor Kardinal Jean-Claude de Vincennes geführt hatte. Es hatte genau hier in diesen Gärten an einem klaren Tag im Frühwinter des Jahres 1979 stattgefunden. Vincennes war damals mit den Vorbereitungen für die erste Auslandsreise des neu gewählten Papstes beschäftigt, die diesen zum ersten Mal nach seiner überraschenden Wahl auf den Stuhl Petri wieder in sein Heimatland Polen führen sollte.

Alle Welt hatte diese Reise als eine nostalgische Rückkehr des Papstes in sein Heimatland für ein angemessenes und endgültiges Lebewohl eines erfolgreichen Sohnes an sein Vaterland betrachtet. Nur Vincennes sah das anders. Vincennes' Stimmung während dieses Gesprächs vor so vielen Jahren war Maestroianni seltsam vorgekommen. Wie es seine Art war, wenn er seinem Protege einen besonders wichtigen Punkt verdeutlichen wollte, hatte Vincennes einen scheinbar lockeren Konversationston gewählt. Er hatte über seine Zeit im Dienste des Vatikans gesprochen. »Der erste Tag«, wie Vincennes sie nannte: die lange, ermüdende Zeit des Kalten Krieges. Das Bemerkenswerte war dabei, dass seine Stimme bewusst prophetisch geklungen hatte; er schien in mehr als einer Hinsicht das Ende dieser Zeit vorherzusagen.

»Offen gesagt«, hatte Vincennes Maestroianni anvertraut, »Europas Rolle an diesem ersten Tag war die einer bedeutenden, doch hilflosen Schachfigur im tödlichen Spiel der Nationen. Das Spiel des Kalten Krieges. Es wurde immer befürchtet, dass jeden Augenblick das nukleare Inferno ausbrechen könne.«

Auch ohne solche rhetorischen Wendungen hatte Maestroianni dies alles längst begriffen. Er war immer ein eifriger Student der Geschichte gewesen. Und bis Anfang 1979 hatte er selbst aus erster Hand Erfahrungen mit den Regierungen und Mächtigen der Welt im Angesicht des Kalten Krieges sammeln können. Er wusste, dass die Vorzeichen des Kalten Krieges jedem innerhalb und außerhalb der Regierung zu schaffen machten. Selbst die sechs westeuropäischen Nationen, deren Minister 1957 die Verträge von Rom unterzeichnet und auf diese Weise so mutig die Europäische Gemeinschaft auf den Weg gebracht hatten - selbst ihre Schritte wurden in jeder Hinsicht von diesen Vorzeichen des Kalten Krieges gebremst.

Nach allem, was Maestroianni in jenen ersten Tagen des Jahres 1979 wusste, hatte sich an der geopolitischen Realität - der Realität dessen, was Vincennes den »ersten Tag« nannte - nichts geändert. Was ihn daher besonders erstaunte, war Vincennes' Überzeugung, dass ein Ende dieser Zeit nahe sei. Noch erstaunter war er, als ihm dämmerte, dass Vincennes ausgerechnet in diesem polnischen Eindringling ins Papstamt einen, wie er sich ausdrückte, »Engel der Veränderung« sah.

»Irren Sie sich nur nicht.« Vincennes hatte einen Aspekt besonders betont. »Es mag sein, dass viele diesen Mann als einen aufgeblasenen Dichterphilosophen betrachten, den es nur irrtümlich auf den Papststuhl verschlagen hat. Aber er denkt und isst und schläft und träumt geopolitisch. Ich habe die Entwürfe einiger Reden gesehen, die er in Warschau und Krakau halten will. Und ich habe mir die Zeit genommen einige seiner früheren Reden zu lesen. Seit 1976 redet er über unausweichliche Veränderungen - über den bevorstehenden Aufbruch der Nationen in eine neue Weltordnung.«

In seiner Verblüffung war Maestroianni unvermittelt neben Vincennes stehen geblieben.

»Ja.« Hünenhaft groß hatte Vincennes auf seinen kleinen Vertrauten herabgesehen. »Ja. Sie haben richtig gehört. Auch er sieht eine neue Weltordnung kommen. Und wenn ich mich in seinen Motiven für die Rückkehr in sein Heimatland nicht irre, dann könnte er derjenige sein, der das Ende des ersten Tages verkündet. Und wenn das zutrifft, wird sehr bald der zweite Tag heraufdämmern. Wenn es so weit ist und wenn ich nicht fehlgehe, wird dieser neue Papst der Meute voranschreiten. Aber Sie, mein Freund, müssen schneller laufen. Sie müssen diesen unseren Heiligen Vater umkreisen.«

Maestroianni war aus zwei Gründen sprachlos gewesen. Zunächst deshalb, weil Vincennes damit zu rechnen schien, dass er den »zweiten Tag« nicht mehr erleben würde; er gab offenbar Maestroianni als seinem Nachfolger Anweisungen. Und zweitens, weil Vincennes diesen Polen, der für das Papstamt so ungeeignet schien, für fähig hielt eine entscheidende Rolle in der Machtpolitik der Welt zu spielen.

Es war ein ganz anderer Maestroianni, der sich nun noch eine kleine Pause gönnte, ehe er wieder durch das rückwärtige Portal 1 päpstlichen Palastes trat. Vincennes' Stimme hatte die vergangenen zwölf Jahre geschwiegen. Aber eben diese Gärten, sowenig sie sich selbst verändert hatten, bezeugten die Genauigkeit seiner Vorhersage.

per »zweite Tag« hatte so subtil begonnen, dass den politischen Führern des Ostens und des Westens nur langsam zu Bewusstsein gekommen war, was Vincennes bereits den frühen Reden jenes Mannes, der heute Papst war, entnommen hatte. Allmählich begannen die klügsten Kinder Mammons zu begreifen, was dieser Pontifex ihnen auf seine nie anklagende, doch beharrliche Art zu vermitteln versuchte.

Indem er in sein Heimatland reiste und die politischen Führer des Ostens auf eigenem Territorium erfolgreich in die Schranken wies, hatte dieser Papst die Initialzündung für eine der grundlegendsten geopolitischen Umwälzungen der Geschichte gegeben. Doch es fiel den westlichen Regierungen schwer, dem Papst in die Richtung zu folgen, die er ihnen wies. Sie waren sich vollkommen sicher gewesen, dass ihr eigenes winziges und künstlich missgestaltetes europäisches Dreieck der Dreh- und Angelpunkt der globalen Veränderungen sein würde. Es war schwer zu glauben, dass das Epizentrum der Veränderung in den besetzten Ländern zwischen der Oder im polnischen Westen und den Ostgrenzen der Ukraine liegen sollte.

Und wenn die Worte des Pontifex diese politischen Führer nicht überzeugt hatten, dann hatten es letztlich die Ereignisse getan. Und erst einmal überzeugt konnte sie nichts mehr vom Marsch m eine neue geschichtliche Epoche abhalten. Bis 1988 war die emst so kleine Europäische Gemeinschaft zu einem Bündnis von zwölf Staaten mit einer Gesamtbevölkerung von 324 Millionen Menschen angewachsen, das sich von Dänemark im Norden bis nach Portugal im Süden und von den Shetlandinseln im Westen bis nach Kreta im Osten erstreckte. Es war durchaus zu erwarten, dass sich mindestens fünf weitere Staaten und 130 Millionen Menschen der Gemeinschaft anschließen würden.

Dennoch blieb Westeuropa ein hartnäckig umzingeltes kleines Dreieck, das in der Angst lebte, seine alte Zivilisation könne in der Mutter aller Kriege in Schutt und Asche gelegt werden. Noch immer lauerte der Feind am Horizont und hemmte seinen Ehrgeiz.

Doch mit dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 fielen endlich auch alle Scheuklappen. Die Westeuropäer erlebten am eigenen Leib den Schub großer Veränderungen. Bis in die frühen Neunzigerjahre hatte sich dieses Gefühl zu einem tiefen europäischen Selbstverständnis verfestigt. Jenes Westeuropa, in das sie hineingeboren waren, gab es nun nicht mehr. Ihre lange Nacht der Furcht war vorüber. Der »zweite Tag« dämmerte herauf.

So unerwartet sie auch kam, hatte die neue Dynamik in Mitteleuropa doch weit reichende Konsequenzen. Sie sorgte Europas ostasiatischen Konkurrenten Japan. Und sie erfasste beide Supermächte. Wie der Bote in einem klassischen griechischen Drama, der auf der Bühne erscheint um einem ungläubigen Publikum kommende Ereignisse anzukündigen, betrat Michail Gorbatschow als sowjetischer Präsident die Szene um aller Welt mitzuteilen, dass seine Sowjetunion immer »ein integraler Bestandteil Europas« gewesen sei. Am anderen Ende der Welt sprach US-Präsident Bush von Amerika als einer »europäischen Macht«.

Auch im päpstlichen Rom war inzwischen der »zweite Tag« angebrochen. Im Drunter und Drüber des Wandels, der wie ein heißer Lavastrom die Gemeinschaft der Nationen durchpflügte, geschah es weitgehend unbemerkt und unspektakulär. Doch unter der klugen Führung Maestroiannis und seiner zahleichen Helfer erfasste ein noch rascherer und grundlegender Strom des Wandels den Zustand und das irdische Geschick jer römisch-katholischen Kirche und des päpstlichen Roms selbst.

Pas Rom des alten Papstes, der noch dem Zweiten Weltkrieg getrotzt hatte, gab es nun nicht mehr. Sein päpstliches Rom, eine dicht gewobene, hierarchische Organisation, war verschwunden. All jene Kardinäle, Bischöfe und Priester, die religiösen Orden und Institutionen, die sich weltweit über Diözesen und Gemeinden spannten und die durch Treue und Gehorsam gegenüber einem Pontifex maximus, der Inkarnation des Papsttums, miteinander verknüpft waren - all das war verschwunden. Es gab auch nicht mehr jenes pfingstlich aufgeregte Rom des »guten Papstes«, der Fenster und Türen seiner altehrwürdigen Institution geöffnet hatte, damit der Wind der Veränderung durch jedes Zimmer und jeden Korridor fegen konnte. Sein päpstliches Rom war verschwunden, fortgeweht von ebenjenen Winden, die er gesät hatte. Von seinem Traum war nichts geblieben, abgesehen von ein paar diffusen Erinnerungen und verzerrten Nachbildern und der Inspiration, die ihm Männer wie Maestroianni verdankten.

Selbst das turbulente päpstliche Rom jenes unglücklichen Pontifex, der den Namen des Apostels Paulus angenommen hatte, gab es nicht mehr. Nicht eine Spur des Pathos war übrig, mit dem dieser Heilige Vater erfolglos gegen die fortschreitende Entkatholisierung dessen protestiert hatte, worin man einst das heiligste Mysterium des päpstlichen Roms gesehen hatte. Dank Vincennes und solch fähiger und hingebungsvoller Proteges wie unter anderem auch Maestroianni selbst war zum Zeitpunkt, als dieser Pontifex nach fünfzehn Jahren auf dem Stuhle 1 etri vom Tode abberufen wurde, bereits ein neues Rom im Entstehen begriffen. Eine neue Form des Katholizismus nahm Gestalt an.

In der noch frischen Luft dieses Morgens hob der Staatssekretär Kardinal Maestroianni die Augen zu einem entschlossenen Blick über die Gärten und in den Himmel. Wie passend, dachte er - ein Omen geradezu -, dass von dem Helikopter, der den Papst forttrug, nichts mehr zu hören oder zu sehen war. Denn das neue Rom hatte sich gegen diesen polnischen Papst gerichtet. Dieses Rom war antipäpstlich eingestellt. Ja, nicht nur antipäpstlich eingestellt, sondern entschlossen eine antipäpstliche Kirche aufzubauen.

Eine neue Kirche in einer neuen Weltordnung. Das war das Ziel im neuen Rom. In Maestroiannis Rom.

Maestroianni hielt es immer noch für eine kuriose Begleiterscheinung, dass ausgerechnet jener Papst, den viele für kaum mehr als ein »Relikt vergangener Zeiten« hielten, sich als Hauptstolperstein herausgestellt hatte, der dem Erreichen dieses Ziels noch entgegenstand.

Zu schlimm, grübelte Maestroianni, dass es dazu gekommen war. Denn in den frühen Tagen seines Pontifikats hatte das Auftreten des Papstes seinen Kardinal ermutigt. Er hatte sich selbst zur Verkörperung »des Geistes des Zweiten Vatikanischen Konzils« erklärt - in anderen Worten zum Schirmherrn des unerhörten Wandels, den die Kirche im Namen des Zweiten Vatikanischen Konzils durchmachte. So hatte er zum Beispiel der Ernennung Maestroiannis zu seinem Staatssekretär zugestimmt. Und er hatte Kardinal Noah Palombo in seiner mächtigen Stellung belassen. Er willigte in die Beförderung anderer ein, denen die Religiosität dieses Heiligen Vaters zuwider war. Und er störte auch die guten Freimaurer nicht, die sich in der vatikanischen Kanzlei abplagten. All das waren gute Zeichen für die Willfährigkeit, wenn nicht Komplizenschaft des Papstes gewesen. Und das Gesamtbild war viel versprechend. Nicht nur . R0m, sondern in allen Diözesen der katholischen Welt befand sich eine entschlossene Phalanx von Klerikern in den verantwortlichen Stellungen. Ein neuer Katholizismus breitete sich aus.

Natürlich war die Autorität Roms gefordert diesen neuen Katholizismus zu propagieren. Das war Maestroiannis Anteil am Täuschungsmanöver. Und ein behutsam revidiertes Kirchenrecht sollte seine Gebote durchsetzen. Damit war Maestroiannis Partei im vatikanischen Personalkarussell betraut. Aber die Absicht blieb immer einen Katholizismus zu fördern, der nichts mehr mit jenem Katholizismus gemein hatte, der ihm vorangegangen war.

Kardinalstaatssekretär Vincennes hatte diesen Fortschritt selbst ein ganzes Stück mit auf den Weg gebracht. Was noch erreicht werden musste, war die willfährige, ja mitwirkende Knechtschaft des Papstes im Dienste einer neuen Weltordnung. Eine neue irdische Heimstatt. Eine wahrhaft neue Weltordnung. Wenn die Umwandlung abgeschlossen war, würde in einem irdischen Paradies der »dritte Tag« anbrechen.

Jeder vernünftige Mensch hatte damit gerechnet, dass dieser Papst, der so zielbewusst agiert, der den bevorstehenden Aufbruch der Nationen in eine neue Weltordnung heraufbeschworen hatte, der geeignete Mann sein müsste um die Umwandlung der römisch-katholischen Organisation in einen willigen Erfüllungsgehilfen der neuen Weltordnung zu befördern, um die kirchlichen Institutionen in völlige Übereinstimmung mit der Globalisierung der gesamten menschlichen Kultur zu bringen. Doch nun, so hatten der Kardinal und seine Kollegen - innerhalb und außerhalb der Kirche - erkannt, stand dieser polnische Papst dem nötigen Fortschritt unversöhnlich im Weg.

Denn dieser Papst wollte sich in gewissen grundlegenden Fragen - moralischen und doktrinären Fragen - nicht von der Stelle rühren. Er weigerte sich beharrlich Frauen zur Priesterweihe zuzulassen oder den priesterlichen Zölibat zu lockern. Er lehnte alle genetischen Experimente mit menschlichen Embryonen ab. Er duldete Empfängnisverhütung in keiner Form und Abtreibung unter keinen Umständen. Er bestand auf dem Recht seiner Kirche die Jugend zu erziehen. Und vor allem bestand er auf dem Recht seiner Kirche sich gegen jegliche zivile Rechtsprechung zu stellen, mit der er und seine Kirchenmänner aus moralischen oder doktrinären Gründen nicht einverstanden waren. Kurz gesagt, dieser Papst wollte keines der wichtigen traditionellen Dogmen der römisch-katholischen Kirche aufgeben.

Daher konnte es, solange er Papst blieb, keinen wahren Fortschritt in Richtung auf die großen Ziele einer neuen Weltordnung geben. Oder zumindest würde er den Fortschritt derart bremsen, dass man einen wichtigen Stichtag verfehlen würde, wenn es im gegenwärtigen Tempo weiterginge. Dieser Termin war dem Kardinal von seinen Kollegen in Politik, Finanzwesen und Wirtschaft als ein Datum von weltweiter Bedeutung genannt worden, als ein Datum, zu dem die völlige Umwandlung der römisch-katholischen Kirche eine unumstößliche Tatsache sein musste.

Der Papst wurde so unvermeidlich zu einem primären Ziel aller Veränderungsbestrebungen, eigentlich zu dem Ziel schlechthin.

Schließlich ließ Maestroianni von seinen Überlegungen inmitten des Gartens ab. Er hatte Arbeit zu erledigen. Bevor dieser Tag vorüber war, hoffte er - falls er nicht aufgehalten wurde - in allen drei Punkten, von denen die letzte Phase der Umwandlung abhing, echte Fortschritte gemacht zu haben. Er hatte das Vermächtnis Vincennes' würdig weitergeführt. Und ob er sich nun zur Ruhe setzen wollte oder nicht, er war bei weitem noch nicht fertig. Nicht einmal zur Hälfte.

Wenn es aber darauf ankam, sah der kleine Cosimo Maestroianni sich selbst als Riesen.

 

 

II

Der Papst entspannte sich, als er den Helikopter bestiegen hatte, und war für den Augenblick ganz allein mit seinem Privatsekretär Monsignore Daniel Sadowski, der um seine höchst prekäre Position als Pontifex wusste. Er war der Überwachung durch seinen verschlagenen Staatssekretär entkommen. Als der Helikopter abhob, warfen weder der Papst noch sein Sekretär einen Blick zurück auf Kardinal Maestroianni, der es offensichtlich nicht abwarten konnte, in sein Büro zu gelangen und sich seinem Tagwerk im Papstpalast zuwenden zu können. Worin dieses Tagwerk auch bestehen mochte, beide Männer hatten keinen Zweifel, dass es dem Heiligen Vater nur Ärger einbringen würde.

Binnen einer halben Stunde traf sein Helikopter in Fiumicino ein. Nach der Landung fand die übliche Zeremonie statt - kirchliche und zivile Würdenträger, ein Chor von Schulkindern, der eine Papsthymne sang, eine kurze Ansprache des Pontifex, eine förmliche Adresse des Provinzgouverneurs. Dann stiegen der Papst und sein Gefolge in die übliche weiße Alitalia-DC-10 und nahmen ihre Plätze in der päpstlichen Kabine ein. Eine kleine Anzahl handverlesener Reporter und Kameraleute befand sich bereits in der Passagierkabine. Bald hob das Flugzeug ab und binnen weniger Minuten befand es sich über dem Tyrrhenischen Meer und flog in nordwestlicher Richtung nach Marseille.

»Wissen Sie«, sagte der Papst zu Sadowski, »als wir - der Kardinal und ich - im Oktober 1978 für das Konklave nach Rom kamen, glaubten wir beide zu wissen, was dieser Posten mit sich bringt.« Für den Papst war und würde »der Kardinal« immer das damalige Oberhaupt der polnischen Kirche sein, der inzwischen verschiedene Stefan Wyszynski, genannt der »Fuchs von Europa«.

Schon bevor sie am zweiten Konklave binnen zwei Monaten teilnahmen, war den beiden polnischen Kardinälen klar gewesen, dass die päpstliche Führung grundlegend, wenn nicht endgültig und mit tödlicher Konsequenz vom so genannten »Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils« kompromittiert worden war. Als die letzten Stunden dieses Konklaves anbrachen und der junge Geistliche sich der Möglichkeit stellen musste, dass man ihm das Papstamt antragen würde, hatten die beiden Männer sich zu einem Gespräch unter vier Augen getroffen.

»Wenn Sie die Wahl annehmen«, hatte der alte Kardinal damals gesagt, »werden Sie der letzte Papst des katholischen Zeitalters sein. Wie Simon Petrus selbst werden Sie an der Schwelle zwischen zwei Epochen stehen. Sie werden einem erhabenen päpstlichen Endspiel Vorsitzen. Und Sie werden es in dem Moment tun, da die antipäpstliche Fraktion in der Kirche faktisch die Kontrolle über ihre Institutionen übernommen hat - und das im Namen des Vatikanischen Konzils.«

Beiden Kardinälen war deshalb klar, dass von dem jungen Prälaten erwartet wurde in seiner Rolle als Papst getreu dem viel gerühmten Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils zu handeln. Aber unter diesem Vorzeichen seine Wahl anzunehmen hieße sich mit einer Kirche einverstanden zu erklären, die sich bereits fest, unwiderruflich und mit bürokratischem Eifer einer globalen soziopolitischen Tagesordnung verschrieben hatte, die der überwältigenden Mehrheit seiner päpstlichen Vorgänger als der heiligen Mission der Kirche vollkommen fremd betrachtet worden wäre.

Aber selbst das war noch nicht alles. Die beiden Kardinäle mussten sich außerdem der Tatsache stellen, dass die innere Organisation und das öffentliche Leben der römisch-katholischen Kirche, wie sie bis in die Anfangsjahre des zwanzigsten Jahrhunderts bestanden hatten, im Jahre 1978 endgültig dahin waren. Beiden Kardinälen war klar, dass sie nicht wiederhergestellt werden konnten. Schon bevor er sich wieder dem Konklave angeschlossen hatte um seine Wahl anzunehmen, hatte der designierte Papst eingesehen, dass die Veränderungen, die seine kirchliche Organisation bereits durchgemacht hatte, unumkehrbar waren. Die traditionelle Struktur der katholischen Kirche als sichtbare Institution und funktionierende Organisation hatte sich in etwas anderes verwandelt.

In seinem ersten Jahr auf dem Stuhle Petri hatte der polnische Papst erklärt, dass »ich dem Vorbild meiner drei Vorgänger folgen werde. Ich will es zu meiner Aufgabe als Papst machen, dem Geist und Wortlaut des Zweiten Vatikanischen Konzils gerecht zu werden. Ich will mit meinen Bischöfen arbeiten, so wie jeder Bischof mit seinen Kollegen arbeitet, sie in ihren Diözesen, ich als Bischof von Rom und wir alle gemeinsam im Dienste der einen Kirche.« Er hatte sich streng an dieses Versprechen gehalten. In seinen zwölf Jahren als Papst, ganz gleich wie nachlässig, häretisch oder gottlos die Bischöfe ihre Diözesen auch regieren mochten, war er nicht davon abgewichen.

Während Bischöfe zu Tausenden darin fortfuhren, von der Tradition abweichende Lehrinhalte in ihre Seminare einzuführen, es der Homosexualität erlaubten, sich unter ihrem Klerus auszubreiten, die römisch-katholischen Zeremonien an ein halbes Dutzend »Inkulturationen« anpassten - an Newage-Rituale, an eine »Hindualisierung«, an eine »Amerikanisierung« -, sah der polnische Papst davon ab, die Täter für ihre impliziten oder gewollten Häresien und Sittenverstöße zu verfolgen. Im Gegenteil: Er ließ sie gewähren.

Bemühten sich die Bischöfe am Aufbau der neuen weltlichen Strukturen mitzuwirken, die ihre jeweiligen Nationen und die sich abzeichnende Gemeinschaft der Nationen regieren sollten? Das tat auch der Papst, unter der ganzen schweren Last seines Amtes. Kooperierten die Bischöfe mit nicht katholischen Christen als gleichberechtigten Partnern in der Evangelisierung der Welt? Das tat auch der Papst, mit allem vatikanischen Pomp und Zeremoniell. Während die institutionelle Organisation seiner Kirche immer weiter in den Trümmerhaufen ihres eigenen Zusammenfalls abglitt, während er sich der Welt nur als ein weiterer »Sohn der Menschlichkeit« und seinen Bischöfen nur als ein weiterer brüderlicher Bischof in Rom darstellte - blieb der Papst der einmal anerkannten Lösung - Gespräch und Dialog mit allen Seiten - treu.

Er beharrte darauf, dass er die Kirche gemeinsam mit seinen Bischöfen regierte, als einer von ihnen. Selbst wenn er aufgefordert war seine wohl bekannte und etablierte petrinische Autorität in Fragen der Doktrin auszuüben, stieß er seine Freunde vor den Kopf, brachte er die Traditionalisten gegen sich auf und glättete die Wogen unter den Papstgegnern, indem er gelassen erklärte: »Mit der Petrus und seinen Nachfolgern übertragenen Autorität und in Übereinstimmung mit den Bischöfen der katholischen Kirche bestätige ich, dass« und so fort - worauf er sich zur fraglichen Doktrin äußerte.

Er besuchte alle Arten von Tempeln, Schreinen, heiligen Hainen, heiligen Höhlen, trank Zaubertränke, nahm kultische Speisen zu sich, ließ sich die Zeichen heidnischer Gottheiten auf die Stirn malen, sprach als Gleicher unter Gleichen mit häretischen Patriarchen, schismatischen Bischöfen, doktrinär abtrünnigen Theologen, empfing sie sogar im Petersdom und feierte die heilige Messe mit ihnen.

Aber so unerhört er sich als Papst auch benahm, er rechtfertigte sich nie. Er entschuldigte sich nie dafür, dass er sich nicht rechtfertigte. Er nahm selten den heiligen Namen Jesu Christi in den Mund, wenn er vor einem großen Publikum sprach; er entfernte bereitwillig das Kruzifix und sogar das geheiligte Sakrament der Hostie, wenn seine nicht katholischen oder nicht christlichen Gäste diese Symbole des römischen Katholizismus als zu unangenehm empfanden. Ja, er sprach nicht einmal von sich selbst je als römischem Katholiken oder von seiner Kirche als der römisch-katholischen Kirche.

Eine schwerwiegende Folge seiner Lässlichkeit und der »Demokratisierung« seines Papsttums war eine allgemeine Aufweichung seiner päpstlichen Autorität über die Bischöfe. In einem vertraulichen Bericht klagten beispielsweise mehrere Bischöfe offen, wenn auch nicht öffentlich, »wenn dieser Papst nicht weiter über Abtreibung reden, Verhütungsmittel als verwerflich abtun und die Homosexualität verteufeln würde, könnte die Kirche ein heiterer und erfolgreicher Partner in der sich abzeichnenden Gemeinschaft der Nationen werden«. In den USA erklärte der modebewusste Bischof Bruce Longbottham aus Michigan vollmundig: »Wenn dieser dilettantische Schauspieler, der unseren Papst spielt, nur das gleiche Recht der Frauen auf das Priester- und Bischofsamt - sogar auf den Papststuhl - anerkennen würde, könnte die Kirche in das letzte glorreiche Stadium der Evangelisierung eintreten.«

»In der Tat«, hatte ihm der alte amerikanische Kardinal beigepflichtet: »Wenn dieser Papst nur auf seinen frommen Unsinn über Erscheinungen der Jungfrau Maria verzichten und sich daranmachen würde, realen Frauen in der realen Kirche reale Macht zu verleihen, würde die ganze Welt christlich werden.«

Auf diese oder jene Weise - ob über die zaghaften Bitten gutwilliger Männer und Frauen oder durch Personen, von denen er wusste, dass sie seinem Papsttum nur das Schlechteste und ein gründliches Scheitern wünschten - drangen all diese Einwände und Kritiken an das Ohr des Papstes; und er bezog sie alle beharrlich in seine Gebete an den Heiligen Geist ein.

»Sagen Sie, Daniel ...« Nach dreißig Flugminuten wandte er sich seinem Sekretär zu. »Warum, meinen Sie, pilgere ich zur Maria Magdalena in Baume - und warum ausgerechnet jetzt?« Er richtete einen herausfordernden Blick auf Sadowski. »Ich meine, was sind meine wahren Beweggründe?«

»Euer Heiligkeit, ich kann nur annehmen, dass es mehr aus persönlicher Hingabe denn aus allgemeinen kirchlichen Gründen geschieht.«

»Ganz richtig!« Der Papst schaute aus dem Fenster. »Kurz gesagt, ich möchte mit einer Heiligen sprechen, die wegen der Herrlichkeit, die sie im Antlitz Christi am Tage seiner Wiederauferstehung sah, ins Exil ging. Ich möchte sie auf eine besondere Weise ehren in der Hoffnung, dass sie bei Christus Fürsprache einlegt und mir die Kraft verleiht mein eigenes Exil zu tragen, das im Grunde gerade erst beginnt.«

 

 

III

Ein missgelaunter Monsignore Taco Manuguerra, Sekretär des allmächtigen Kardinals Maestroianni, saß in seinem Büro, das Jen Zugang zum Allerheiligsten Seiner Eminenz bewachte. Versunken in die Wochenendstille, die im Sekretariatsflügel des Papstpalastes herrschte, blätterte der Monsignore durch die Morgenzeitungen und brummte vor sich hin, weil der Kardinal ihn wieder einmal zu einem Samstagsdienst eingeteilt hatte. Dies sollte ein dies non werden, hatte Maestroianni ihm gesagt. Ein Tag, an dem der Kardinal im Büro für niemanden zu sprechen war, nicht einmal telefonisch.

Als der Kardinal unvermittelt eintrat, verkniff der Monsignore sich klugerweise sein Gemurmel, ließ die Zeitung sinken und fuhr von seinem Stuhl hoch. Mit einer mahnenden Geste als einzigem Gruß hielt Seine Eminenz kurz inne um eine knappe Frage zu stellen. »Chin?« Er war also wegen Pater Chin Byonbang gekommen. Der Koreaner Chin, ein Mann von bemerkenswerten Fähigkeiten und Seiner Eminenz persönlicher Stenograf, war an diesem Morgen auch im Dienst. Manuguerra antwortete mit einem Nicken. Chin wartete in einem benachbarten Büro auf Anweisungen. Zufrieden entschwand Maestroianni durch die Tür in sein Privatbüro.

In ebendiesem Büro rieb sich der Kardinalstaatssekretär angesichts der lebenswichtigen und vielschichtigen Arbeit, die ihn an diesem Samstagmorgen erwartete, befriedigt die Hände. Von diesem ehrwürdigen Büro aus war es ihm als Staatssekretär gelungen, die unterschwelligen Beben zu steuern, die die weltweite katholische Organisation beim Übergang in eine neue Weltordnung zwangsläufig erschütterten. Unter seiner Leitung schritten die Dinge zügig von einem geplanten Zwischenziel zum nächsten voran. Niemand konnte behaupten, dass Cosimo Maestroianni nicht an einem Überleben der römischen Kirche als Institution gelegen sei. Im Gegenteil, er wusste, dass der universelle Charakter der katholischen Organisation und die kulturelle Stabilität, die sie mit sich brachte, dazu bestimmt waren, eine bedeutende Rolle in der neuen Weltordnung zu spielen.

Gleichzeitig stand dieser Organisation nun ein Papst vor, der trotz all seiner Hilflosigkeit und seiner unbeholfenen öffentlichen Auftritte niemals der wichtigsten aller Säuberungen zustimmen würde - der Säuberung seines eigenen päpstlichen Büros. Dieses Büro musste aufgeräumt und von aller persönlichen Autorität befreit werden und sein Inhaber - der Papst - musste in die Gemeinschaft der Bischöfe eingegliedert werden, dieselbe Autorität ausüben wie alle anderen Bischöfe und nicht mehr als jeder einzelne von ihnen.

Theoretisch gab es eine einfache Lösung für dieses Problem: Der gegenwärtige Inhaber des Papstamtes musste von der Bühne verschwinden. Doch die Entmachtung eines lebenden Papstes ist keine einfache Sache. Wie bei der Entfernung einer scharfen Sprengladung musste man geduldig vorgehen; stets vertraulich und stets mit einer ruhigen Hand. Und weil gerade dieser Papst sich eine solide Position als weltweite Führungsgestalt erarbeitet hatte, war darauf zu achten, dass seine Absetzung nicht das einvernehmliche und unentbehrliche Gleichgewicht der internationalen Politik kippte.

In der hierarchischen Kirchenstruktur selbst gab es indessen die kritische Frage der Einheit zu beachten. Weil die Einheit des Papstes und der Bischöfe eine unabdingbare Voraussetzung für die Stabilität der Kirche als institutionalisierte Organisation darstellte, durfte diese Einheit auf keinen Fall gefährdet werden. Diesen Morgen wollte der Kardinal seiner Sorge um die Einheit widmen. Wenn Taco Manuguerra ihn vor Störungen bewahrte und Chin Byonbang ihm als Stenograf zur Verfügung stand könnte er, so nahm der Kardinal an, gegen Mittag fertig sein.

Kurz nach seinem Eintreffen hatte der Kardinal alle relevanten Materialien auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Unmittelbar danach und wie auf ein Stichwort klopfte Chin leise an die Tür und nahm ohne umständliche Begrüßungen auf dem Stuhl dem Kardinal gegenüber Platz, stellte seine Stenomaschine auf und wartete.

Maestroianni sah sorgfältig seine provisorischen Entwürfe durch. Der Wortlaut eines so heiklen Briefes musste genau erwogen werden. Das Ziel bestand darin, die diplomatischen Vertreter des Heiligen Stuhles in zweiundachtzig Nationen rund um die Welt danach zu befragen, wie zufrieden die viertausend Bischöfe der katholischen Kirche mit ihrem gegenwärtigen Heiligen Vater waren. Nach der Theologie des Kardinals wären die Antworten, die er erhielte, von entscheidender Bedeutung. Der Papst hatte die Bischöfe zu einen; und die Bischöfe mussten imstande sein ihn als »einen Papst der Einheit« zu akzeptieren.

Natürlich plante der Kardinalstaatssekretär seine Umfrage lediglich als eine Ermittlung persönlicher Auffassungen. Als einen Schritt, könnte man sagen, auf dem Wege zu einem realistischeren Dialog zwischen dem Heiligen Stuhl und den Bischöfen. Beispielsweise hielt er es für wichtig, sich ein Bild davon zu machen, welche Art von Einheit wünschenswert sei. Und er wollte feststellen, in welchem Maße sich der Papst dieser erwünschten und notwendigen Einheit mit den Bischöfen erfreute - oder was, falls die Einheit auf dem Spiel stand, getan Werden konnte um die erwünschte und notwendige Einheit herzustellen. Der Kardinal hätte niemals einen so parlamentarischen Ausdruck wie »Vertrauensvotum« gebraucht um den Zweck seiner kleinen Umfrage zu beschreiben. Sollte sich aber durch irgendwelche Umstände herausstellen, dass eine Mehrheit der Bischöfe Seine Heiligkeit nicht als einen Papst der Einheit ansah, dann konnten weitere Maßnahmen ergriffen werden um eine geschlossene Front zu bilden, die auf seine Verabschiedung aus dem höchsten kirchlichen Amt drängte.

Der Trick bestand nun darin, die Situation so zugunsten der neuen Kirche zu wenden, dass nicht einmal im Entferntesten der Eindruck entstand, der gegenwärtige Papst sei tatsächlich - oder auch nur möglicherweise - nie ein Papst der Einheit gewesen. Offiziell durfte es in dieser Hinsicht keinerlei Mehrdeutigkeiten geben. Offiziell sollten Papst und Bischöfe sich nie einiger gewesen sein. Zugleich war es durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass eine erkleckliche Anzahl von Bischöfen, die gewisse Zweifel hegten, nie die Gelegenheit gehabt hatten sich offen zur Frage der Einheit zu äußern. Der Kardinal beabsichtigte den Bischöfen beides zu ermöglichen.

Weil kein Kardinalstaatssekretär, der noch bei Verstand war, mit einem solchen Vorhaben direkt an die Bischöfe herantreten konnte, hatte Maestroianni einen stufenweisen Plan im Sinn. Der Brief, den er heute früh zu schreiben beabsichtigte, sollte an sein diplomatisches Personal gehen, Männer, deren Politik vom Sekretariat diktiert wurde - Nuntien, Delegierte, apostolische Gesandte, Vikare, Sondergesandte. Den Anweisungen in seinem Brief gemäß würden sie sich nacheinander an die verschiedenen nationalen Bischofskonferenzen überall auf der Welt wenden. Denn inzwischen war es fester Brauch, dass die Bischöfe, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils von einem Kreis sachkundiger Berater umgeben worden waren, sich auch auf solche Experten zu Hause verließen.

Alles in allem war der Brief an seine diplomatischen Kollegen, den der Kardinalstaatssekretär an diesem Samstagmorgen aufsetzen wollte, nur ein Schritt eines langen Weges. Aber es war ein entscheidender und heikler Schritt. Er erforderte den geschickten Einsatz blumiger Worte um zu verhüllen, was auf eine brutale Entscheidungsfrage hinauslief.

Genau in diesem Augenblick der Konzentration, als nichts auf der Welt für ihn existierte als die Worte vor seinen Augen, explodierte ein Klopfen an der Tür in den Ohren des Kardinalstaatssekretärs wie ein Donnerschlag. Noch immer über einen Stapel von Notizen in seinen Händen gebeugt, lief er rot an. Maestroianni starrte über seine Brille hinweg finster zur Tür. Taco Manuguerra steckte, zu ängstlich um ganz einzutreten, den Kopf herein und stammelte die Worte, die sein Vorgesetzter ihm heute früh ausdrücklich untersagt hatte. »Das Telefon, Eminenz.«

»Ich dachte, ich hätte ganz deutlich gesagt, dass ich nicht gestört ...«

»Seine Heiligkeit, Eminenz«, stotterte Taco.

Ein elektrischer Schlag hätte das Rückgrat des Kardinals nicht schneller aufrichten können. »Seine Heiligkeit!« Er ließ die Papiere fallen. Wut und Gereiztheit ließen seine Stimme überschlagen. »Er sollte doch eigentlich in den französischen Alpen sein und beten!«

Maestroianni verharrte für einige Sekunden um seine Fassung wieder zu finden, dann hob er den Telefonhörer. »Heiligkeit! Euer Diener! ... Nein, Euer Heiligkeit, ganz und gar nicht. Nur ein paar Kleinigkeiten ... Ja, Euer Heiligkeit. Um was geht es?«

Chin beobachtete mit weit aufgerissenen Augen den Kardinal. »Ich verstehe, Euer Heiligkeit. Ich verstehe.« Maestroianni 8riff nach Stift und Notizblock. »Bernini? Lassen Sie mich den Namen notieren. Noli me tangere ... Ich verstehe ... Nein, Euer Heiligkeit, das kann ich nicht behaupten. Ich dachte, Bernini rührte vor allem Großaufträge aus. Säulen, Altäre, dergleichen ... Wo, Euer Heiligkeit? ... Oh ja. Das Angelicum ... Euer Heiligkeit hat sie dort gesehen? Darf ich fragen, wann das war, Euer Heiligkeit? ... Ja. Schon 1948 ... Ja. Natürlich. Ein Triumph künstlerischer Kraft...« Der Kardinal rollte mit den Augen gen Himmel, als wollte er sagen: Siehst du, Herr, womit ich mich herumschlagen muss?

»... Ich werde mich gleich darum kümmern ... Auf der Stell« sagte ich, Euer Heiligkeit. Wir müssten da flüchtige Kontakte haben ... Können Sie das noch einmal wiederholen, Euer Heiligkeit?... Ja, natürlich, sie muss noch da sein ... Um es deutlich zu machen, Euer Heiligkeit, Sainte-Baume ist auch noch da. Ich meinte die Bernini-Statue ... Ganz richtig, Euer Heiligkeit. Statuen laufen nicht einfach weg ... Wie war das, Euer Heiligkeit? Sagte Euer Heiligkeit zwei Stunden? ...« Maestroianni warf einen Blick auf seine Uhr. »Entschuldigen Sie, Euer Heiligkeit. Hilfe von wem? ... Von den Hunden, sagten Sie, Euer Heiligkeit? ... Oh, ich verstehe. Den Hunden des Herrn. Domini canes. Die Dominikaner, die für das Angelicum verantwortlich sind. Euer Heiligkeit Sinn für Humor ist von der frischen Bergluft geschärft worden ...« Seine Eminenz brachte ein freudloses Lachen zustande. Aber den Falten um seinen Mund merkte Chin an, welche Anstrengungen ihn dieses Lachen kostete. »Ja, Euer Heiligkeit, wir haben die Faxnummer ... zwei Stunden ... Gewiss, Euer Heiligkeit ... Wir alle erwarten die Rückkehr Euer Heiligkeit... Danke, Euer Heiligkeit... Guten Heimflug.«

Der Kardinal legte den Hörer auf. Zorn und Frustration hatten seine Züge gefrieren lassen, und während er eine Zeit lang reglos dasaß, überlegte er sich eine möglichst schnelle und praktikable Methode den Anweisungen des Pontifex nachzukommen, bevor er sich wieder an die äußerst wichtige Aufgabe machen konnte diesen Brief zur Frage der Einheit aufzusetzen. Plötzlich, und vielleicht ein wenig widerwillig, kam Maestroianni zum Schluss, dass der Papst Recht hatte. Wenn diese Statue, diese - er warf einen Blick auf den Namen, den er auf den Notizblock gekritzelt hatte - dieses Noli me tangere von Bernini sich im Angelicum befand und dieses Angelicum Sitz der Dominikaner war, warum sollte man die ganze lächerliche Angelegenheit dann nicht ihnen überlassen?

Seine Eminenz betätigte die Wechselsprechanlage. »Monsignore. Machen Sie den Ordensgeneral der Dominikaner ausfindig. Holen Sie ihn sofort ans Telefon.«

Den Zorn etwas durch seinen Entschluss gemildert nahm Maestroianni den Entwurf seines Einheitsbriefs in die Hand und bemühte sich seine Konzentration wieder zu finden. Aber gerade als sich die perfekten Worte in seinem Kopf zu formen begannen, ließ Manuguerra das Wechselsprechgerät summen.

»Der Generalmagister ist aus, Eminenz.«

»Aus wohin?«

»Das war nicht genau festzustellen, Eminenz. Es ist Samstag...«

»Ja, Monsignore.« Die Stimme des Kardinals klang alles andere als geduldig. »Ich weiß, welcher Tag es ist.« Maestroianni hatte keinen Zweifel, dass derjenige, der im Angelicum Manuguerras Anruf entgegengenommen hatte, genau wusste, wo sich der Generalmagister aufhielt. In seinem gegenwärtigen Gemütszustand glaubte er gern, dass der gesamte Dominikanerorden wusste, wo Generalmagister Damien Slattery zu finden war; dass außer dem Kardinalstaatssekretär jeder auf der Welt wusste, wo Slattery sich herumtrieb.

Uer Kardinal beruhigte sich. Die Frage war, wie man diesen verschlagenen Iren heranschaffen könne ohne Zeit mit Pförtnern und Telefonisten zu verschwenden. Als er seine Gedanken erst emmal auf die Logistik des Problems eingestimmt hatte, dämmerte der Ausweg für eine Situation dieser Art wie der Morgen in ihm.

»Bringen Sie mir Pater Aldo Carnesecca. Hierher. Auf der Stelle. Er ist wahrscheinlich gerade ins Heilige Offizium unterwegs, selbst an einem Sonntagmorgen. Dann bestellen Sie in seinem Namen einen Wagen mit Fahrer, der in zehn Minuten unten am Haupteingang sein soll. Nun los, Monsignore! Sofort!« »Si, si, Eminenza! Subito! Subito!«

Chin bezweifelte, dass sich der Kardinal wieder seinem Diktat zuwenden würde, ehe er sich diese Störung ganz vom Hals geschafft hätte. Er sank in seinen Stuhl zurück um zu warten. In seiner privilegierten Position als persönlicher Stenograf des Staatssekretärs wusste der Koreaner, dass zwischen Seiner Eminenz und Seiner Heiligkeit längst die Messer gezückt waren. Während er Zeuge wurde, wie Seine Eminenz noch immer gegen die Aufregung ankämpfte, verzeichnete er einen Rundensieg für Seine Heiligkeit.

 

 

IV

Die Versuchungen, denen Pater Aldo Carnesecca ausgesetzt war, ließen sich wahrscheinlich nicht mit denen anderer Menschen vergleichen.

In den zwölf Jahren, seit der Kardinalstaatssekretär - damals noch Jean-Claude de Vincennes - ihn zu jener zweifachen Sichtung päpstlicher Unterlagen gebeten hatte, war Carnesecca zu dem Schluss gekommen, dass Vincennes höchstwahrscheinlich das Geheimnis dieses doppelt versiegelten, von zwei Päpsten als »persönlich und streng vertraulich« gekennzeichneten Umschlags ergründet hatte. Und Pater Carnesecca hatte genug Erfahrungen im Vatikan gesammelt um zu begreifen, dass für Männer wie Vincennes und seinen Nachfolger die Rache eine Mahlzeit war, die man am besten kalt genoss - aber irgendwann würde man sie servieren.

Dennoch wusste Carnesecca auch, dass die einzigartigen Kenntnisse und Erfahrungen, die er in so vielen Jahren als berufener Untergebener kultiviert hatte, ihren Nutzen für solche Männer wie Vincennes und seinen Nachfolger hatten, wie auch ihren Mutzen für den Heiligen Stuhl. Gut ausgebildete und erfahrene Untergebene waren eine Seltenheit. So konnte er viele Jahre lang zugleich nützlich sein und daneben auf seine letztendliche Belohnung hinarbeiten, bis plötzlich und ohne Vorankündigung der entscheidende Moment gekommen wäre. Bis dahin dürfte er mit einer gewissen Immunität rechnen.

Doch Pater Carnesecca blieb trotz allem vorsichtig. In seinem fortgeschrittenen Alter - über siebzig inzwischen, doch gesund und einigermaßen vital - war er das, was er immer gewesen war: Von ungeschmälerter Integrität, noch immer geschätzt von jenen, die für ihn als »vertrauenswürdige Männer« zählten, blieb er ein pflichttreuer Priester des ewigen Rom. Er war deshalb nicht in dem Sinne vorsichtig wie ein weltlicher Geheimagent; vielmehr in dem Sinne vorsichtig, wie es einem Priester zukam. Er achtete weniger auf die Gefahr in seinem Rücken als auf die Gefahr für seine unsterbliche Seele.

All das hatte dazu beigetragen, dass Carnesecca auf Kardinalstaatssekretär Maestroiannis unerwartete Vorladung an diesem Samstagmorgen wie immer reagiert hatte - prompt und ohne Überraschung oder gar Aufregung. Der Kardinal hatte ihm einige präzise Anweisungen erteilt, die keinen Widerspruch duldeten: Carnesecca sollte den dominikanischen Generalma-Sister Damien Slattery ausfindig machen, wo immer er sich auch aufhielt, und den Generalmagister unverzüglich mit dem Sekretariat telefonisch in Verbindung bringen. Da ihm keine weiteren ähnlich präzisen Anweisungen vorlagen, war Carnesecca heute Morgen versucht den dringenden Auftrag des Kardinals zum Vorwand für einen angenehmen Ausflug zu nehmen; es sich in dem Wagen, den der Kardinalstaatssekretär ihm bestellt hatte, einmal richtig gemütlich zu machen und sich zum offiziellen Sitz - dem Haupthaus, wie er in Rom genannt wurde - des besagten wie überhaupt jedes dominikanischen Generalmagisters fahren zu lassen: zum Kloster Santa Sabina an den Hängen des Aventin-Hügels im südwestlichen Teil der Stadt.

Das einzige Problem an einer so verführerischen Idee war die Gewissheit, dass Carnesecca den Pater Damien Slattery im Kloster Santa Sabina nicht antreffen würde. Denn der Kardinalstaatssekretär hatte völlig zu Recht angenommen, dass der ganze geistliche Orden der Dominikaner wusste, wo der Generalmagister zu finden war. Auch Aldo Carnesecca wusste es. Und angesichts der Tatsache, dass es Maestroianni eilig hatte, erklärte Vater Carnesecca mit einem leisen Seufzen des Bedauerns dem Fahrer den Weg zu einem kleinen Kellerlokal namens Springy's unweit des Pantheons.

 

Das Springy's gehörte nicht zu den Lokalen, die Carnesecca selbst frequentierte. Aber wenn man Damien Slattery so gut kannte wie er, lernte man das Springy's zwangsläufig kennen. Wie der Generalmagister Damien Slattery selbst war Harry Springy mit der Zeit zu einer lokalen Legende geworden. Der Australier war in den Siebzigerjahren nach Rom gekommen und hatte sich einer einzigen Aufgabe verschrieben. »Kerle brauchen ein anständiges Frühstück«, wie Harry immer sagte. Mit diesem Motto als seinem Kredo und Leitfaden bereitete Harry Frühstücksplatten mit Bergen von Spiegeleiern, knuspri-crem Speck, Schweinswürsten, weißem und schwarzem Presssack, Hühnernieren und -lebern, Stapeln von Toast mit Butter und Marmelade und Strömen von kräftigem schwarzen Tee zu um alles hinunterzuspülen.

Selbstverständlich gehörten zu den Kerlen, die im Laufe der Jahre zu Springys Stammgästen wurden, die gesamte englischsprachige Studenten- und Klerikergemeinschaft von Rom. Und unter diesen Stammgästen war Harrys liebster der Pater Damien Duncan Slattery. Wenn es überhaupt zwei Männer gab, die besser für eine lange und fruchtbare Freundschaft zueinander passten als Harry Springy und Damien Slattery, dann hatte Vater Carnesecca sie jedenfalls noch nicht kennen gelernt.

Pater Damien war ein Mann von außergewöhnlichem Appetit und entsprechenden Körpermaßen. Über zwei Meter groß und mit einem Lebendgewicht von deutlich über einhundertfünfzig Kilo gehörte der Generalmagister zu jenen großartigen Exemplaren prachtvoller Männlichkeit, die jeder Schneider und Herrenausstatter in seiner irischen Heimat liebend gern in Donegal-Tweed gekleidet hätte. Doch glücklicherweise, zumindest aus Carneseccas Sicht, hatte Damien Slattery sich für die cremefarbenen Roben des Dominikanerordens entschieden. In die schwungvollen Falten eines großzügig geschnittenen Gewandes gehüllt und mit seinen balkenartigen Armen, den spatenförmigen Händen, der ausladenden Brust und dem massigen Bauch, all das bekrönt von einem rosigen Gesicht und einem widerspenstigen weißen Schöpf, wirkte Slattery wie ein schwerfälliger Erzengel, den es unter die Sterblichen verschlagen hatte.

Im Laufe der Jahre hatte Carnesecca diesen Damien Slattery allerdings als den sanftmütigsten Menschen kennen gelernt, den er sich vorstellen konnte. Für sein Alter - etwa Mitte fünfzig, schätzte Carnesecca - ging, redete und trug Slattery seinen Rang als dominikanischer Generalmagister mit einer grandiosen Würde. Seine physische Erscheinung allein sicherte ihm Anerkennung und Respekt. Er brauchte keine Gewalt anzuwenden, er war selbst reine Gewalt. Er sah aus wie die Fleisch gewordene Autorität - wie ein wandelnder Berg.

Vater Slatterys Fähigkeiten als Rugbystürmer in seinen Schultagen - »Knochenbrecher« nannten ihn damals seine wohlwollenden Brüder - hatten seine Popularität und seine Legende ins Wunderbare gesteigert. Und auch in seinen Studien waren ihm die Erfolge nur so zugeflogen. Als sein Orden ihn für weitere Studien nach Oxford schickte, hatte Slattery sämtliche akademischen Ehren einstreichen können. Und er hatte in einer weiteren Hinsicht hinzugewonnen: seine Erfahrung im Umgang mit dämonischer Besessenheit. Wie er es Carnesecca gegenüber einmal ausgedrückt hatte, war ihm in diesen frühen Tagen seiner Priesterschaft »ein Durchbruch« als Exorzist gelungen. Er konnte sich zugute halten, dass er damals draußen in der Wohngegend von Woodstock einen ganzen Haushalt leer gefegt hatte. »Sie sehen also, Pater Aldo« - und dabei hatte Slattery mit dieser tiefen Baritonstimme gelacht, wie er es immer tat, wenn er Carnesecca von seiner Vergangenheit erzählte - »ich habe mehr zu bieten als nur ein hübsches Gesicht!«

Nach Oxford und weiteren fünfzehn Jahren daheim in Irland als Professor der Theologie und als lokaler Superior war Slattery zum Superior der dominikanischen Universität im Angelicum ernannt worden. Während Pater Slatterys frühen Tagen in Rom waren es vor allem die Italiener gewesen, die drauflos kicherten, wenn sie ihn das erste Mal sahen. Wie von Italienern nicht anders zu erwarten hatte ihre Fantasie angesichts seiner Leibesfülle Kapriolen geschlagen. Sehr bald aber hatten sie ihn mit aufrichtigem Staunen als »il nostro colosso« in ihre Herzen geschlossen. So überraschte es niemanden, auch wenn es nicht jedem gefiel, dass Damien Slatterys geistliche Brüder ihn 1987 einstimmig zum General seines Ordens gewählt hatten. Vater Slattery hatte die Dominikanerbrüder allerdings damit überrascht, dass er eine seltsame Bedingung stellte, ehe er die Wahl qnnahm. Während er bei Tage im Büro des Generalmagisters im Kloster Santa Sabina auf dem Aventin-Hügel arbeitete, wollte er doch nicht dort wohnen, wie es bisher üblich gewesen war. Er wollte seine Unterkunft im Rektorquartier des Angelicums beibehalten.

Bis 1987 war Aldo Carnesecca bereits einige Male flüchtig mit Pater Slattery zusammengetroffen. Um diese Zeit hatte auch der slawische Papst den Iren kennen gelernt und ihm einige heikle und beschwerliche Aufträge anvertraut. Pater Carnesecca kannte nicht alle Einzelheiten, aber er wusste, dass Slattery der persönliche Beichtvater und Theologe des Pontifex geworden war; das war kein Geheimnis. Er wusste, dass der Dominikaner einige Monate im Jahr in privater päpstlicher Mission verreiste; und er wusste, dass Slattery einige der unangenehmsten und gefährlichsten Aufträge für den Heiligen Vater seinen frühen Erfolgen als Exorzist zu verdanken hatte. Ihm war sogar zu Ohren gekommen, dass die Kardinalerzbischöfe von Turin und Mailand, den beiden europäischen Städten, die am intensivsten von rituellem Satanismus und dämonischer Besessenheit heimgesucht wurden, Pater Slattery als Fachmann in Sachen Exorzismus zurate gezogen hatten.

Im Laufe der Zeit, während Carnesecca immer wieder aus diesem oder jenem Grund mit Damien Slattery zusammenarbeitete, hatte er erkannt, dass es gewisse Dinge gab, die sich an diesem Mann nie änderten. Zunächst - was für Pater Carnesecca das Wichtigste war - hielt Damien Slattery unverrückbar test an seinem römisch-katholischen Glauben an Gott und an die Macht, die mit dem göttlichen Wesen einhergeht. Das war von entscheidender Bedeutung für seinen Erfolg in der anhaltenden Konfrontation mit dem Dämonischen. Die wenigsten wussten allerdings - und würden es von Carnesecca auch nicht erfahren -, dass er aus dem Grunde weiter im Rektorquartier des Angelicums wohnen wollte, weil er als Antidot gegen eine frühere dämonische Heimsuchung dieser Räumlichkeiten wirken wollte.

Die zweite unverrückbare Konstante an Damien Slattery war, dass er bis ins Mark ein Ire blieb. Sein Oxfordakzent schlug selten durch; und wenn es doch einmal geschah, wirkte Slattery ihm gern mit einem Ausbruch gälischer Schimpfwörter entgegen, in einem Akzent, als komme er geradewegs aus Donegal. Das Dritte, was sich an ihm nie ändern würde, war seine Hingabe an Harry Springy und sein Kellerlokal. Dort war er an jedem Samstagmorgen zu finden, an seinem Stammtisch ein Stück abseits der anderen Gäste, umgeben von Platten, die Harry Springy für seinen Lieblingsgast persönlich liebevoll angerichtet hatte.

 

»Ah!« Slattery hob eine Hand. »Sie sind's, Pater Aldo.« Damien legte mit einem ausladenden Schwung seiner weiten Ärmel und mit würdevoller Gelassenheit Messer und Gabel weg und bedeutete dem Priester gegenüber seiner massigen Erscheinung Platz zu nehmen. »Sie nehmen doch ein kleines Frühstück, ja?«

Die Ungeduld seines Vorgesetzten im Nacken, lehnte Carnesecca die Einladung dankend ab. Er überbrachte dem Generalmagister die dringende Bitte des Kardinals Seine Eminenz im Sekretariat anzurufen. »Sofort, Pater General. Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit, die mit dem Heiligen Vater zu tun hat. Aber das ist alles, was Seine Eminenz mir verraten wollte.«

Das genügte dem Dominikaner. Er ließ den Rest seines Frühstücks in den Ofen stellen, damit es warm und frisch blieb. Dann begab er sich zu Springys einzigem Telefon, das unweit der geschäftig klappernden Küche zu finden war. Pater Damien freute sich nie auf ein Gespräch mit Cosimo Maestroianni. Die beiden Männer trafen sich oft unter förmlichen Umständen und kannten einander als entgegengesetzte Seiten der gegenwärtigen Schaukel römischer Machtpolitik. Doch selbst in diesem Dschungel des Parteiengeistes gab es etwas viel Tieferes und Persönlicheres als politische Loyalitäten, das diese beiden Männer voneinander trennte. Damien wusste es. Und der Kardinal wusste es auch.

Pater Slattery wählte die Nummer des Büros des Kardinalstaatssekretärs. Taco Manuguerra stellte ihn sofort zu Seiner Eminenz durch. Weder Kardinal noch Dominikaner verschwendeten Zeit mit mehr als den nötigsten Höflichkeiten und Grüßen. Doch wie immer blieben beide ihren förmlichen Pflichten im System treu.

»Seine Heiligkeit ist in Sainte-Baume, Generalmagister. In der Höhle der heiligen Maria Magdalena. Er leitet die dortigen Feierlichkeiten. Er hat mir eben telefonisch mitgeteilt, dass wir ihm ein Foto einer gewissen Bernini-Statue der Maria Magdalena zufaxen sollen. Noli me längere heißt sie.«

»Ja, Euer Eminenz. Und wie können wir Seiner Heiligkeit behilflich sein? Euer Eminenz weiß, dass wir bereits ...«

»Indem Sie ein Foto der Statue besorgen und besagtes Foto an den Heiligen Vater in Sainte-Baume faxen, Pater General. Innerhalb einer Stunde bitte.«

Für Slattery war der gereizte Unterton in der Stimme des Kardinals eine ausreichende Entschuldigung dafür, dass man ihn beim Frühstück gestört hatte. Dennoch hatte er nicht die geringste Ahnung, warum der Kardinal sich mit dieser Bitte an ihn wandte. »Aber natürlich sind wir bereit sofort zu handeln Eminenz. Aber eine Fotografie der ...«

Seine Eminenz schien das Problem des Generalmagisters nicht zu verstehen. »Ihnen steht unser offizieller Fotograf zur Verfügung. Mein Sekretär hat ihn bereits unterrichtet. Aber iCr, bestehe darauf, Pater General. Seine Heiligkeit besteht darauf Erledigen Sie es sofort.«

»Aber natürlich, Eminenz. Natürlich. Die einzige Schwierigkeit ...«

»Welche Schwierigkeit, Pater General? Dafür benötigen Sie nicht die Zustimmung des Generalkapitels.« Slattery runzelte die Stirn über diese Bemerkung.

Wie die gesamte Führung des Dominikanerordens war auch das Generalkapitel dafür bekannt, mit dem Tempo einer lahmen Schildkröte zu handeln. »Selbstverständlich!« Vater Damien erhob seine tiefe Stimme über ein plötzliches Tellerklirren. »Sofort! Nur habe ich noch nie etwas von dieser - wie hieß sie doch gleich ? - Noli ...«

»Berninis Noli me tangere, Pater General. Erinnern Sie sich an die Evangelienszene? Christus und die Magdalena im Garten? Nach der Wiederauferstehung? Noli me tangere. >Rühr mich nicht an< - Christi Worte. Wissen Sie noch? Die Statue befindet sich im Cortile des geistlichen Hauses, dem Sie als Superior vorstehen, Generalmagister. Oder besuchen Sie den Cortile nicht gelegentlich?«

Die zunehmende Ungehaltenheit des Kardinals war nicht zu überhören.

Doch Slattery war nun vollkommen durcheinander. Wie viele geistliche Häuser in Rom verfügte das Angelicum über einen schönen Innenhof; einen friedlichen Garten mit einem hübschen Brunnen in der Mitte, wo Pater Damien tatsächlich oft sein Brevier rezitierte. Aber in seinen vielen Jahren im Angelicum hatte er dort noch nie eine Bernini-Statue gesehen. Und das sagte er Maestroianni auch.

»Unmöglich, Pater General«, beharrte der Sekretär. »Der Heilige Vater hat sie selbst dort gesehen.«

In ihrer gemeinsamen Verwirrung - eines der wenigen Gefühle, die sie je teilten - entglitt Slattery und Maestroianni ihre förmliche Gesprächsführung.

»Der Heilige Vater hat sie dort gesehen? Wann?«

»In den späten Vierzigerjahren, sagte er.«

»In den späten Vierzigern ...«

»Sie haben richtig gehört. Aber Statuen laufen nicht davon. Eine Bernini-Statue schmilzt nicht weg.«

»Das kann ich Ihnen versichern. Aber jetzt ist sie nicht mehr hier.«

Nach einer kurzen Pause wurde die Stimme des Kardinalstaatssekretärs etwas weicher. »Hören Sie bitte, Pater General. Unter uns und der heiligen Maria Magdalena, Sie haben keine Vorstellung davon, wie dieser lächerliche Auftrag die offiziellen Geschäfte am heutigen Morgen durcheinander gebracht hat. Diese Statue muss irgendwo sein. Sie können sie doch sicher finden.«

»Hat Seine Heiligkeit erwähnt, warum er diese Fotografie so dringend benötigt?«

»Offensichtlich zur Inspiration.« Eine Spur von Sarkasmus stahl sich in die Stimme des Kardinals. »Der Heilige Vater schätzt den Ausdruck frommer Hingabe, den Bernini dem Gesicht Maria Magdalenas verliehen hat. Es ist eine Frage der Inspiration für seine Predigt heute Abend in Sainte-Baume.«

»Ich verstehe.« Damien verstand es wirklich. Und er machte seinerseits eine Pause, während man überlegte, wie er das Problem angehen könne.

»Jemand muss wissen, wo die Statue ist«, drängte der Kardinal.

»Können Sie nicht die älteren Mönche fragen, die im Angelicum wohnen?«

»Nicht am Wochenende. Der Lehrkörper ist aus. Alle, die sonst dort wohnen, sind unterwegs - sie besuchen ihre Verwandten in Campania. Außer mir selbst ist nur ein blinder, greiser Mönch zugegen, der in seinem Bett schläft; außerdem ein Besucher aus unserer Mission in Tahiti, der auf eine Bananendiät eingeschworen zu sein scheint; eine Gruppe chinesischer Schwestern, die ein Stück auf Mandarin in unserem Cortile proben; und ein junger Amerikaner ...

Einen Augenblick, Eminenz! Ich hab's. Ich glaube, ich habe den richtigen Mann für uns. Der junge amerikanische Priester. Er kommt jedes Jahr zum zweiten Semester her. Er lehrt dogmatische Theologie. Ein ruhiger Bursche, der als Hausarchivar fungiert. Er ist an den Wochenenden immer zu Hause; und erst gestern hat er mich noch nach den Aufzeichnungen gefragt, die bis ins Jahr 1945 zurückreichen.«

Maestroianni stürzte sich sofort auf diese Möglichkeit. »Das ist der richtige Mann. Rufen Sie ihn über die zweite Leitung an. Ich warte so lange.«

Slattery zog ein Gesicht in Richtung Harry Springy, der sich gerade aus der Küche an ihm vorbeischob. »Ich muss gestehen, dass ich überhaupt nicht aus dem Angelicum anrufe.«

»Aha.« Der Kardinal gab seiner Neugier nach. »Ich habe mich schon über den ganzen Krach gewundert, den ich im Hintergrund höre.«

»Nur ein plötzlicher Ansturm von Gemeindemitgliedern, Eminenz.« Slattery verschanzte sich sofort wieder hinter einem förmlichen Gesprächston. »Ich nehme an, Pater Carnesecca verfügt über alle nötigen Informationen? Die Telefonnummer des Fotografen und die Faxnummer in Sainte-Baume?«

»Das liegt ihm alles vor, Pater General.« In seiner offensicht Erleichterung - und indem er, wie so oft, den Erfolg für selbstverständlich hielt - schüttete der Kardinalsekretär einen ganzen Schwall von Befehlen über Slattery. »Wenn Ihr Mann die Statue aufgefunden hat, soll er mich anrufen. So wie es heute früh zugeht, rechne ich damit, dass ich dann noch hier sein werde. Ich werde Monsignore Manuguerra anweisen ihn gleich durchzustellen. Und wenn er dem Heiligen Vater die Fotografie zugefaxt hat, soll er mir das Original herschaffen. Wie heißt ihr Mann?«7

»Gladstone, Eminenz. Pater Christian Thomas Gladstone.«

 

Kaum dass sein Wagen das Angelicum erreicht hatte, stieg Carnesecca auch schon die ausgetretenen weißen Marmorstufen zur Priorei hinauf. Drinnen am Schaltbrett telefonierte der Pförtner gerade, dem Plauderton nach zu urteilen mit seiner Freundin. Und nach einigen Minuten qualvollen Wartens und mehreren Versuchen die Situation höflich zu bereinigen ging der sonst so sanfte und wenig autoritäre Pater Carnesecca direkter zur Sache. Er legte eine Hand auf die Gabel und brach das Telefonat des jungen Mannes kurzerhand ab.

»Ich bin in päpstlichem Auftrag hier. Ich bin von Generalmagister Slattery geschickt worden; und vom Staatssekretär, dem Hochehrwürdigen Kardinal Cosimo Maestroianni. Hier ist mein Ausweis. Rufen Sie diese Nummer an um sich zu vergewissern. Aber danach werden Sie für den Rest des Tages zu tun haben.« Der Pförtner war zu verblüfft um über den Abbruch seines Gesprächs wütend zu sein. »Si, Reverendo. Um was geht es?«

»Ich bin hier um Pater Christian Gladstone zu sehen. Wo kann ich ihn finden?«

»Es tut mir Leid, Pater.« Das Gesicht des armen Burschen hatte sich inzwischen aschgrau verfärbt. »Ich kann den Professor nicht anrufen. Er ist gerade auf dem Dach um seine Gebete zu sprechen. Da oben gibt's kein Haustelefon. Es tut mir Leid, Reverèndo ...«

»Wo ist der Aufzug?«

In den Zügen des jungen Mannes zeichnete sich Erleichterung ab, als er aufsprang. Die »per favore« und »s'accomodi« sprudelten nur so aus ihm hervor, als er Carnesecca zum Aufzug führte. Als er das Dach erreicht hatte, erblickte Carnesecca sofort die schwarz gewandete, große und hagere Gestalt, die sich gegen die Kulisse der Stadt abzeichnete. Der Mann ging langsam hin und her, den Kopf übers Gebetbuch gebeugt, und seine Lippen bewegten sich tonlos. Der Anblick eines jungen Priesters, der seine vorgeschriebenen Gebete sprach, war heutzutage eine Seltenheit. Carnesecca bedauerte es, ihn stören zu müssen. Der Kleriker hielt inne und wandte sich um; er hatte Carneseccas Anwesenheit gespürt. Pater Aldo fand sich von einem Paar ruhiger blauer Augen betrachtet. Das Gesicht sah noch jung aus, zeigte aber bereits einige deutliche Falten um den Mund. Doch offenbar hatte der Amerikaner auf eine unausgesprochene Frage eine zufrieden stellende Antwort gefunden, denn er schlug das Gebetbuch zu und trat mit ausgestreckter Hand vor. »Ich bin Christian Gladstone, Reverendo«, sagte er in passablem Italienisch, wobei ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel umspielte.

»Carnesecca.« Der Handschlag zwischen den beiden Klerikern war fest und aufrichtig. »Aldo Carnesecca aus dem Sekretariat. Ich habe eben mit dem Generalmeister im ...«

Ein breites Lächeln erhellte Gladstones Gesicht. »Im Springy's! Willkommen, Pater. Jeder, der sowohl Freund wie Manns genug ist um den Ordensgeneral am Samstagmorgen im Springy's zu stören, verdient es, mit offenen Armen empfangen zu werden!«

Obwohl er an solch lockere Umgangsformen nicht gewöhnt antwortete Carnesecca ebenso freundlich, als er mit knappen Worten den ihm anvertrauten Auftrag erläuterte. Doch wieder war ihm der junge Amerikaner einen Schritt voraus. Der Generalmagister hatte ihn telefonisch unterrichtet, erklärte er.

Während sie zur Dachtür gingen und dann mit dem Aufzug hinunterfuhren, wiederholte Gladstone, was Carnesecca bereits von Pater Slattery über die fehlende Bernini-Statue und über die seltsame Bitte des Pontifex an den Kardinalstaatssekretär, ihm eine Fotografie der Statue nach Baume faxen zu lassen, erfahren hatte. Er finde es interessant, gestand Gladstone, dass der Heilige Vater aus dem Anblick einer Bernini-Statue - oder überhaupt eines Kunstwerks - Inspiration beziehe. »Ich dachte, er sei eher mystisch veranlagt«, sagte er. »Aber ich hätte einigen seiner Schriften durchaus entnehmen können, dass er über zutiefst humanistische Empfindungen verfügt.«

Carnesecca nahm diese Meinung über den polnischen Papst mit einigem Interesse zur Kenntnis, unterbrach aber Christians Ausführungen nicht.

»Wie auch immer«, fuhr der Amerikaner fort, »nachdem Generalmagister Slattery mir erklärt hatte, worin das Problem bestand, habe ich einige der Aufzeichnungen des Hauses überprüft um die ich ihn gestern gebeten habe. Ich glaube, wir können der Bitte des Heiligen Vaters um eine Fotografie der Noli me tangere leicht nachkommen. Wenn Sie bitte den Fotografen des Kardinals verständigen, können wir uns an die Arbeit machen. Wenn wir Seiner Heiligkeit das Foto zugefaxt haben, soll lch dem Kardinal das Original offenbar ins Sekretariat bringen. Wenn Sie mich fragen, Pater Carnesecca, ist dies das Seltsamste daran. Wären Sie dafür nicht eher der geeignete Mann, was meinen Sie? Schließlich haben Sie viel mehr mit dem Sekretariat zu schaffen.«

Das Interesse des Kardinals an allen, die auch nur im Entferntesten mit Damien Slattery zu tun hatten, überraschte Carnesecca nicht. Aber weder der Zeitpunkt noch die Umstände waren dazu geeignet, sich mit seinem neuen Bekannten in solche politischen Untiefen zu wagen. Alles hatte seine Zeit. Wenn die Angelegenheit mit der Bernini-Statue erst erledigt war, würde er sich mit diesem interessanten jungen Mann vielleicht noch einmal zu einem Gedankenaustausch treffen.

Wieder im Erdgeschoss ging Carnesecca, der den Zeitdruck und das dringende Bedürfnis des Heiligen Vaters ständig im Hinterkopf hatte, gleich ans Telefon. »Wo soll der Fotograf auf uns warten?« Er wandte sich Gladstone zu. »Wo haben Sie die Nolj me tangere gefunden?«

»Wenn die Aufzeichnungen korrekt sind, ist sie weggeschafft worden - können Sie sich vorstellen, dass eine Bernini-Statue einfach so weggeschafft wird, Pater? -, und zwar in eine Kellerkapelle im Haupthaus. Im Kloster Santa Sabina auf dem Aventin-Hügel.«

 

 

V

»GLADSTONE. Christian Thomas.« Kardinalstaatssekretär Maestroianni las den Titel der Akte, die vor ihm lag. Dank seiner professionellen Entschlossenheit und seiner hohen Konzentrationsfähigkeit hatte er den straffen Zeitplan dieses Samstags schließlich doch bewältigt.

Er sprach nicht gern mit Generalmagister Damien Slattery. Es missfiel ihm besonders, wie der Dominikaner in Gesprächen immer das Wort »wir« gebrauchte. Aber immerhin hatte die Fron, sich mit dem Oberhaupt der Dominikaner unterhalten zu müssen, ein positives Ergebnis gehabt. Sein junger Protegé, dieser Pater Gladstone, hatte sich als so gut erwiesen, wie der Generalmagister behauptete. Er hatte ziemlich bald angerufen und ihm mitgeteilt, dass die Bernini-Statue aufgefunden worden und er mit Carnesecca unterwegs sei, um die Fotografie aufnehmen und nach Baume zu faxen.

Falls nichts dazwischen kam, rechnete der Kardinal damit, dass Gladstone ihm das Original binnen einer Stunde ins Sekretariat bringen würde.

Nachdem diese Sache auf den Weg gebracht war, hatte sich Maestroiannis Sorge um einen möglichen Aufschub seines überaus wichtigen Briefes, der die Einheit der Kirche betraf, wieder in den Vordergrund gedrängt. Der letzte Entwurf des Briefes lag für eine letzte Korrektur sicher in seinen Händen. Wenn das Gespräch mit diesem jungen amerikanischen Kleriker erst hinter ihm lag - es dürfte nicht mehr als ein paar Minuten dauern -, hatte er in der Frage der Einheit noch ein Telefonat zu tätigen. Dann konnte er sich endlich in seine Wohngemächer zurückziehen.

Maestroiannis Interesse an Christian Gladstone war in erster Linie der Form halber begründet, doch nicht ausschließlich. Der Kardinal hatte immer ein gewisses Interesse an den jungen Aspiranten in der kirchlichen Hierarchie. Schließlich bewältigen sie einen Großteil der Arbeit; und unvermeidlich drängten sich ihre Namen für mögliche Beförderungen auf. Weil er selbst schon seit fünfzig Jahren der vatikanischen Bürokrane angehörte, wusste der Kardinalstaatssekretär, wie man das kommende Kontingent im Blick hielt, so wie er auch wusste, wie er Gleichrangige und Vorgesetzte innerhalb des Systems zu beobachten hatte. Und weil dies so war, hatte er Taco Manuguerra, während er selbst seine Arbeit mit Chin beendete, aus der Personalabteilung die Akte über diesen amerikanischen Priester und Professor holen lassen.

»Gladstone. Christian Thomas«, wiederholte der Kardinal den Namen bei sich, als er das Dossier aufschlug. Wieder so ein Anglosassone um dessen Sündenregister er sich kümmern musste. Mit geübtem Blick überflog Seine Eminenz die Papiere, die die klerikale Karriere des Amerikaners umrissen.

Neununddreißig Jahre alt. Zwölf Jahre kirchliche Karriere, wenn man die Studienjahre hinzuzählte. Frühe Universitätsarbeit in Europa. Vorbereitung zum Priesteramt im Navarra-Seminar in Spanien. Abschlüsse mit Auszeichnung in Theologie und Philosophie. Priesterweihe am 24. März 1984. Pater Gladstones klerikale Heimat war die Diözese von New Orleans, unter der Zuständigkeit von Erzbischof Kardinal John Jay O'Cleary. Während der zweiten Hälfte des akademischen Jahres fungierte er vornehmlich als beamteter Professor für Theologie am Hauptseminar von New Orleans.

Wie Slattery heute Morgen bereits erwähnt hatte, verbrachte er gegenwärtig die andere Hälfte des Jahres, indem er in Rom im Angelicum unterrichtete, während er an seinem theologischen Doktorat arbeitete. Obwohl er kein Dominikaner war, schien Generalmagister Slattery einen starken Einfluss auf Gladstones Doktorarbeit zu nehmen. Kein Wunder, dachte Maestroianni säuerlich, als er die Notiz las, die darauf hindeutete, dass Gladstones Professur im Angelicum von seiner Familie mit finanziert wurde. Slattery ließ wirklich nichts aus.

»Semplice«, bemerkte der Kardinal bei sich. »Der Mann ist ein Einfaltspinsel. Unpolitisch, nicht auf die Karriere bedacht, kein Anhänger irgendeiner Partei in Rom oder Amerika. Ein Arbeitstier. Eine Drohne.«

Dennoch konnte es nicht schaden, wenn er sich noch einige Minuten Gladstones Familiendaten widmete. Die Beziehungen sagen oft mehr über den Nutzen eines Menschen aus als seine persönlichen Daten. Der Familienwohnsitz war offenbar ein gewisses Windswept House in Galveston, Texas. Der Name hatte etwas Romantisches; als stamme er aus einem jener englischen Romane, die die Amerikaner so schätzten. Vater: verschieden. Mutter: Signora Francesca Gladstone. Die Daten, die dem Namen folgten, waren spärlich. Aber was vorlag - in Zusammenhang mit den fünf Millionen Dollar Zuwendung in Frankreich und der vollständigen Finanzierung einer Professur im Angelicum durch diese nette Dame - ließ auf wahre Reichtümer schließen. Altes Geld, das immer noch etwas abwarf. Eine Schwester: Patricia Gladstone. Nichts Wichtiges über sie. Unverheiratet. Offenbar eine recht angesehene Künstlerin. Lebte im Familienwohnsitz in Galveston.

Ein Bruder, Paul Thomas Gladstone, war für Maestroianni schon interessanter. Er hatte selbst einige Seminararbeit geleistet, war aber offenbar nach Harvard gewechselt. Hauptwohnsitz jetzt in London. Paul galt als Experte für internationale Beziehungen und war zurzeit bei der renommierten transnationalen Anwaltskanzlei Crowther, Benthoek, Gish, Jen & Ekeus angestellt.

Welch ein glückliches Zusammentreffen. Cyrus Benthoeks Firma.

Maestroianni schätzte Cyrus Benthoek seit Jahren als außerordentlich wertvollen Verbündeten in seinen Bemühungen seine Kirche an die vorderste Front der neuen Weltordnung zu führen. Und weil seine Arbeit am heutigen Nachmittag ohnehin einen Anruf bei Benthoek erforderte, wollte er sich eine Notiz in seinen Kalender machen über diesen Paul Thomas Gladstone Erkundigungen einzuziehen. Es war nur ein Detail, aber es würde ihn nichts kosten, gründlich zu sein. Wie Kardinal Vincennes oft betont hatte, kam es auf die Details an.

Maestroianni wandte sich wieder dem Dossier zu und überfl0„ eilig die wenigen übrigen Dokumente. Seine Gründlichkeit wurde durch die wichtigste Information überhaupt belohnt. Dje Gladstones rangierten im Vatikan offensichtlich als »privilegiati di Stato«. Das bedeutete, dass die Gladstones in die ständige Kartei der für den Vatikan bedeutsamen Personen im Sekretariat aufgenommen worden waren; und dass über die Familie Gladstone eine eigene Akte in den offiziellen Sekretariatsarchiven vorlag.

Verständlicherweise wurden in Christian Gladstones persönlicher Akte wenige Details genannt. Aber die praktische Bedeutung des Vermerks »privilegiati di Stato« war für einen Mann mit der Erfahrung des Staatssekretärs sofort ersichtlich. Knapp zusammengefasst lief die Verwicklung der Familie Gladstone in die Finanzen des Heiligen Stuhles darauf hinaus, dass der Heilige Stuhl ihr im Gegenzug alle finanziellen Dienste leistete, die ihm zu Gebote standen. Daher gehörte das nominelle Oberhaupt der Familie Gladstone sicher zu dem kleinen Kreis - insgesamt wohl nicht mehr als fünfzig oder sechzig Personen -, denen Bankdienste von der hauseigenen Bank des Vatikan eingeräumt wurden, die der Heilige Stuhl in den Vierzigerjahren eingerichtet hatte. Außerdem gehörten sie zu den wenigen, denen bei besonderen Anlässen ein vatikanischer Reisepass ausgestellt werden konnte.

Maestroianni schloss die Akte und erhob sich von seinem Stuhl. Während er ziellos auf den Petersplatz hinausblickte, grübelte er mit einem Interesse über Christian Gladstone nach, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Einerseits hatte er einen Bruder, der - in welchem Maße, würde er noch herausfinden - mit dem überaus weitsichtigen, ja visionären Cyrus Benthoek zu tun hatte. Und andererseits schien hinter ihm eine alteingesessene und angesehene katholische Familie zu stehen, die sich tadelloser Referenzen durch den Heiligen Stuhl rühmen dürfte.

Christian Gladstone selbst schien nicht viel zu zählen. Persönlich war er vermutlich ein Millionenerbe. Als Priester machte er den Eindruck eines schlichten Gemüts, allem Anschein nach fromm bis zur Zurückgebliebenheit. Er las immer noch die alte lateinische Messe, machte aber nicht viel Aufhebens darum. Vielleicht würde er sich doch noch als interessanter Typ herausstellen. Für Kardinal Maestroianni war »interessant« ein Synonym für »nützlich«. Solche frommen, doch mit wertvollen Beziehungen gesegneten Arbeitstiere hatten sich - so ungeschliffen, formbar und »unschuldig« sie auch waren - mehr als einmal als gutes Material zur Unterfütterung der Brücke zwischen der erschöpften alten Ordnung der Dinge und dem progressiven Neuen herausgestellt.

Nein, schloss er, mit diesem sanftmütigen jungen Priester würde er keine Überraschungen erleben. Bestenfalls mochte er zu jenen Anglosassone gehören, die einem gerade in die Augen blickten. Sein zeremonielles Auftreten würde wohl ein unbeholfener Abklatsch römischer Formen sein, für die Amerikaner nicht geboren sind und an die sie sich nie gewöhnen können. Zum Glück aber würde er weder lange Reden halten noch fromme Verweise auf Gott, die Kirche oder die Heiligen in seine Worte einflechten.

 

Taco Manuguerras leises Klopfen an der Tür enthob den Kardinal aller weiteren Spekulationen. »Pater Christian Gladstone, Eminenz.«

Maestroianni nahm seinen Besucher in Augenschein. Abgesehen davon, dass er eine aus gutem Stoff geschneiderte Soutane trug, war an seinem Aufzug, ganz wie der Kardinal erwartet hatte, nichts Auffälliges. Aber an diesem Amerikaner wirkte die Soutane ebenso natürlich wie bei einem Römer. In einer gleichermaßen automatischen wie autoritären Bewegung - betont, doch in keiner Weise übertrieben - streckte Seine Eminenz die Hand mit dem Bischofsring aus.

»Eminenz.« Gladstone fiel auf ein Knie um den Ring leicht zu küssen. Im Aufstehen sagte er: »Verzeihen Sie die Verspätung. Wir haben diese Abzüge so schnell fertig gestellt, wie wir konnten.«

Mit seinem besten Besucherlächeln nahm Maestroianni den Umschlag entgegen, den der Amerikaner ihm hinhielt. Das Italienisch des jungen Mannes war erträglich. Sein zeremonielles Gebaren hatte nichts Unbeholfenes. Wie er Titel gebrauchte, klang weder verlegen noch zögerlich. Gladstone übertraf die Erwartungen des Kardinals um die eine oder andere Nuance.

»Wir können Ihnen gar nicht genug danken, Reverendo.« Der Kardinalstaatssekretär schüttelte seinem Besucher langsam, bedächtig die Hand. Starke Hände, weder kalt wie ein Fisch noch schlaff wie Spagetti. Keine feuchten Handflächen. Kein Anzeichen von Nervosität. Maestroianni gönnte Christian noch ein Lächeln und deutete auf einen Stuhl. »Nehmen Sie Platz, Pater. Bitte setzen Sie sich doch einen Moment.« Seine Eminenz nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz. Er zog die Abzüge aus dem Umschlag, den Pater Gladstone ihm überreicht hatte, und betrachtete sie flüchtig. Es waren drei verschiedene Ansichten der Noli me tangere. Wie gewissenhaft von diesem Burschen. Ein guter, verlässlicher Helfer. Einer, der tat, was man ihm sagt, und sogar noch etwas mehr. »Ich nehme an, Sie haben diese Aufnahmen auch schon nach Sainte-Baume geschickt, Pater?« »Vor einer halben Stunde, Euer Eminenz.« »Ich verstehe. Ende gut, alles gut, wie?« Der Kardinal legte die Fotos weg. »Icn habe vor einiger Zeit erfahren, Pater Gladstone, dass Sie einen Bruder haben, der für einen meiner alten Freunde arbeitet. Cyrus Benthoek.«

»Ja, Eminenz.« Gladstone sah dem Kardinalstaatssekretär unverwandt in die Augen, wie es für einen Angelsachsen typisch war. »Paul ist begeistert von seiner Arbeit. Er hat versprochen mich in Rom zu besuchen, solange ich noch hier bin.«

»Solange Sie noch hier sind, Pater? Haben Sie denn vor uns zu verlassen?«

»Das ist noch nicht entschieden, Euer Eminenz. Jedenfalls nicht sofort. Ich habe noch viel zu tun, bis meine Doktorarbeit abgeschlossen ist. Aber ich habe festgestellt, dass ich dem Wesen nach kein Römer bin.«

»Ja. Ganz richtig.« Eine weitere Vermutung, die sich bestätigte. Und doch hatte dieser Anglosassone etwas Besonderes an sich. Etwas, das doch nicht ins Schema passte. Es hing weniger damit zusammen, was Gladstone tat oder sagte, als damit, was er war. Es stimmte schon, er hatte kein mediterranes Feuer in sich. Das wäre zu viel verlangt. Aber der Kardinalstaatssekretär beneidete diesen jungen Mann fast um seine ruhige, selbstsichere Reserviertheit. Sein Auftreten unterschied sich von dem Verhalten der meisten Angelsachsen, das sie eigens für Rom einstudiert hatten. Er war ein überraschend eleganter Bursche.

»Sagen Sie, Pater.« Maestroianni langte wieder nach den Fotografien, wandte den Blick aber nicht von Gladstones Gesicht ab. »Wo haben Sie die Noli me tangere gefunden?«

»In einer Kellerkapelle, Eminenz. Im dominikanischen Haupthaus.«

»Nun« - der Sekretär stand hinter seinem Schreibtisch auf - »wir können Ihnen gar nicht genug danken. Wenn Ihr Bruder Rom besucht, würde ich mich sehr freuen seine Bekanntschaft 2li machen, Pater.«

Gladstone folgte dem Beispiel des Kardinals und erhob sich.

»Danke, Eminenz.«

»Interessant«, murmelte der Kardinal bei sich, als Christian Gladstone die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Eine interessante Sippschaft.« Natürlich war er ein Mann ohne Leidenschaften. Und zu unpolitisch um es in Rom zu etwas zu bringen. Aber er hörte aufmerksam zu. Aus diesem einen Gespräch ließ sich kaum schließen, ob er fantasielos oder nur zurückhaltend war. Geschliffener als die meisten seiner Art; sogar in einem unerwarteten Maße kultiviert, könnte man sagen. Aber wie geschliffen auch immer, wie die meisten Angelsachsen war er manipulierbar.

Dass Gladstone für Maestroianni dennoch interessant blieb, lag fast ausschließlich an der Tatsache, dass der Priester andererseits unzweifelhaft über weit reichende familiäre Beziehungen verfügte. Er stammte aus einer Sippe, die noch immer tief im Sumpf des alten päpstlichen Katholizismus steckte. Was im Blute gezeugt wird, kommt im Fleische zum Vorschein, sagen die Engländer. Doch Gladstones Bruder war mit Cyrus Benthoeks Unternehmen verbunden, einem Unternehmen, das keinerlei Nutzen für den Heiligen Stuhl hatte, soweit das einem arglosen Betrachter ersichtlich war. Wer wusste es schon? Möglicherweise würde sich herausstellen, dass der Pontifex mit seiner Bitte um Fotografien der Bernini-Statue Maestroianni sogar einen kleinen, wenn auch ungewollten Gefallen getan hatte.

 

Nun aber war es hohe Zeit, den Brief zur Einheit der Kirche zum Abschluss zu bringen. Seine Eminenz wandte sich seinem abhörsicheren Telefon zu und wählte eine Nummer in Belgien. Als er Kardinal Piet Svensens vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, hellte sich sein Gesicht auf. Hier hatte er es wenigstens mit einer bekannten Größe zu tun, mit einem Mann von unzweifelhaftem Urteilsvermögen. Kardinal Svengen war ein alter und vertrauenswürdiger Weggefährte. Obwohl er sich aus offiziellen Ämtern zurückgezogen hatte, so wie Maestroianni es selbst bald tun würde, blieb Svensen eine unangefochtene Führungsgestalt und ein Experte für die Ökumene und die charismatische Bewegung. Und weil er in Brüssel lebte, verfügte er über einige eindrucksvolle Beziehungen zu den höheren Ebenen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Svensen war kein Freund des Papstes und hatte sich vehement gegen die Wahl dieses Pontifex ausgesprochen. In privaten Diskussionsrunden während des Konklaves hatte er die anderen wahlberechtigten Kardinäle gewarnt, dass ein Mann wie dieser Pole die drängendsten Probleme der Kirche nicht lösen könne. Auf Maestroiannis Liste gab es daher niemanden, der besser als der belgische Kardinal verstehen konnte, wie wichtig es war, dass die Bischöfe behutsam, doch bestimmt auf ein fruchtbareres Verständnis ihrer episkopalen Einheit mit dem Heiligen Vater hingelenkt wurden.

»Ein Volltreffer, Eminenz!«, tönte Svensen vor Begeisterung, nachdem Maestroianni ihm seinen Entwurf des Briefes vorgelesen hatte. »Ein Volltreffer! Ein wahres Meisterstück. Und Ihr Feingefühl die Bischöfe zum Thema der Einheit indirekt zu befragen, nämlich durch ihr diplomatisches Personal - durch die Nuntien und dergleichen - ist genial. Das bringt den Bischöfen garantiert zu Bewusstsein, dass ihre Macht auf den Heiligen Geist zurückgeht!«

»Grazie, Eminenza.« Maestroianni legte den Brief auf den Schreibtisch. »Aber nur der Herr im Himmel weiß, was ich heute Morgen durchgemacht habe um diesen Entwurf fertig zu stellen.« Ohne dass der Belgier ihn lang dazu auffordern musste, gab der Kardinalstaatssekretär eine farbige Schilderung der Suche nach der Bernini-Statue zum Besten, die dem Pontifex so wichtig gewesen war.

»Gottverdummelte!« Mit dieser Verwünschung fasste Svensen sein Urteil über die ganze Sache zusammen. Seiner Ansicht nach war es für diesen Papst nicht nur typisch, dass er solche Aufregung verursacht, sondern dass er sich überhaupt zu einem päpstlichen Ausflug nach Sainte-Baume entschlossen hatte. »Diese Höhle ist nichts als ein frommer Schwindel, Eminenz. Ich würde dem Heiligen Vater gern einige meiner engen Vertrauten präsentieren - angesehene Gelehrte, wie ich hinzufügen darf -, die überzeugende Beweise für die Auffassung haben, dass Maria Magdalena nie einen Fuß außerhalb Palästinas gesetzt hat. Und wir wären alle besser daran, Eminenz, wenn unser Pontifex nie einen Fuß außerhalb Krakaus gesetzt hätte! Fromme Meditationen, auch wenn sie ein Papst praktiziert, werden die Probleme der Kirche nicht lösen.«

Der Kardinalstaatssekretär war ganz seiner Meinung. »Um ehrlich zu sein«, gestand er, »hat mich der ganze Vorfall mit dem Pontifex heute Morgen nur in meiner persönlichen Überzeugung bestärkt, dass wir nur zwei Alternativen haben. Entwede ändert der Papst seine Einstellung und seine Politik, was den« sakrosankten Primat des Papstamtes angeht. Oder ...« Der Kardinal holte einmal tief und theatralisch Luft. »Oder wir verfolgen die Idee weiter, die wir in früheren Gesprächen schon angedacht haben. Die Idee, den Pontifex abzulösen.«

Svensen gegenüber waren dramatische Gesten nicht vonnöten. »Unbedingt, Eminenz. Umso mehr als unsere Freunde in Straßburg und hier in Brüssel nervös werden. Sie sind der Überzeugung, dass die ständigen Anspielungen des Papstes - sein Beharren darauf, dass es kein Europa ohne den Glauben als sein Fundament geben könne - ihrer tiefen Sorge um die ökonomische und finanzielle Stärke als Grundgerüst eines neuen Europa zuwiderlaufen. Und weil ich seit unserem letzten Gespräch über die ganze Angelegenheit angestrengt nachgedacht habe, möchte ich gern einen kleinen Vorschlag machen.«

»Nur zu, Eminenz.«

»Der Brief, dessen Inhalt Sie mir eben freundlicherweise anvertraut haben, trifft genau ins Schwarze. In Anbetracht Ihrer gekonnten Formulierungen habe ich alle Hoffnung, dass er ein für uns erfreuliches Echo auslösen wird. Aber selbst wenn, wie ziehen wir einen Nutzen aus der Situation? Angenommen die Bischöfe sind unzufrieden mit ihrer gegenwärtigen Beziehung zum Heiligen Stuhl - und ich habe keine Zweifel, dass der Brief Euer Eminenz ihnen diese Unzufriedenheit vor Augen führen wird. Dann werden wir dieses Ergebnis immer noch in einen konkreten Plan umsetzen müssen. Das Konzept, das ich im Sinn habe, ist ganz einfach. Die Bischöfe selbst werden das Instrument sein, das wir brauchen um uns den gegenwärtigen Pontifex vom Hals zu schaffen.

Wie Sie sicher wissen, wollen die europäischen Bischöfe unbedingt Teil der Wirtschaftsgemeinschaft werden. Sie sind sich darüber im Klaren, dass die EG im Verhältnis zur lokalen, nationalen Politik im Laufe der Jahre nur größer werden und an Bedeutung zunehmen wird. Und es ist wichtig, dass sie, wie es eine populäre Floskel ausdrückt, politisch korrekt und sozial akzeptabel sind; oder sich zumindest dafür halten - was auf dasselbe hinausläuft. Wichtiger ist die Tatsache, dass die Bischöfe ihr Stück vom Kuchen wollen. Sie brauchen ihre Hypotheken ebenso wie große Unternehmen. Sie brauchen langfristige, niedrig verzinste Darlehen. Sie brauchen geografische Ungleichgewichte für ihre Bauprojekte. Ihre Schulen und Universitäten benötigen öffentliche Gelder. Sie brauchen Berater für ihre Portefeuilles. Sie brauchen Autoritäten, die einmal ein Auge zudrücken, wenn Kleriker ihre kleinen Fehler machen.«

»Also, Euer Eminenz?« Maestroianni warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Belgier war während seiner langen Karriere dafür bekannt geworden, dass er seine eigenen Ideen auf eine gewisse weitschweifig dramatische Art anzukündigen pflegte. »Gedulden Sie sich noch einen Moment, Eminenz«, fuhr Svensen fort. »Bedenken Sie zunächst, was für uns arbeitet. Auf der einen Seite werden die Bischöfe mit ein wenig Hilfestellung einsehen, welchen Nutzen es für die Kirche hat, wenn sie mit der EG zusammenarbeiten. Schließlich ist sie die kommende Kraft in Europa. All diese kleinen Gefälligkeiten und Zugeständnisse, die die Bischöfe benötigen, hängen vom politischen Wohlwollen der EG-Staaten ab. Auf der anderen Seite haben wir den Pontifex. Er ist in dreierlei Hinsicht beharrlich und konsequent.

Zunächst beharrt er auf seinem undemokratischen petrinischen Anspruch auf den Primat der päpstlichen Autorität. Zweitens besteht er auf der Bedeutung der >Bande der Einheit^ wie er es nennt, zwischen ihm selbst und den Bischöfen. Er wird sehr weit gehen, ehe er einen offenen Bruch mit ihnen zulässt oder zugibt. Und drittens ist das neue Europa in den Augen dieses Papstes so wertvoll, dass er kaum einen Absatz spricht ohne sich darauf zu beziehen.

Wenn wir nun Euer Eminenz großartige Idee die Bischöfe zu befragen einen Schritt weiterführen - wenn wir die europäischen Bischöfe tatsächlich auf eine gemeinsame Linie einschwören können, die unserer Einstellung zu Europa entspricht; wenn wir ihr Verständnis dafür vertiefen können, wie sie von einer weiteren Annäherung an die EG und ihre Ziele profitieren können - dann könnte ich mir vorstellen, dass die Bischöfe selbst auf eine andere Haltung des Heiligen Stuhles drängeng werden. Doch sollte sich der Heilige Stuhl weiter so hartnäckig zeigen - und das ist der entscheidende Punkt, Eminenz -, halte ich es für möglich, dass die Bischöfe selbst zu jeder … äh, Veränderung entschlossen sein werden, die wir für ratsam halten.«

Maestroianni reagierte im ersten Moment skeptisch. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Aber die Bischöfe >auf eine gemeinsame Linie einzuschwören<, wie Sie es ausgedrückt haben, ist in etwa dasselbe, als wollte man Katzen und Mäuse zu einer friedlichen Koexistenz bewegen. Und es wäre ein kompliziertes Unterfangen, Euer Eminenz. Es wäre erforderlich, die Bedürfnisse jedes Bischofs genau einzuschätzen und ebenso, welche Einstellung jeder einzelne zu Fragen hat, die noch weit heikler sind als die der Einheit.«

»Einverstanden.« Svensen kannte die Probleme. »Es würde nicht nur bedeuten die Situation jedes Bischofs einzuschätzen. Es würde bedeuten einen Weg in die EG zu finden, der zugleich den praktischeren Interessen der Bischöfe gerecht würde, um es einmal so auszudrücken. Es wäre eine Beziehung zwischen den Bischöfen und der EG erforderlich, die wechselseitige Zugeständnisse auf einem zivilisierten Niveau garantieren könnte.« Maestroianni musste über das plötzliche Taktgefühl des Belgiers lächeln. »Praktische Interessen wie diese Hypotheken und niedrig verzinsten Darlehen, die Euer Eminenz vorhin erwähnt haben.«

»Ganz genau. Ich stimme Euer Eminenz aber zu. Es wäre ein kompliziertes Unterfangen. Und es könnte uns misslingen. Allerdings muss ich zugeben, dass wir in diesem Fall nicht schlimmer dastünden als jetzt. Wenn uns aber ein so großes Wunder gelingen würde wie das, die Bischöfe auf eine wünschenswerte gemeinsame Linie< einzuschwören - dann hätten wir das Instrument, das wir brauchen.

Wenn es Ihrem Brief, Eminenz, tatsächlich gelingen sollte, die Bischöfe zu einem Ausdruck ihrer Unzufriedenheit zu bewegen, was die Frage ihrer Einheit mit dem gegenwärtigen Papst angeht, dann könnte die Einschwörung der Bischöfe auf eine gemeinsame Linie< sofort eine ganz neue Brisanz in die Angelegenheit bringen. Dann wären wir auf dem denkbar sichersten Boden um uns ein für alle Mal dieses Pontifex zu entledigen.« »Ja. Ich verstehe.« Maestroianni konnte sich allmählich mit Svensens Sichtweise anfreunden. »Es könnte funktionieren. Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Amerikaner mit den Europäern Hand in Hand arbeiten. Mit einhundertachtzig eingesessenen Bischöfen, ganz zu schweigen von den Weihbischöfen und allen anderen, fallen die Amerikaner stark ins Gewicht. Und sie stehen für einen beträchtlichen Teil des Geldes, das der Vatikan einnimmt. Ohne sie stünde die ganze Sache auf wackeligen Füßen.«

»Einverstanden. Was immer unseren amerikanischen Brüdern theologisch, kulturell und traditionell fehlen mag, wird von ihrer finanziellen Rückendeckung und, was wir nicht vergessen sollten, dem Status ihrer Vereinigten Staaten als Supermacht mehr als wettgemacht. Diplomatisch und geopolitisch sind sie ein bedeutsamer Faktor.«

»Es könnte funktionieren«, lenkte der Kardinalstaatssekretär schließlich ein. Aber er blieb trotzdem vorsichtig. »Geben Sie mir Zeit mich mit einigen Kollegen über diese Idee zu beraten. Vielleicht können wir uns während der alljährlichen Robert-Schuman-Gedächtnisfeiern nächsten Monat in Straßburg noch etwas darüber unterhalten. Werden Sie dort sein, Eminenz?« »Ich freue mich darauf, mein Freund.«

 

Als Maestroianni den Hörer auflegte, gingen ihm keineswegs etwa Worte wie »die Bischöfe zu offener Meuterei anstacheln« durch den Sinn. Die Bischöfe waren ohnehin schon auf diesem \Veg, wenn auch auf ihre zänkische und uneinige Art. Im Gegenteil, es kam ihm sehr angemessen vor, dass eine so revolutionäre Idee - ein konkreter Plan die Bischöfe zu einem Instrument zu formen, das eine neue, nahtlose Einheit der Welt voranbrachte - während der alljährlichen Feierlichkeiten zu Ehren des großen Robert Schuman und seiner Leistungen diskutiert werden sollte.

Schuman war einer der ersten Europäer gewesen, die sich ein geeintes Westeuropa vorzustellen vermochten. Schon in den Vierzigerjahren hatte er als Frankreichs Außenminister damit begonnen, die ersten Brücken zwischen Frankreich und Deutschland zu schlagen, den Schlüsselstaaten jeder künftigen Einheit. Sein Gedächtnis wurde verständlicherweise von vielen in Ehren gehalten. Maestroiannis Ansicht nach nahm Robert Schuman, wie es der Römer gern ausdrückte, keinen geringeren Rang als den eines »Gründervaters« ein.

Inzwischen völlig eingenommen für Svensens grandioser Idee die Bischöfe »auf eine gemeinsame Linie einzuschwören« begann der Kardinal seine Papiere zusammenzusuchen um möglichst bald in seine ruhige Wohnung an der Via Aurelia aufbrechen zu können. Dort würde er ungestört nachdenken und arbeiten können. Keine Telefone, die schrillten. Keine unerwarteten Gesprächstermine. Keine Albernheiten wie päpstliche Frömmigkeit und fehlende Statuen. Zum letzten Mal an diesem Tag rief Maestroianni den Monsignore Manuguerra herein und s°rgte dafür, dass sein Einheitsbrief mit der diplomatischen Post verschickt wurde. Und als er schließlich aufstand, fiel sein Blick auf Christian Gladstones Personalakte. Die hatte er fast vergessen.

" gab das Dossier an Manuguerra zurück. »Bringen Sie das in dle Personalabteilung zurück, Monsignore. Und noch etwas: Holen Sie die Akte über die Familie Gladstone aus dem Sekretariatsarchiv. Sie soll Montag früh als Erstes auf meinem Schreibtisch liegen.«

 

 

VI

Christian Gladstone war gleichermaßen amüsiert wie verblüfft von seinem kuriosen Gespräch mit dem Staatssekretär Kardinal Maestroianni.

Während er in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf schüttelte, trat er durch das Portal des Sekretariats in die grelle Mittagssonne Roms, die inzwischen hoch über dem Hof der Damasus-Kapelle stand. Pater Carnesecca wartete mit dem Chauffeur neben dem Wagen.

»Diese Römer!« Gladstone machte es sich neben Carnesecca auf dem Rücksitz bequem. »Ich weiß ja, dass Sie im Sekretariat arbeiten, Reverendo.« Christian lächelte seinen Begleiter verlegen an. »Aber ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich behaupte, dass man nach einem Händedruck Seiner Eminenz versucht ist seine Finger durchzuzählen, ob auch noch alle vorhanden sind.«

»Das nimmt Ihnen niemand übel«, erwiderte Carnesecca gelassen.

Während ihr Wagen sich vorsichtig durch das Gewühl der sonnabendlichen Besucher auf dem Petersplatz schob, rollte in entgegengesetzter Richtung ein Mercedes-Benz an ihnen vorbei, der offensichtlich zum Sekretariat unterwegs war. »Offenbar waren Sie, Reverendo, der letzte Termin auf dem Sekretariatskalender am heutigen Morgen. Das ist sein Wagen. Er bringt ihn sicherlich nach Hause. Bis sieben Uhr früh am Montag wird Seiine Eminenz außer für den Sicherheitsdienst für niemanden erreichbar sein.«

Christian warf einen Blick auf die Limousine. »Ich nehme an, ich sollte mich geehrt fühlen, dass eine so hoch stehende Persönlichkeit des Vatikans für mich ihren Zeitplan umgestoßen hat. Aber um die Wahrheit zu sagen hat das Gespräch mit dem Kardinalstaatssekretär mich hungrig gemacht. Hätten Sie vielleicht Lust statt gleich ins Angelicum zurückzufahren mit mir zu Mittag zu essen?«

Carnesecca, überrascht von dem beinahe bübischen Grinsen in Gladstones Gesicht, freute sich über die Einladung. Und ihm fiel auch gleich ein passendes Lokal ein. »Casa Maggi heißt es. Mailändische Küche. Das wird Sie die Zumutungen durch uns Römer ein wenig vergessen lassen. Und von dort bis zum Angelicum ist es zu Fuß gar nicht weit.«

Zu dem Zeitpunkt, als die beiden Kleriker in der angenehmen Kühle der Casa Maggi Platz nahmen, hatten sie die Förmlichkeiten des offiziellen Rom schon hinter sich gelassen und plauderten über die turbulenten Ereignisse am heutigen Tage, die sie im Dienste des Heiligen Vaters zusammengeführt hatten. Das steife Reverendo machte bald einem vertraulicheren Padre Platz und die Vornamen traten an die Stelle der Familiennamen. Jetzt waren die beiden einfach nur noch Aldo und Christian.

Christian war fasziniert eine solche lebende Enzyklopädie von Kenntnissen über den Vatikan wie Vater Aldo kennen zu lernen und wurde für sein Interesse belohnt. Carnesecca stellte sich als meisterhafter Chronist früherer Päpste und ihrer Politik heraus. Seine Schilderungen einiger der berühmtesten Besucher des Papstpalastes erfüllten vertraute Namen mit neuem Leben. ^nd manche seiner Geschichten über schauderhafte klerikale Bockschüsse des Sekretariats trieben dem jungen Mann vor Lachen Tränen in die Augen.

Pater Aldo wiederum war nicht weniger fasziniert etwas über den Hintergrund eines so simpätico jungen Priesters zu erfahren. Anders als die meisten Amerikaner, die er kennen gelernt hatte, war Christian wie durchdrungen von der Geschichte seiner Familie. Es schien, als sei diese Familie, ähnlich wie auch Carnesecca selbst, stets in kirchliche Wirren verstrickt gewesen. Jedenfalls war dies der Teil der Familiengeschichte, der ihn immer am meisten interessiert hatte.

Die ursprünglichen Gladstones waren Engländer, erklärte Christian seinem Gegenüber. Oder, um genauer zu sein, es waren normannische Sachsen gewesen, die sich im vierzehnten Jahrhundert in Cornwall niedergelassen hatten. Sie hatten im Laufe der Jahrhunderte in die Sippen der Trevelyans, Pencanibers und Pollocks eingeheiratet. Aber sie vergaßen nie ihre normannisch-sächsische Herkunft. Und vor allem vergaßen sie nie, dass sie römische Katholiken waren. Das Herrschaftshaus der Gladstones hatte in Launceston in Cornwall gestanden. Sie waren Erbeigentümer ausgedehnter Ländereien, Fischgründe und Zinnminen in Camborne. Sie waren präreformatorische Katholiken, deren religiöse Überzeugungen stark von der keltischen Tradition in Irland beeinflusst wurden.

Als das sechzehnte Jahrhundert anbrach, weigerten sich die Gladstones, wie nicht anders zu erwarten, König Heinrich VIII. als geistliches Oberhaupt der Kirche anzuerkennen. Fest verwurzelt in ihrem römischen Katholizismus - und getreu dem Wahlspruch der Gladstones: »Kein Pardon!« - harrten sie auf ihrem Herrschaftssitz, den Ländereien in Launceston und den Zinnminen von Camborne aus. Dank der räumlichen Entfernung zwischen Cornwall und London und der unerschütterlichen Loyalität ihrer Freunde, Arbeiter und Pächter – durchweg Katholiken im sehr katholischen Cornwall - überstanden sie die Zeit bis ins späte siebzehnte Jahrhundert weitgehend unbeschadet. Allein das nackte Überleben war, angesichts des rigorosen Vorgehens Elisabeths I. gegen die Katholiken, keine geringe Leistung. Schließlich blieben ihnen nur noch finstere Alternativen. Sie konnten sich in ihr Herrschaftshaus zurückziehen, wie es viele alteingesessene Katholiken taten, düsteren, nostalgischen Sehnsüchten nachhängen und darauf warten, dass die Schinderkarren kämen und man sie zu Londons Galgen in Tyburn fahren und dort aufhängen würde. Oder sie konnten fliehen.

»Kein Pardon!« bedeutete, dass sie zu keinen Kompromissen bereit waren. Doch sie waren bereit den Kampf ums Überleben aufzunehmen und so rafften sie ihr Geld und ihre Waffen zusammen, bestiegen eines ihrer Handelsschiffe und segelten in die Neue Welt, nach Amerika. 1668 landeten sie in St. Augustine, Florida. Bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert hatten sich die Familienmitglieder in alle Himmelsrichtungen verstreut. Ein kleiner Kern siedelte sich unter Führung von Paul Thomas Gladstone mit der ersten Gruppe amerikanischer Kolonisten auf Galveston Island an.

Paul Thomas Gladstone hatte aus seinem Anteil am Familienerbe bereits nennenswert, wenn nicht fürstlich Kapital geschlagen, indem er in einige profitable Weinberge im Süden Frankreichs investierte.

Nachdem er sich in Galveston niedergelassen hatte, vergrößerte er sein Vermögen Jahr für Jahr, indem er einen Weinimport aufbaute. Christians liebster Vorfahr war indes sein Großvater - der auch Paul Thomas hieß. »Der >alte Glad<, wie alle lrin nannten«, erzählte Christian dem Pater Aldo mit offenkundigem Vergnügen. »So nennt man ihn auch heute noch. Er lst noch immer eine Legende in Galveston. Er hat ein Tagebuch geführt, etwas, was ihm sehr lag. Während wir auf Windswept House aufwuchsen, haben meine Schwester, mein Bruder - der auch Paul Thomas heißt - und ich an stürmischen Tagen Stunden in der Bibliothek zugebracht und einander aus diesen Tagebüchern vorgelesen.«

»Windswept House?« Carnesecca genoss diese entspannte kleine Führung durch die englisch-amerikanische Geschichte.

Christian lachte. »Das ist der Name des Hauses, das der alte Glad gebaut hat. Es ist mehr ein Schloss als ein Haus, würde ich sagen. So ganz nach dem Geschmack der Menschen von Galveston Island. Es ist ein wirklich Ehrfurcht gebietender alter Bau. Sechs Geschosse hoch. An allen Wänden Porträts von Familienmitgliedern. Ein Raum ist sogar der großen Halle im ursprünglichen Herrschaftshaus in Launceston nachempfunden und es gibt einen mit Sparrenwerk ausgestatteten Speisesaal. Und über das Ganze erhebt sich ein kreisrunder Turm mit einer wundervollen Kapelle, wo das Sakrament verwahrt wird. Es ist das neue Herrschaftshaus der Gladstones, könnte man wohl sagen. Jeder findet, >Windswept House< sei ein romantischer Name. Aber er war nicht romantisch gemeint. Er hat eine ganz andere Bedeutung, die aus den ganz und gar nicht romantischen Zeiten des päpstlichen Rom herrührt.«

Die Tagebücher seines Lieblingsvorfahren, die Christian immer schon mehr als alle anderen fasziniert hatten, behandelten die Jahre ab 1870. In diesem Jahr war der alte Glad siebenunddreißig Jahre alt, unverheiratet und längst vielfacher Millionär. Ebenfalls in diesem Jahr wurde der Mann, den der alte Glad in seinen Aufzeichnungen als Vikar Christi auf Erden bezeichnete, nämlich Papst Pius IX., all seiner Besitztümer in Italien beraubt und von den italienischen Nationalisten unter der Führung von Garibaldi und Graf Cavour praktisch im päpstlichen Palast eingesperrt.

Diese schockierenden Neuigkeiten und das Gerücht von einer international organisierten Kampagne zur finanziellen Unter-5tützung eines plötzlich isolierten und verarmten Papsttums erreichten Galveston im Jahre 1871. Binnen kürzester Zeit brachte Paul Gladstone Kreditbriefe im Wert von einer Million US-Dollar zusammen, besorgte sich ein persönliches Empfehlungsschreiben vom Erzbischof von New Orleans und brach auf nach Rom, wo er am Ostersonntag 1872 eintraf.

Zu behaupten, dass der alte Glad im Vatikan Pius' IX. willkommen gewesen sei, wäre eine krasse Untertreibung. Der Papst ernannte seinen amerikanischen Retter zu einem Ritter des Heiligen Grabes, übertrug ihm und seiner Familie das lebenslange Privileg einer Privatkapelle in ihrem Heim, wo das heilige Sakrament verwahrt werden sollte, und überreichte ihm ein besonderes Reliquienstück vom wahren Kreuz für den Altarstein in ebendieser Kapelle. Pius begrüßte außerdem eine für alle Zeiten gültige Verbindung zwischen dem Papsttum und dem Oberhaupt der Familie Gladstone, wer immer das in Zukunft sein würde. Darüber hinaus sollte es eine ständige »Gladstone-Karte« in der Kartei der für den Vatikan bedeutsamen Personen im Staatssekretariat geben. Kurz, die Gladstones sollten auf Dauer den Status von privilegiati de Stato erhalten, womit sie sich zu allen finanziellen Diensten bereit erklärten, die sie dem Heiligen Stuhl gegenüber leisten konnten, und im Gegenzug vom Heiligen Stuhl jegliche vergleichbare Leistung zugesichert bekamen.

Der Papst gewährte Paul Thomas zwei ausgiebige Privataudien-Zen und führte ihn persönlich zu einer Besichtigung durch den "atikan, darunter in einen der privatesten und geheimnisvollsten Räume. Der Turm der Winde wurde er genannt - oder auch das Zimmer des Meridians. Er war von einem Papst des Sechzehnten Jahrhunderts mitten in den vatikanischen Gärten als astronomisches Observatorium erbaut worden. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte man das Observatorium verlegt. Während des Aufruhrs in Rom in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte der Pontifex hier aus Sicherheitsgründen das heilige Sakrament verwahrt. Seine Schilderung dieser Räumlichkeit gehörte zu den lebhaftesten Einträgen im Tagebuch des alten Glad. Er beschrieb die Fresken an den Wänden, die Sonnenuhr auf dem Boden, das Windrad, das konische Dach, das unablässige Flüstern der acht Winde. Dieser Ort wirkte auf ihn wie ein Symbol der Zeit und Ewigkeit; denn Gott war im Sakrament zugegen. Aber er lenkte seine Gedanken auch auf die Flüchtigkeit der Zeit. Denn so wie der Turm von seinen unablässig flüsternden Winden umtost wurde, so wurde die Kirche in jenen Tagen von den rauen Winden der Verfolgung und des Hasses fortgerissen. Noch an Ort und Stelle, Seite an Seite mit dem Heiligen Vater, beschloss der alte Glad eine Nachbildung ebendieses Turms als seine Privatkapelle zu bauen, wo das heilige Sakrament auf ewige Zeiten verwahrt werden sollte. Und er würde ein angemessenes Haus bauen, damit die Kapelle hoch über ihnen sei, damit jeder Einwohner von Galveston zu ihr emporblicken könne in dem Wissen, dass Gott bei ihnen sei. Seine Kapelle sollte Galvestons Turm der Winde sein. Und sein Haus das windumtoste Haus, das »Windswept House«.

»Also war Windswept House immer ein Bindeglied für Sie.« Carnesecca verfolgte Christians Geschichte mit zunehmendem Interesse. »Ein Bindeglied zu Rom. Zum Vatiken. Zum Papsttum.«

»So ist es.« Christian nickte. »Und natürlich auch zum alten Glad. Wann immer ich nach Windswept House komme, lese ich in dieser Nachbildung des Turms der Winde die Messe.« Aufgewachsen und erzogen in der römisch-katholischen Kirche, die das Zweite Vatikanische Konzil des »guten Papstes« so jn Mitleidenschaft gezogen hatte, war Christian der Ansicht, dass vor allem zwei Umstände sein Überleben als römischer Katholik gesichert hatten, zwei Umstände, die er und seine Familie beide der hellseherischen Voraussicht des alten Glad verdankten: das Vermögen und der päpstliche Katholizismus der Gladstones. Die Finanzen der Familie, für die der alte Paul Thomas die Grundlage geschaffen hatte, standen auf derart soliden Fundamenten, dass es sich nur wenige - innerhalb und außerhalb der Kirche - leisten konnten, die Gladstones zu ignorieren. Das Familienvermögen war ständig angewachsen, so wie altes Geld eben anwächst. Unaufhörlich.

Doch im selben Maße war Christians Dasein als überzeugter römischer Katholik von der Entschlossenheit seiner Mutter Cessi geprägt worden. Francesca lautete ihr Geburtsname, nach der Frau des alten Glad. Aber ebenso wie ihr Vermögen ging auch Cessis Charakter direkt auf Paul Thomas zurück. Ja, sie war so durch und durch eine Gladstone, dass sie nach dem unerwartet frühen Tod ihres Mannes wieder ihren Mädchennamen für sich und ihre Kinder angenommen hatte.

»Sie ist von Kopf bis Fuß eine gläubige römische Katholikin.« Christians Zuneigung zu Cessi war seinem warmen Ton deutlich anzumerken. »Es ist ihr Werk, dass ich heute an dieselben Wahrheiten glaube und dieselbe Religion ausübe, die ich von ihr gelernt habe.«

Während Cessis drei Kinder aufwuchsen, wurde die Kirche in allen Diözesen der Vereinigten Staaten überschwemmt von dem, was sie als »neuerungssüchtige Anpassung« bezeichnete. Ein grundlegender Wandel gedieh wie ein ungutes Pflänzchen unter den hegenden und pflegenden Händen von selbst ernannten »liturgischen Experten« und »katechetischen Lehrern«.

Unter diesen Umständen - und solange es ihr angesichts der neuen Anforderungen der modernen Technik an die Erziehung sinnvoll erschien - hatte Cessi ihre Kinder zu Hause unterrichtet. Als diese Möglichkeit nicht mehr praktikabel war, hatte sie dafür gesorgt, dass die Ordensbrüder und -Schwestern in den Schulen, in die sie ihre beiden Jungen und deren Schwester Tricia schickte, sich ausnahmslos darüber im Klaren waren, dass Widerstand gegen die Wünsche Francesca Gladstones oder gar offene Kritik ihre großzügigen finanziellen Zuwendungen gefährden würden.

Wenn es um religiöse Praxis und Erziehung ging, lief es ähnlich. Private Religionsstunden traten an die Stelle des anstößigen »katechetischen Unterrichts«, der in der Kirche der Stadt erteilt wurde. So weit wie möglich mied die Familie die Kirchen der Gegend, die Cessi von unkatholischem Zeremoniell beeinflusst sah; stattdessen besuchten sie private Messen im Turm der Winde des alten Glad.

Gegen 1970 aber waren traditionelle Priester - Priester, von denen Cessi, wie sie oft betont hatte, eine »gültige und authentische römische Messe« erwarten dürfte - immer seltener geworden und schwer zu finden. Sie war deshalb über die Maßen erfreut, als eine Gruppe von sechzig römisch-katholischen Familien aus Galveston und vom Festland mit der Idee an sie herantrat, eine neue Gemeinde zu gründen. Mit Cessis finanziellem Hintergrund und ihren eigenen Beiträgen, ganz abgesehen von den dauerhaften Privilegien der Gladstones in Rom, sollte es machbar sein, sich ökonomisch und kanonisch von der lokalen Diözese unabhängig zu machen. Die Sache wurde auf der Stelle beschlossen. In Danbury wurde eine alte Kapelle gefunden und den Methodisten, denen sie bisher gehört hatte, abgekauft. Ab nun hieß sie Kapelle des Erzengels Michael. Und weil man sich nicht darauf verlassen konnte, dass ein Priester der Diözese oder der Bischof eine gültige Messe lasen, nahmen je mit Erzbischof Marcel Lefebvre in der Schweiz Kontakt auf und arrangierten es, dass ihre Kapelle in dessen Bruderschaft jes heiligen Pius X. aufgenommen wurde. Aber nicht einmal Lefebvres Organisation war in der Lage auf lange Sicht einen Priester für die Kapelle abzustellen.

Das Problem löste sich allerdings von selbst, als die neu gegründete Gemeinde von Danbury Pater Angelo Gutmacher fand.

»Pater Angelo.« Christian sann über den Namen nach wie über eine lieb gewonnene Erinnerung. »Er war ein Gottesgeschenk an uns, ein eigentümlicher und wundervoller Mann. Menschlich gesehen war er allein auf der Welt. Als kleiner Junge war er das einzige Mitglied seiner Familie gewesen, das einen nächtlichen Brandanschlag auf ihr Haus in Leipzig überlebte. Er trägt immer noch die Narben dieses schrecklichen Feuers im Gesicht und in der Seele. Er konnte den ostdeutschen Kommunisten entkommen und hat bei Verwandten in Westdeutschland Zuflucht gefunden. Später trat er in ein Seminar ein, das noch in intaktem Zustand war, und reifte zu einem Exemplar einer heutzutage äußerst seltenen Spezies heran - einem orthodoxen, doch nicht aufrührerischen Priester.

Als er in die Michaelskapelle in Danbury kam, war Lefebvres Organisation bereits auf ihn aufmerksam geworden. Das ist so seine Art. Ohne dass er es selbst je beabsichtigt, werden die Menschen auf ihn aufmerksam.«

Es hatte Gutmacher nicht viel Zeit gekostet, den Respekt seiner kleinen Gemeinde in Danbury zu gewinnen - und ebenso ihre Zuneigung. Ohne je seine Orthodoxie preiszugeben stellte er sich als weise genug heraus um über allen Kontroversen zu stehen, die die Kirche erschütterten. Und er schien freundlich genug um auch die heftigsten Wogen in seiner Gemeinde in Uanbury zu glätten. So gewann er auch den Respekt und die Zuneigung aller Gladstones. Er wurde ihr aller Priester, Beichtvater und Freund. Er las oft die Messe in der Turmkapelle auf Windswept House. Er stand Cessi bei der Erziehung ihrer drei Kinder sanft und verlässlich zur Seite. Für Cessi selbst wurde er zu einem hoch geschätzten persönlichen Freund und Berater. Und für Christian wurde er ein besonderes Vorbild und sein Mentor.

Unter der rauen Kirchenpolitik, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil folgte, konnte eine so himmelschreiend orthodoxe Einrichtung wie die Kapelle des Erzengels Michael nicht ohne einschlägige Scherereien davonkommen. Die örtliche Kirchenverwaltung wertete es als einen »diözesanen Skandal«, dass eine der angesehensten Familien des südwestlichen Texas in Gestalt Francesca Gladstones die Michaelskapelle offen förderte und damit ihr Misstrauen gegenüber dem offiziell gebilligten Zeremoniell der Kirche offen kundtat. Die lokale Diözese bat sogar den Kardinalerzbischof von New Orleans um Unterstützung, denn die Gladstones genossen dort nach wie vor großes Ansehen.

Aber als eine Auseinandersetzung zwischen der Herrin auf Windswept House und dem Kardinalerzbischof von New Orleans drohte, kam Seine Eminenz zu dem Schluss, dass es am klügsten sei, die Angelegenheit seinem Generalvikar zu überlassen. Und der Generalvikar - angesichts Cessi Gladstones brillanter und wohl begründeter Verteidigung des Wertes und der Rechtmäßigkeit der traditionellen römischen Messe, der finanziellen Unterstützung, die die Gladstones Seiner Eminenz nach wie vor zukommen ließen, und des Status, den die Gladstones nach wie vor im Vatikan genossen - kam zu dem Schluss, dass es am klügsten sei, sich mit so viel Anstand wie gerade noch möglich von diesem heiklen Schlachtfeld zurückzuziehen-Francesca Gladstone hatte triumphiert und sich von den Anfeindungen nicht im Mindesten einschüchtern lassen.

»Und eine Folge all dessen, Pater Aldo ...« Christian bat den Kellner mit einem Wink um die Rechnung. »Eine Folge all dessen ist, wie ich gestehen muss, dass ich mich einem Mann wie Seiner Eminenz Kardinal Maestroianni nur mit Vorbehalten nähere.«

Ganz selbstverständlich - so selbstverständlich wie alles zwischen ihnen geworden war - wandte sich das Gespräch zwischen Christian Gladstone und Aldo Carnesecca wieder dem Rom der Neunzigerjahre zu - einem Rom, das mindestens ebenso antikatholisch und antipäpstlich eingestellt war wie jenes Rom, das der alte Glad in seinen Tagebüchern geschildert hatte.

»Offen gesagt«, gestand Christian, als sie ihren letzten Cappuccino ausgetrunken hatten und gemächlichen Schrittes zum Angelicum aufbrachen, »weiß ich nicht recht, was ich von Kirchenleuten wie Seiner Eminenz halten soll. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich will's auch gar nicht wissen. Ich habe nichts Priesterliches an ihm festgestellt. Nichts Aufrichtiges, Gelassenes. Er hat eine Art mit einem zu reden ohne wirklich etwas mitzuteilen.«

Trotz der Ernsthaftigkeit - und der Genauigkeit -, mit der dieser Amerikaner einen für die Kirche so bedeutsamen Mann beschrieb, musste Carnesecca lächeln. »Für einen Mann, der nicht recht weiß, klingt ihr Urteil aber sehr entschieden, Padre.« »Ich nehme an, Sie haben Recht.« Der Amerikaner nickte. »Wem versuche ich mit meiner Offenheit eigentlich etwas vorzumachen? Ich kann Ihnen versichern, dass mein kleiner Besuch beim Kardinalstaatssekretär nicht lang gedauert hat. Aber am meisten beunruhigt hat mich, dass Seiner Eminenz offenbar nicht die kleinste meiner Bewegungen entging.«

Christian ging in Gedanken noch einmal sein kurzes Gespräch mit Maestroianni durch. Ihm war der gleichgültige Blick des Kardinals auf die Fotos der Bernini-Statue aufgefallen. Und sein offenkundiges Interesse, dass Christian über seinen Bruder Paul mit Cyrus Benthoek in Verbindung stand. Gladstone hätte jede Summe darauf gewettet, dass die offenherzige Einladung Seiner Eminenz mehr mit Paul als mit ihm selbst zu tun hatte. »Ich kam mir vor wie eine Probe unter einem Mikroskop. Seine Eminenz schien sich so sehr für den Schnitt meiner Soutane zu interessieren, dass ich ihm beinahe den Namen meines Schneiders genannt hätte. Oder ich hätte vielleicht nach dem Namen seines Schneiders fragen sollen!«

Pater Aldo nahm ebenfalls mit Interesse zur Kenntnis, dass Christians Bruder für Cyrus Benthoek arbeitete. Jeder, der so eng mit dem Heiligen Stuhl zusammenarbeitete, kannte Benthoek oder wusste um dessen Ruf. Und jeder, der so eng mit dem Staatssekretariat zusammenarbeitete, kannte vom Sehen her Cyrus Benthoek als regelmäßigen Besucher in Kardinal Maestroiannis Büro.

Der geborene Amerikaner Benthoek war zum Weltbürger geworden. Seine intensiven Beziehungen bis in die höchsten Ränge der internationalen Freimaurerei überraschten ebenso wenig wie seine tiefe persönliche Verstrickung in die Arbeit der Europäischen Gemeinschaft und seine lebenslange Hingabe an eine ausschließlich weltliche Variante der Globalisierung.

Für Aldo Carnesecca war deshalb Maestroiannis Interesse an Paul Gladstone so schlüssig wie eine mathematische Gleichung, die nur darauf wartete, bewiesen zu werden.

Der Kardinal warf sein Netz immer weiter aus; war immer bereit einen kleinen Fisch einzuholen und ihn in seinem eigenen Interesse zu füttern. Wenn Christians Bruder von irgendwelchem Nutzen für Cyrus Benthoek war, nähme es nicht wunder, wenn Cosimo Maestroianni für Christian selbst ein mehr als durchschnittliches Interesse hegte. Dennoch war die Verbindung zwischen den Gladstones und Benthoek und ihre ßedeutung für den Kardinalstaatssekretär bislang nicht mehr als eine Spekulation. Und in jedem Fall gehörte das nicht zu den Dingen, über die Carnesecca ohne dabei höchst vertrauliche Dinge preiszugeben mit Christian diskutieren konnte.

Wenn Christian Pater Aldos Zurückhaltung in diesem Punkt überhaupt bemerkte, dann bereitete sie ihm jedenfalls kein Kopfzerbrechen. Der jüngere Mann schien mehr mit einer eigenen wachsenden Überzeugung beschäftigt, dass es - wie für den alten Gladstone damals - Zeit wurde für immer heimzukehren - ein Gedanke, den er mit einem schiefen, leicht bitteren Lächeln auf den Lippen ansprach, als sei er im Begriff sich einer riskanten Investition zu entledigen.

»Ich nehme an, der Kardinal hat mich genau in die Kategorie eingeordnet, in die ich gehöre, Padre. Immer noch ein ndrdico. Ein straniero. Ein Fremder, der im Palast der römischen Hofbeamten fehl am Platze ist. Oh, ich gebe zu, dass die Kirche in den Vereinigten Staaten in keiner besseren Verfassung ist als hier. Aber in Amerika verstehe ich wenigstens, was vor sich geht.« Carnesecca hörte die Traurigkeit in der Stimme des jungen Priesters. Angespornt von dieser Traurigkeit und in der festen Überzeugung, dass Pater Christian ein Mann von genau dem Schlag war, der in diesem Rom der Neunzigerjahre benötigt wurde, widersprach Pater Aldo ihm sofort.

»Es stimmt, Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich. Aber Sie haben jenes Stadium Ihrer Karriere erreicht, in dem die Entscheidungen, die Sie als Priester fällen, Ihren weiteren Lebensweg vorzeichnen werden. Sie reden davon, dem alten Glad zu rolgen und nach Amerika zurückzukehren. Aber soweit es mein altes Priesterhirn verstanden hat, kehrte der alte Glad mit dem Entschluss zurück auf einer Seite einer spirituellen Schlacht zu Kämpfen. Und wenn ich mich nicht schwer irre, kämpfen Sie in derselben Schlacht. Und wenn ich mich nicht noch einmal schwer irre, wissen wir beide, dass über den wahren Sieg - oder die wahre Niederlage - geistig entschieden wird.

Ich glaube, ich begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich behaupte, dass Sie in Ihrem kurzen Gespräch mit Seiner Eminenz heute Morgen einen der Führer der - wie ich es nennen würde - dunklen Seite dieser Schlacht kennen gelernt haben. Und Sie haben die rechten Schlüsse gezogen. Staatssekretär Kardinal Maestroianni ist ein wahrer Meister in der bürokratischen Vetternwirtschaft Roms. Und diese Vetternwirtschaft hat mit der Erlösung der Seelen ungefähr so viel zu tun wie Mammon mit der Heiligen Dreifaltigkeit.

Sie sagen, dass es um die Kirche in Amerika genauso schlecht steht. Aber das Entscheidende ist, dass es in jeder Gemeinde, in jeder Diözese, in jedem Kloster und jeder Bischofskanzlei auf der Welt genauso aussieht. Überall wird dieselbe Schlacht ausgefochten. Und die bürokratische Vetternwirtschaft, von der Sie sich heute Morgen einen Eindruck machen konnten, bestimmt die allgemeine Strategie und jegliche Taktik in dieser globalen Schlacht des Geistes. Doch eines sollten Sie nicht übersehen, mein junger Freund: Im Mittelpunkt der Schlacht steht Rom.«

Carnesecca ging so weit, wie es seine Besonnenheit erlaubte. Er verriet, dass der Papst nicht deshalb Cosimo Maestroianni zu seinem Staatssekretär bestimmt hatte, weil die beiden gut miteinander zurechtkamen oder weil sie dieselben politischen Ziele verfolgten. Tatsächlich hatten die greisen Kardinäle im Vatikan des Jahres 1978 auf Maestroianni bestanden und Seine Heiligkeit hatte sich ihnen gefügt um keine neuen Auseinandersetzungen zu riskieren. Er hatte seine Kräfte bereits auf eine breitere und in diesem kritischen Moment dringliche Front konzentriert.

Realistischerweise war, selbst wenn Maestroianni bald zurücktrat, kaum damit zu rechnen, dass sich die Lage aus der Sicht des Heiügen Vaters bessern würde. Dem bereits als Maestroiannis Machfolger benannten Mann, Seine Eminenz Kardinal Giacomo Graziani, lag mehr an seiner eigenen Karriere als an der Unterstützung einer Partei in irgendeiner Auseinandersetzung. Er würde sich auf die Seite des Siegers schlagen, wer immer das sein mochte. Seine Wahl zum Staatssekretär stellte für den Pontifex nicht gerade einen Erfolg dar. Sie war eher ein den Umständen entsprechender Kompromiss.

Gladstone nickte verstehend. Aber zugleich hob er in einer ratlosen Geste die Hände. »Sie sprechen mir aus der Seele, Pater Aldo. Es ist Seiner Heiligkeit Neigung zu solchen Strategien, die seine ganze Kirche in ein derartiges Schlachtfeld verwandelt hat.«

Doch dann wechselte Christian das Thema. »Erklären Sie mir, wenn Sie können, Padre, warum der Papst überhaupt zu solchen Strategien Zuflucht nimmt! Vielleicht hat Seine Heiligkeit den Eindruck in tieferen Gewässern zu fischen. Aber nach meinem Dafürhalten gibt es keine tieferen Gewässer als das spirituelle Leben oder den spirituellen Tod von Millionen Menschen. Oder auch das spirituelle Leben oder den spirituellen Tod eines Landes oder einer Stadt oder eines Individuums.

Erklären Sie mir, warum dieser Heilige Vater aus unseren Seminaren nicht einfach all jene Theologen ausschließt, die offen Häresien und moralische Irrlehren vertreten. Warum unternimmt er nichts gegen blasphemische Messen, gegen weibliche Geistliche, gegen Nonnen, die jegliches religiöse Leben aufgegeben haben, gegen Bischöfe, die mit Frauen zusammenleben, 8egen offen homosexuelle Priester, die Gemeinden aus offen homosexuellen Männern und Frauen vorstehen, gegen Kardinäle, die Nachsicht gegenüber satanischen Riten üben, gegen sogenannte annullierte Ehen, die in Wirklichkeit Vorwände für echte Scheidungen sind, gegen so genannte katholische Universitäten, die Atheisten und antikatholische Professoren und Lehrkräfte beschäftigen. Sie können nicht abstreiten, dass dies alles der Wahrheit entspricht, Padre. Und mein Unbehagen dürfte Sie nicht überraschen.«

»Natürlich entspricht es der Wahrheit.« Christians Ausbruch ließ Carnesecca erbleichen. »Und natürlich überrascht mich Ihr Unbehagen nicht. Aber in Anbetracht der Zustände, die in der Kirche herrschen, der wir hier dienen, ist Unbehagen ein kleiner Preis. Es ist kaum ein Martyrium. Sie haben sich vor wenigen Minuten selbst als einen Fremden beschrieben, der im Palast der römischen Hofbeamten fehl am Platze ist. Ich könnte; diese Feststellung auch unterschreiben, Pater Christian. Dasselbe gilt für Generalmeister Damien Slattery. Und das gilt für jeden im Vatikan - und überall sonst -, der sich noch dem Apostel Petrus verbunden fühlt.

Aber es gibt noch etwas Wichtiges, das Sie nicht vergessen dürfen. Angesichts offener Opposition ist der Heilige Vater nicht nur ein Fremder, so wie Sie sich fühlen. Männer wie Kardinal Maestroianni und seine Bundesgenossen haben Seine Heiligkeit buchstäblich zum Gefangenen des Vatikans gemacht - zu einem ebensolchen Gefangenen, wie es Pius IX. in den Tagen Ihres geliebten alten Glad war. Nur dienen die Mauern des'i päpstlichen Palastes diesmal nicht der Verteidigung - denn diesmal wird die vatikanische Hierarchie von innen heraus belagert.«

Carnesecca brach seine Ausführungen ab um nicht zu weit zu: gehen. Aber das Bisherige hatte schon genügt um Christian verstummen zu lassen. Der Gedanke bestürzte ihn, dass dieser Papst trotz seiner unablässigen Reisen um die Welt in gewisser Weise ein Gefangener des Vatikans war.

Doch selbst wenn Carnesecca Recht behielt, hatte er vielleicht einen Finger auf das Problem gelegt, das Gladstone am meisten beunruhigte. »Das Verhalten des Heiligen Vaters - die von Ihnen beschriebene Art politischer Entscheidungen, die es ihm überhaupt erst möglich gemacht hat, Kardinal Maestroianni als seinen Staatssekretär zu akzeptieren -, derlei ist keine große Hilfe. Wenn er ein Gefangener des Palastes ist, wie Sie behaupten, liegt es vielleicht daran, dass er sich längst gefügt hat. Vielleicht lässt er all diesen Machtmissbrauch und alle Abweichungen von der apostolischen Pflicht in Rom und quer durch alle Provinzen der Kirche einfach so zu.«

In den länger werdenden Schatten des späten Nachmittags hielt Christian inne und sah auf die Vatikanstadt zurück. Carnesecca sah in Gladstones Augen Tränen glänzen und bemerkte, dass er offenbar schon eine ganze Zeit geweint hatte.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Pater Aldo. Ich stehe zum Apostel Petrus und seinem Nachfolger ebenso wie Sie. Ebenso wie Pater Damien und jeder andere. Es ist nur so, dass irgendetwas gründlich aus dem Gleichgewicht geraten ist ...« Christians ausladende Geste bezog ganz Rom ein. »Ich fürchte, ich kann hier einfach nicht meine Orientierung finden.

Ich weiß nicht, wer sich hinter wem verbirgt. All die pseudohöflichen, samtweichen Floskeln und Sitten der romanitä, die alles wie ein verderblicher Saft durchdringen. Die Hälfte der Zeit weiß ich nicht, wer Feind oder Freund ist. Doch selbst ich kann deutlich erkennen, dass alles in Rom derart aus dem Tritt, aus dem Gleichgewicht geraten ist, dass man es nicht mehr in Worte fassen kann.«

In diesem Augenblick hätte Carnesecca viel um die Freiheit gegeben Christian Gladstone zu der dringend benötigten Orientierung zu verhelfen. Denn er hatte keinen Zweifel, dass es das war, worum sein junger Freund ihn auf seine Art anflehte. Er brauchte einen vernünftigen Grund dafür, in dieser Stadt zu bleiben. Oder - wie die Gladstones in Cornwall - einen vernünftigen Grund sie zu verlassen und anderswo für seinen Glauben und seine Kirche einzutreten.

Wäre es ihm möglich gewesen, hätte Carnesecca Christian gern eine ganze Reihe von Gründen genannt, warum er bleiben sollte. Er hätte ihn über einige vatikanische Töpfe aufgeklärt, in denen es nur so vor antipäpstlichen Ränken kochte, und ihm wenigstens etwas von dem anvertraut, was er über die Parteien wusste, die entschlossen gegen den polnischen Papst Front machten. Doch als der vertrauenswürdige Mann, der er nun einmal war, wusste Pater Carnesecca, dass er Christian nicht in mehr einweihen durfte, als er ohnehin schon getan hatte. So spazierten die beiden Priester in schweigendem Einverständnis zum Angelicum weiter, jeder tief in seine eigenen Gedanken versunken.

Wenn Carnesecca etwas während seiner Karriere in Rom gelernt hatte, dann war es Geduld. Aber Geduld erforderte Zeit. Und im Falle Christian Gladstones wusste er nicht recht, wie viel Zeit ihm noch bliebe, bis dem Heiligen Stuhl ein weiterer standfester Anhänger des Papsttums verloren ginge. Aller Wahrscheinlichkeit nach genug Zeit für Kardinal Maestroianni, seufzte Pater Carnesecca, um herauszufinden, ob Paul Gladstones Beziehung zu Cyrus Benthoek auch eine weitere Beschäftigung Seiner Eminenz mit Pater Christian rechtfertigte. In diesem Fall, vermutete Carnesecca, würde Christian sich mit einer Versetzung nach Rom abfinden müssen, ob es ihm gefiel oder nicht.

 

 

VII

Wie alle klügeren Kardinäle, die mit dem Papst unter einem Dach arbeiteten, legte Maestroianni Wert darauf, in angenehmer Entfernung von Roms Innenstadt, doch in unmittelbarer Nahe zu den Verbindungsstraßen in die Vatikanstadt zu wohnen. Im Falle Seiner Eminenz handelte es sich um eine Dachwohnung hoch über dem Collegio di Mindanao draußen an der Via Aurelia. Das halbrunde Foyer, über das man in die Wohnräume Seiner Eminenz gelangte, war pflichtschuldig mit Ölgemälden früherer Päpste dekoriert. Doch eigentlich dienten Eingangsbereich und Porträts gleichermaßen dazu, einen behutsamen Übergang von der offiziellen Welt des päpstlichen Roms in die Privatsphäre zu schaffen.

Die Welt, die den Geist des Kardinals wirklich beseelte - die weitere Welt, die wahre Welt -, spiegelte sich in einer erstaunlichen Reihe von Fotografien wider, die nahezu jeden Zoll der langen, hohen Wände des Korridors einnahmen, der sich vom Foyer aus über die ganze Länge der Dachwohnung hinzog. Die beeindruckendsten dieser Fotografien - deckenhohe Panoramaaufnahmen von Helsinki - waren so groß, dass der schmächtige Kardinal neben ihnen wie ein Zwerg wirkte. Und doch halfen sie ihm seinen Geist zu weiten. Von der Decke hell beleuchtet ließen sie Helsinkis weiße Granitbauten eine Aura verströmen, ein makelloses Fluidum, das die ganze Stadt umhüllte. Es erstaunte Kardinal Maestroianni nicht im Mindesten, dass die Skandinavier diesen Ort »die große weiße Stadt des Nordens« nannten. Für ihn war die physische Qualität dieser Stadt - diese unbefleckte Anmut - auch zu ihrer geistigen Qualität geworden. Ja, wann immer er durch diesen Korridor schritt oder aber Helsinki besuchte, fühlte er sich an eine mittelalterliche Hymne an das himmlische Jerusalem erinnert. »Himmlische Stadt Jerusalem, gesegnete Vision des Friedens ...«

Die Gelegenheit, bei der diese Stadt einen so unauslöschlichen Eindruck in der Seele Seiner Eminenz hinterlassen hatte, war die Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki durch fünfunddreißig Nationen am 1. August 1975 gewesen. Das war die Geburtsstunde dessen gewesen, was fortan als Helsinki-Prozess bezeichnet wurde, und der Ursprung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - der KSZE. Es war eines der herausragendsten Ereignisse in Maestroiannis Leben gewesen, ein Ereignis, das bis ins kleinste Detail in seinem »Helsinki-Korridor« dokumentiert wurde, wie Cyrus Benthoek ihn einmal passend genannt hatte. Denn rings um die riesigen Fotografien Helsinkis waren zahlreiche andere, kleiner gruppiert - ein einzigartiges Dokument des großen historischen Ereignisses und Erinnerungen, die der Kardinal zu den wertvollsten in seiner produktiven Karriere zählte.

In dieser großen weißen Stadt des Nordens war mit der Unterzeichnung der Schlussakte durch alle bedeutenden Nationen dieser großen Landmasse der alte Traum von Europa wieder geboren worden. Cosimo Maestroianni hatte selbst an dieser Geburt mitgewirkt. Und so fand es der Kardinal bis zum heutigen Tag gleichermaßen angenehm wie inspirierend - vielleicht ein wenig so, als besuche er eine Kapelle - auf dem Weg in sein Arbeitszimmer am anderen Ende dieser Dachwohnung durch diesen Korridor zu schreiten.

1975 war er noch Erzbischof gewesen und hatte als Leiter der zweiten Abteilung des Sekretariats unter Staatssekretär Kardinal Jean-Claude de Vincennes gedient. Gerne hatte er die Delegation des Heiligen Stuhles zu dieser historischen Konferenz angeführt. Die Schlussakte trug seine eigene Unterschrift als Vertreter der Vatikanstadt. Wer konnte Maestroianni also einen Vorwurf daraus machen, wenn er selbst an seinen geschäftigsten Tagen in diesem Korridor gern innehielt; wenn er sich für einige Augenblicke in diese Schatzkammer eines wahr gewordenen Traumes vertiefte? Diese Fotografien bestätigten aUf wundervolle Weise, dass alle Nationen der Erde eines Tages zur ursprünglichen Einheit des Menschengeschlechts finden - oder besser zurückfinden - würden.

Ein Foto, das der Kardinal am anderen Ende des Korridors unmittelbar neben der Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgehängt hatte, zeigte ihn mit Cyrus Benthoek vor Väinä Aaltonens berühmter Bronzestatue des finnischen Meisterläufers Paavo Nurmi auf dem Gelände des Olympiastadions. In einem Augenblick kindlicher Ausgelassenheit hatten beide Männer als Läufer posiert und mit Armen, Beinen und Rumpf die vorwärts gewandte Haltung der Nurmi-Statue nachgeahmt. Über den unteren Rand des Fotos hatte Benthoek mit energischer Schrift gekritzelt: »Damit die Nachgeborenen wissen, dass wir im selben Rennen dasselbe Ziel haben. Wir müssen gewinnen!«

Wie kurz Kardinal Maestroianni sich hier auch immer aufhielt, gewöhnlich genügte es um ihn zu beleben. Nur heute nicht. Seine Gedanken kehrten immer wieder hartnäckig zum Papst und seinem frommen Ausflug nach Sainte-Baume zurück. Welch ein Kontrast, einerseits an das Abkommen von Helsinki erinnert zu werden und andererseits daran denken zu müssen, wie der Pontif ex heute früh das Sekretariat auf den Kopf gestellt hatte, nur weil er für seine Predigt die Inspiration durch einige Fotografien einer Statue von Bernini benötigte.

Die morgendlichen Ereignisse, die der Pontifex durch seinen Telefonanruf aus Sainte-Baume auslöste, hatten den Kardinal ein weiteres Mal in seiner Überzeugung bekräftigt, wie wenig der gegenwärtige Papst dafür geeignet war, die Kirche in die kommende neue Weltordnung zu führen. Ja, die Wahrheit war, dass der Kardinalstaatssekretär die Erinnerung an einen anderen Papst in Ehren hielt: den guten Papst. Was die Kirche brauchte, war ein zweiter Pontifex, der - wie der gute Papst - nicht nur über geistige Reife und diplomatisches Geschick, sondern auch über eine ungewöhnliche profane Weisheit verfügte Weisheit - das war der Schlüssel gewesen.

Ob es ihm gefiel oder nicht, Maestroianni musste sich nun einmal mit diesem polnischen Papst auseinander setzen. Oh, er wusste recht gut, was in diesem Papst vorging. Er war zumindest imstande gewesen die Strategien des Pontifex vorauszuahnen und ihre Auswirkungen abzufangen, wie es nur wenigen anderen in der Kirchenhierarchie möglich war. Maestroianni hatte vor allem begriffen, dass diesen Pontifex immer noch die Last der alten römisch-katholischen Vorstellungen vom himmlischen Königreich Christi, von der Königswürde Marias oder der festen Dreiheit - Himmel, Erde, Hölle - als des Menschen Bestimmung beugte. Dieser Papst stellte sich die Kraft, die hinter den geschichtlichen Ereignissen stand, immer noch als die Hand Christi als des Königs des Menschengeschlechts und des Retters dieses Geschlechts von den Sünden und der Bestrafung aller Sünden in der Hölle vor.

Staatssekretär Kardinal Maestroianni war nicht der Ansicht, er selbst habe den römischen Katholizismus verraten oder aufgegeben. Er hatte eher den Eindruck, sein ursprünglicher Glaube, zu dem er in den nun verfallenden Bastionen der alten Kirche gefunden hatte, sei, indem er ihn vermenschlicht hatte, geläutert und erleuchtet worden. Er hatte unter den konkreten Umständen des zwanzigsten Jahrhunderts reale Gestalt angenommen.

Vieles von dem, was er früher einfach als gegeben hingenommen hatte, war überladen mit Elementen, die lediglich aus verschiedenen kulturellen Perioden der Kirchengeschichte stammten. Solche überwucherten Konzepte hatten nichts mit der gegenwärtigen Realität zu tun, nichts mit dem Prozess. Inzwischen hatte er zu einem Verständnis der Geschichte und der menschlichen Erlösung gefunden, die dem derzeitigen Papst für immer verschlossen sein würde. Nun wusste er, dass Konzepte, wie sie nach wie vor das Handeln des Papstes bestimmten, keinen Einfluss auf die Arbeit und Verwaltung der Kirche haben, nicht den geringsten Niederschlag in ihr finden durften.

Denn die wahre Rolle der Kirche, hatte Maestroianni inzwischen verstanden, war die eines Spielers in einer umfassenderen Evolution - einem umfassenderen Prozess -, als dass der Pontifex begreifen zu können schien. Einem umfassenden Prozess, und zwar einem sehr natürlichen, der auf die Tatsache Rücksicht nahm, dass alles Leid der menschlichen Gemeinschaft in letzter Ursache nicht von einer primitiven Vorstellung namens Erbsünde herrührte, sondern von Mangel, Bedürfnissen und Unbildung. Ein Prozess, der die Menschheit schließlich von diesen Nöten befreien und eine geistige Harmonie zwischen Mensch, Gott und dem Kosmos herstellen würde. Wenn dieser Prozess in der neuen politischen Ordnung der Menschheit seinen Abschluss fände, wäre die Kirche eins mit der Welt. Denn erst dann würde die Kirche ihre stolze und rechtmäßige Position als Teil des Erbes der Menschheit einnehmen: als ein stabilisierender Faktor in der neuen Weltordnung. Als ein wahrhaft strahlender Widerschein des ungetrübten Geistes Gottes.

Der Kardinal bedauerte immer noch das frühe Dahinscheiden des guten Papstes in - so dachte er jetzt - »die kalte Stille der twigkeit«. Noch mehr bedauerte es Seine Eminenz, dass er es in diesem letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts mit emem rückwärts gewandten Papst zu tun hatte, der nichts von en wahren Triebkräften hinter der Geschichte ahnte.

Andererseits hatte Maestroianni, als er den Höhepunkt seiner Macht im Staatssekretariat des Vatikans erreichte, die ganze administrative Maschinerie der römischen Kirchenorganisation eingesetzt um eine größere Übereinstimmung mit dem Prozess herbeizuführen. Nichts verließ den päpstlichen Schreibtisch ohne vorher durch das Büro des Kardinalstaatssekretärs zu gehen. Seine Autorität war in allen anderen päpstlichen Ministerien des Vatikans zu spüren. Sein Wille wurde von allen nationalen und regionalen Bischofskonferenzen überall auf der Welt respektiert und berücksichtigt. Ja, viele seiner klerikalen Kollegen hatten denselben grundlegenden Geisteswandel durchgemacht wie Maestroianni selbst. Eben diese Tatsache riss Maestroianni aus seinen mürrischen Gedanken. Es wäre sehr viel lohnender, seine Gedanken auf die zweite wichtige Aufgabe zu konzentrieren, die er sich für diesen Samstag vorgenommen hatte - die Überarbeitung eines Papiers, das der Kardinal Cyrus Benthoeks Wünschen gemäß der bevorstehenden Versammlung des amerikanischen Rechtsanwaltsverbandes überbringen sollte.

 

Wie der Brief, den er heute Morgen aufgesetzt hatte, war das Thema des Papiers, das der Überarbeitung durch den Kardinal harrte, ebenso heikel wie bedeutsam: die ethische Notwendigkeit zur Aufgabe der nationalen Souveränität.

Wie Benthoek betont hatte, konnte nur ein wahrhaft spiritueller Mensch wie Maestroianni behutsam, doch entschieden mit einem so delikaten Thema umgehen. Maestroianni machte sich sofort an die Arbeit. Binnen Sekunden war er wieder in seinem Element und hielt nur von Zeit zu Zeit in seinen Bemühungen inne um einige hilfreiche Materialien aus der Schatzkammer des Wissens hervorzuholen, die ihn hier umgab.

Er arbeitete vor allem mit einer Monografie - »Die Herrschaft des Gesetzes und die neue Weltordnung« lautete der Titel -, die er vor einigen Tagen an einem Schlüsselzitat aufgeschlagen hatte. Es stammte aus einer Erklärung, die David Rockefeiler Anfang des Jahres abgegeben hatte, und wirkte so passend, dass jvlaestroianni anerkennend lächeln musste, als er es noch einmal las: »Nachdem diese Bedrohung [durch die Sowjetunion] beseitigt worden ist, sind andere Probleme in den Vordergrund gerückt... Es besteht ein enormer Anreiz zur Zusammenarbeit. Aber die Kräfte des Nationalismus, des Protektionismus und der religiösen Konflikte weisen in eine andere Richtung. Die neue Weltordnung muss eine kooperative Welt hervorbringen und eine Möglichkeit finden diese entzweienden Kräfte zu unterdrücken.«

Als er das Rockefeller-Zitat in seinen eigenen Text einarbeitete, hob Seine Eminenz bestimmte Wörter und Phrasen durch Unterstreichen hervor: »Nationalismus - religiöse Konflikte - eine kooperative Welt - diese entzweienden Kräfte unterdrücken. « Der ganze Inhalt der Abhandlung war in diesen wenigen Worten zusammengefasst. Wenn organisierte Religionen und Nationalgefühl in ihrem Konfliktpotenzial entschärft werden konnten, dann wäre unweigerlich der Weg für einen neuen und kooperativen Geist frei. Er wusste, dass es in jedem beliebigen Augenblick der Geschichte nur eine begrenzte Anzahl von Menschen gab, die die Natur des Prozesses ganz verstanden. Und noch weniger - vermutlich kaum ein Dutzend in j eder Epoche, das war zumindest die Einschätzung des Kardinals - genossen das Privileg als Konstrukteure den Verlauf des Prozesses zu bestimmen. Nicht einmal er selbst hatte diese Stufe je erreicht, obwohl er nach wie vor danach strebte. In seinen Augen war er zu nichts Geringerem als dem Apostel des Prozesses geworden.

 

Cosimo Maestroianni war gerade als Diplomat flügge gew0r den, als er erstmals in den Bannkreis des Prozesses geriet Scheinbar durch puren Zufall waren zwei Männer auf ihn auf, merksam geworden: Einer war Erzbischof Roncalli, ein hochrangiger vatikanischer Diplomat. Der andere war Cyrus Benthoek. Beide Männer zeigten sich von Maestroiannis Scharfsinn beeindruckt. Sie hatten selbst Platz geschaffen um seiner Karriere auf die Sprünge und ihm bei der Hege und Pflege des Prozesses zu helfen. Beide Männer hatten Maestroianni an ihrer Macht und ihrer Weisheit teilhaben lassen.

Roncalli ebnete den Weg für Maestroiannis kirchliche Karriere. Erst in Paris, dann als angesehener Kardinalpatriarch von Venedig und schließlich als Papst war es ihm möglich gewesen, Maestroianni bei tausend kleinen, aber für den Fortgang wichtigen Gelegenheiten Vorteile zu verschaffen. Der junge Mann wurde auf allen Kandidatenlisten des Sekretariats für mögliche Beförderungen stets an erster Stelle und mit den besten Empfehlungen genannt. Ihm wurde Zugriff auf geheime Informationen gewährt, Teilnahme an äußerst vertraulichen Diskussionen, rechtzeitige Ankündigung bevorstehender Ereignisse. Aber vor allem erhielt er diskrete Hilfestellung im Umgang mit dem wertvollsten Aktivposten des Vatikans, der romanitä. Cyrus Benthoek dagegen versorgte Maestroianni mit allem, was zur Steuerung, Beschreibung und genaueren Untersuchung des Prozesses verfügbar war. Als enger und vertrauter Freund fand Benthoek unendlich viele Gelegenheiten die Neugier der jungen Diplomaten auf alles, was den Prozess betraf, zu fördern.

Als Monsignore Maestroianni in die Reihen des vatikanischen Staatssekretariats aufstieg, arrangierte Benthoek unablässig Kontakte und Besuche, die seinem begierigen Protege einen immer umfangreicheren und fruchtbareren Zugang zum Denken heimlicher Bundesgenossen verschafften. Indem er ihn zu Versarnrnlungen einlud und in Regierungskreise einführte, die dem jungen Mann sonst verschlossen geblieben wären, brachte er Maestroianni problemlos mit Geistesverwandten in Verbindung - einige darunter in der Tat richtungsweisende Konstrukteure -, die aktiv am Prozess mitarbeiteten. Kurz gesagt verschaffte Benthoek ihm Einblicke in eine Welt, die einem vatikanischen Diplomaten normalerweise nicht zugänglich war.

Seit er in den Vatikan eingezogen war, hatte Maestroianni den Höhepunkt seiner Karriere als Staatssekretär unmittelbar vor Augen. Er wurde zu einer einflussreichen Persönlichkeit in der Vatikankanzlei. Auf innerkirchlicher Ebene leitete der Erzbischof beispielsweise die Reform des alten kanonischen Gesetzeskodex ein und damit näherte er die juristische Struktur der Kirche immer stärker an seine eigene neue Auffassung von der Notwendigkeit die Kirche im Lichte der kommenden neuen Ordnung im Leben der Nationen von innen her zu reformieren an.

Auf der politischen Bühne erwies sich Erzbischof Maestroianni unterdessen als vollendeter weltläufiger Diplomat. Er überwachte umsichtig alle vatikanischen Verhandlungen mit der Sowjetunion und mit ihren osteuropäischen Satellitenstaaten. Sein letztendliches Ziel in dieser heiklen Angelegenheit war die Unterzeichnung einer Reihe protokollarischer Vereinbarungen zwischen dem Heiligen Stuhl und den »souveränen Demokratien sozialistischer Bruderstaaten«, wie diese politischen Gebilde sich selbst nannten. Ob in Moskau oder Sofia, Bukarest oder Belgrad, man kannte Erzbischof Cosimo Maestroianni als Vermittler unter den Regierungen, als Brückenbauer zwischen den herrschenden Schichten.

Die ganze Zeit über sorgte Cyrus Benthoek dafür, dass sich Maestroianni tiefer und tiefer in den Prozess einarbeitete. In diesem fortgeschrittenen Stadium der Ausbildung des Erzbischofs berief sich Benthoek immer wieder auf Elihu Root aL den Schutzheiligen des Prozesses. Elihu Root hatte im frühen zwanzigsten Jahrhundert als prominenter Wall-Street-Anwalt der als Kriegsminister für Präsident William McKinley und Präsident Theodore Roosevelt und später als Roosevelts Außenminister diente, bleibenden Eindruck hinterlassen. Er war 1912 für den Friedensnobelpreis nominiert worden und wurde der erste Ehrenvorsitzende des prestigeträchtigen Rats für auswärtige Beziehungen.

Elihu Root und ähnlich gesinnte Anwälte, die auf dem Gebiet des internationalen Finanzwesens und der internationalen Beziehungen arbeiteten, waren davon überzeugt, dass die inhärente Logik der Geschichte - Cyrus Benthoek fand besonderen Gefallen an dieser Formulierung - den Vereinigten Staaten eine globale Schlüsselrolle zuwies. Root und die anderen waren die eigentlichen Urheber einer bestimmten Mentalität des Establishments, die nicht zuletzt dank solch ehrwürdiger Gestalten -»Weisen«, wie Benthoek sie stets pointiert nannte - wie Henry Stimson, Robert A. Lovett, John J. McCloy und Henry Kissinger weitergegeben wurde. Es geschah während eines seiner Besuche in Benthoeks Büro in New York, dass Maestroianni schließlich eine offenbarungsartige Einsicht in den Prozess gewann, als er Root den Begründer des Globalismus im zwanzigsten Jahrhundert und den ursprünglichen Schöpfer des Prozesses nannte.

»Nein, mein Freund. Root war kein Begründer. Aber er war einzigartig in seiner Bewertung des Prozesses. Denn aus dieser Bewertung zog er den Schluss, dass das letztendliche Ziel der geschichtlichen Triebkräfte - das Ziel der Kraft, die hinter allen Kräften steht - eine wahrhaft weltweite Ökonomie und Regierungsform sei. Root fand, dass dies die einzige Grundlage sei, auf der sich die Nationen entgegenkommen könnten. Die organisierte Aufteilung der Erde und ihrer Reichtümer - das ist die Voraussetzung für alles Gute in der Welt.

Der Prozess ist das Medium, durch das die Kraft wirkt. Aus diesem Grund ist der Prozess ein sakrosanktes Konzept - ein Weltkodex, wenn Sie so wollen - für alle echten Globalisten unter uns. Das ist die Einsicht, die Elihu Root uns hinterlassen hat. Das ist das bleibende Geschenk, sein Vermächtnis, die Verantwortung, die er allen >Weisen< hinterlassen hat, die seither seinen Spuren gefolgt sind - allen, die sich demselben Ideal verpflichtet fühlen.«

In ebendiesem Augenblick überschritt Maestroianni eine weitere Schwelle, an die Benthoek ihn mit großer Hingabe und Geduld herangeführt hatte. Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht des Erzbischofs wie die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Morgens. Denn mit einem Mal ging ihm das Offensichtliche auf. Plötzlich begriff er, dass der Prozess nichts Fernes und Unpersönliches ist. Plötzlich verstand er - wie Benthoek ihm begreiflich machen wollte -, dass nicht nur eine Kraft hinter dem Prozess steht, sondern dass hinter der Kraft wiederum richtungsweisende Konstrukteure stehen. Und plötzlich wusste er, dass Elihu Root kein Erfinder, sondern ein Konstrukteur war. Ein Meisterkonstrukteur sogar, einer derjenigen, die in den jeweiligen Stadien des Prozesses eine besondere Rolle als Erfinder, Kultivierer, Führer und Förderer im beständigen, fortschreitenden Wirkmuster der Kraft spielen.

Das war der Grund, erkannte Maestroianni schließlich, warum "enthoek immer wieder von diesen »Weisen« redete. Sie waren die Meisterkonstrukteure.

ts war für Cosimo Maestroianni eine erstaunliche Erkenntnis. Sie ließ ihn den Prozess wundervoll menschlich und greifbar erscheinen. Ja, sie ließ, wie er Benthoek aus tiefstem Herzen §estand, sogar ein dogmatisches Festgeläute für ihn ertönen.

*35Und das Ziel all dieser Meisterkonstrukteure war immer dassel, be: die Bestimmung der Gemeinschaft der Nationen als eine Familie zu erfüllen! Eine menschliche Familie! Eine neue und allumfassende heilige Familie. Verwirklichte sich so nicht die christliche Nächstenliebe, die Caritas, die Agape, die der Apostel Paulus gepredigt hatte?

»Ja, lieber Kollege!« Benthoek wusste genau, welchen Knopf er jetzt drücken musste. »Es entspricht der Lehre. Ja, sogar der Heiligen Schrift. Denn wir sind nun einmal eine Familie! Alle Nationen gehören einer Familie an. Das ist unsere Bestimmung. Wir alle sind bestimmt wieder eins zu werden! Wer weiß, mein Freund?«

Benthoek hob die Hände und richtete die Handflächen gen Himmel. »Wer weiß, ob nicht Sie in Ihrer vatikanischen Zitadelle auch einmal dazu berufen sein werden, zu einem dieser Meister aufzusteigen?« In Maestroiannis Augen wurde diese Geste fast zu einem Gebet, ganz in der Tradition der Orantendarstellungen der klassischen christlichen Ikonographie, zur liturgischen Geste par excellence.

Für Erzbischof Maestroianni war die »Kraft hinter den Kräften« der Geschichte nicht länger die Hand Christi als des Herrn der menschlichen Geschichte. Für ihn, wie für Benthoek, wandelte sich die »Kraft hinter den Kräften« zu einem Abbild des geheimnisvollen Unbekannten. Sie wurde zu einer unbekannten Größe, dem alles bestimmenden, doch selbst unbestimmbaren Faktor x im Schicksal der Menschheit. Alles Handeln des Erzbischofs rührte von seiner tieferen Einsicht in den Prozess her; und von seinem tiefen Respekt vor dem mysteriösen Faktor x -»der Kraft hinter den Kräften«. Für ihn passte alles sehr gut ineinander. Die einzige Möglichkeit der urtümlichen »Kraft« zu dienen bestand darin, den Prozess zu fördern. Es ging also darum, den Prozess ein Stück weiter dem letzten Ziel jener Kraft entgegenzuführen: der kulturellen, politischen, sozialen und ökonornischen Angleichung aller Nationen dieser Erde.

Angesichts dieses Endziels leuchtete es ein, dass einer der primären »kulturellen« Schauplätze, die für den Prozess gewonnen werden müssten, die römisch-katholische Kirche war. Oder, um genauer zu sein, dass dem Prozess an einer systematischen Umgestaltung der römisch-katholischen Kirche gelegen war. Nicht mehr annehmbar war dabei - und musste deshalb restlos aus der organisatorischen Struktur getilgt werden - der traditionelle Anspruch des römischen Katholizismus auf die absolute Autorität in allen menschlichen Fragen.

Denn dieser Anspruch war mit den Anforderungen des Prozesses nicht zu vereinbaren.

Eine Tatsache war ferner, dass der Prozess in seinem Bestreben den absoluten moralischen Anspruch der römisch-katholischen Kirche aufzuheben auch die traditionelle Autorität des Papstes beseitigen musste. Denn die Kirche erhebt ihren absolutistischen Anspruch und vollzieht ihr absolutistisches Mandat vermittels - und ausschließlich kraft - der einzigartigen und traditionellen Autorität, die das Papsttum verkörpert. Daher war die Entmachtung des Papsttums in der römisch-katholischen Kirche ein unverzichtbarer Teil des Prozesses.

War dies einmal erreicht, wäre es für solche Realisten wie Maestroianni eine relativ einfache Sache, die Kirche - ihre globale organisatorische Struktur, ihr Personal und ihre nahezu eine Milliarde Anhänger - von Anschauungen und Verhaltensweisen zu säubern, die gegenwärtig nur Schranken und Stolpersteine bildeten für eine Harmonisierung des Denkens und der Politik, wie sie in der neuen Gemeinschaft der Nationen vonnöten war.

 

Als Seine Eminenz den letzten beschwörenden Satz seiner ReJe über »die ethische Notwendigkeit zur Aufgabe der nationalen Souveränität« in seine endgültige, perfekte Form gebracht hatte, konnte er endlich von jenem Bücherstapel aufblicken, den er für sein Tagwerk zurate gezogen hatte. Es blieb ihm noch eine Viertelstunde, bis er Cyrus Benthoek in London anrufen sollte. Dieser Anruf war die letzte und angenehmste der drei Aufgaben, die der Kardinal sich für diesen Samstag vorgenommen hatte. Die Uhr im Kopf Seiner Eminenz verriet ihm, dass ihn diese Plauderei mit Benthoek wahrscheinlich bis zur Sicherheitskontrolle im Vatikan um sechs Uhr aufhalten würde.

Maestroianni nutzte die verbliebenen Minuten bis zum verabredeten Zeitpunkt um den Berg von Nachschlagewerken abzutragen, der sich über seinen gesamten Schreibtisch, einschließlich seines abhörsicheren Telefons, ausgebreitet hatte. Nachdem die Bände nach einem System, das nur er durchschaute, in seinem Arbeitszimmer verteilt waren, ging er in Gedanken noch einmal die wichtigsten Themen durch, die er mit Benthoek diskutieren wollte. Dazu gehörte natürlich die Ausarbeitung seiner Rede vor dem Anwaltsverband. Da Benthoek sie angeregt hatte, wollte er sie gewiss auch als Erster hören, so wie Kardinal Svensen der ideale Widerpart für seinen Brief zur Einheit von Papst und Bischöfen gewesen war.

Was Svensen betraf, würde Benthoek ihm sicher auch einen guten Rat zum Vorschlag des belgischen Kardinals geben können eine engere Beziehung zwischen den europäischen Bischöfen und der Europäischen Gemeinschaft aufzubauen. Und zum Vorschlag mithilfe dieser Beziehung - wenn sie überhaupt realisierbar war - die Bischöfe auf »eine gemeinsame Linie einzuschwören«, die den Prinzipien der EG den Vorzug vor dem Primat der päpstlichen Autorität gab.

Als er nach London durchwählte, erinnerte sich Maestroianni schließlich noch daran, dass es außerdem ein privates Treffen Seiner Eminenz mit Benthoek zu besprechen gab, das der Vorbereitung ihres persönlichen Beitrags zum Gedenken an Robert gchuman während der alljährlichen Feierlichkeiten nächsten Monat in Straßburg dienen sollte.

»Eminenz!« Cyrus Benthoek hatte wie verabredet auf den Anruf gewartet. Seine volle Stimme klang so klar, als stehe er persönlich im Arbeitszimmer des Kardinals. »Was gibt's Neues?«

Maestroianni konnte der Versuchung nicht widerstehen seinen alten Freund mit dem Abenteuer um den Papst und die Bernini-Statue zu erheitern. Ein paar Ausschmückungen hier und dort und der Vorfall nahm schnell märchenhafte Züge an.

Als sein Lachen verklungen war, referierte Seine Eminenz die wesentlichen Änderungen, die er an der Rede für den Anwaltsverband vorgenommen hatte. Wie der Kardinal selbst fand es der Amerikaner sehr gelungen, wie das Zitat David Rockefellers die Notwendigkeit unterstrich die in Nationalismus und Religion sichtbaren entzweienden Tendenzen zu unterdrücken. »Meine Hochachtung! Eine wahrhaft spirituelle Ansprache, wie ich es nicht anders erwartet habe.«

»Freut mich, dass sie Ihnen gefällt.« Maestroianni errötete vor Zufriedenheit. Selbst nach den langen Jahren ihrer Zusammenarbeit war ein solch uneingeschränktes Lob von seinem Mentor noch immer eine Seltenheit.

»Wo wir schon von entzweienden Tendenzen in der Religion reden ...« Die Uhr in Maestroiannis Kopf mahnte ihn sich dem nächsten Punkt auf seiner Tagesordnung zuzuwenden. »Ich atte heute Morgen ein interessantes Gespräch mit einem alten reund, Kardinal Svensen aus Belgien.« Indem er die Notizen in Semem Terminkalender zurate zog, beschrieb Seine Eminenz in einiger Ausführlichkeit die Argumente des Belgiers für eine gut gepflegte Beziehung zwischen den europäischen Bischöfen und der EG.

Benthoek begriff sofort, welche Möglichkeiten darin steckten Er erkannte, wie ein systematisches Arrangement den Bischöfen auf Dauer »weltliche Vorteile« verschaffen könnte, wie er es ausdrückte - niedrig verzinste Darlehen, Steuererleichterungen und dergleichen. Und er hatte keinen Zweifel, dass ein solches Arrangement die Bischöfe anlocken würde wie der Nektar die Bienen. Es könnte die Bischöfe sogar noch weiter vom slawischen Papst mit seinem Beharren auf dem Glauben als dem Fundament eines neuen Europa abrücken lassen.

Wie Kardinal Svensen heute Morgen schon erwähnt hatte, sah Benthoek allerdings, dass der Vorschlag einen ernst zu nehmenden Mangel aufwies. »Wir brauchen eine perfekte Anlaufstelle, Eminenz. Wir müssen diese Beziehungen von Ihrer Seite des Vatikans aus organisieren. Wir brauchen einen Mann oder eine Gruppe von Männern, die das Vertrauen der Bischöfe genießen - und feststellen, was sie brauchen; wo ihre Schwächen liegen. Etwas in der Art. Und sie dann davon überzeugen, dass ihre Zukunft in der Zusammenarbeit mit der EG liegt.«

»Das ist nur die Hälfte dessen, was wir brauchen! Wir brauchen auch einen Mann, der von Ihrer Seite aus arbeitet. Jemanden, der ebensolches Vertrauen unter den Ministern aller zwölf EG-Nationen genießt. Jemanden mit genügend Glaubwürdigkeit, dass er sie dazu bewegen könnte, den Bischöfen diese weltlichen Vorteile< auf einer Vertrauensbasis zu gewähren, besiegelt nur durch einen Handschlag als Garantie einer Gegenleistung für ihre Investitionen. Wie ich Svensen bereits gesagt habe, könnte es sich einfach als zu kompliziert herausstellen.«

»Kompliziert ja«, stimmte Benthoek zu. »Aber interessant. Zu interessant um nicht wenigstens einen ernsthaften Versuch zu wagen.«

»Svensen wird nächsten Monat am Schuman-Tag bei den Feierlichkeiten in Straßburg sein. Ich schlage vor, wir beziehen ihn in unsere kleine private Unterredung ein.«

Der Amerikaner zögerte. »Trauen Sie ihm so weit über den Weg, Eminenz?«

Maestroianni War sich, im Gegensatz zu Benthoek, seiner Sache sicher. »Ich schätze ihn als diskret ein. Und ich vertraue seiner Abneigung gegen das Papsttum, wie es sich gegenwärtig darstellt, und im Besonderen gegen den derzeitigen Papst.

Ich versichere Ihnen, dass Svensen wenig oder nichts über den Prozess weiß. Aber das gilt auch für alle anderen, die wir zu der Sitzung eingeladen haben. Wie ich die Sache sehe, folgt diese Sitzung einem der wichtigsten Prinzipien, die ich von Ihnen gelernt habe. Nicht jeder muss den Prozess verstehen um seinen Zielen dienen zu können.«

Das war eine starke Empfehlung zu Svensens Gunsten. Benthoek war fast überzeugt. »Reden wir besser später noch einmal darüber, bevor wir uns endgültig entscheiden, ob wir Ihren belgischen Kollegen zu der Sitzung wirklich einladen wollen, ja? Jedenfalls würde ich ihn zumindest gern kennen lernen, wenn wir in Straßburg sind. Einverstanden?«

»Einverstanden, mein Freund.« Der Kardinal verstand ihn. Benthoek wollte sich selbst ein Urteil über Svensen bilden.

Der Amerikaner wandte sich einem anderen Thema zu, das ihn besonders beschäftigte. Er wollte sich noch einmal Maestroiannis bevorstehenden Rücktritts vergewissern.

»Natürlich weiß ich, dass derlei geschieht, Eminenz. Aber dennoch, ich hoffe, ich gehe nicht fehl in meiner Annahme, dass Ihr Rücktritt vom Amt des Staatssekretärs nichts Grundlegendes an unseren Plänen ändert? Darf ich mich darauf verlassen, dass Euer Eminenz in dieser Hinsicht Ihre Meinung nicht geändert haben?«

»Es macht nicht den geringsten Unterschied. Die Neuigkeit ist noch nicht öffentlich gemacht worden. Ich sagte schon, dass Giacomo Graziani aus unserer Sicht nicht der ideale Staatssekretär ist. Aber ich versichere Ihnen, dass seine Wahl für den Pontifex keinen Triumph darstellt. Er wird gern für uns den Laufburschen spielen. Und ich möchte Sie daran erinnern, mein alter Freund, dass ich mich ja gar nicht ganz zurückziehe.«

Maestroianni machte eine kurze Pause. Natürlich fiel es ihm nicht leicht, das prestigeträchtige Staatssekretariat abzutreten. Aber schon dieses Gespräch mit Cyrus bewies, dass er noch nicht aus dem Spiel war. Der Brief zur Frage der Einheit, den er heute Morgen aufgesetzt hatte, war nur einer der Sprengsätze, die er unter den Stuhl Petri gelegt hatte.

»In gewisser Weise«, fuhr er fort, »freue ich mich sogar auf mein Abschiedsgespräch mit dem Pontifex. Ich weiß schon, welchen Schlussakkord ich in seiner Gegenwart anschlagen werde.«

»Der arme Heilige Vater! Wann findet die offizielle Verabschiedung statt?«

»Kurz vor unserer Sitzung während der Schuman-Gedenkfeiern in Straßburg.«

Obwohl er das Datum auswendig wusste, hatte der Kardinal die Angewohnheit nach seinem Terminkalender zu greifen. Als er ihn durchblätterte, fiel sein Blick auf die Bemerkung, die er heute Morgen nach dem Gespräch mit dem jungen amerikanischen Priester notiert hatte. »Ich habe fast etwas vergessen, Cyrus. Während der Aufregung um die Bernini-Statue heute Morgen habe ich einen jungen Kleriker hier aus Rom kennen gelernt, dessen Bruder für Ihre Firma arbeitet. Sagt Ihnen der Name Paul Thomas Gladstone zufällig etwas?«

»Eine ganze Menge! Wir betrachten Paul Gladstone als einen jungen Mann von großem Potenzial.« Er machte eine Pause.

»Ich frage mich, ob Pauls Bruder - wie ist sein Name?«

»Christian.« Maestroianni warf noch einmal einen Blick auf seine Notizen. »Christian Thomas Gladstone.«

»Richtig, Christian. Ich frage mich, ob er vom selben Kaliber wie unser Gladstone hier in London ist. Sollte dies der Fall sein, haben wir in diesen zwei Brüdern das Rohmaterial für die Art von Beziehung, über die wir vorhin spekuliert haben. Es sollte uns doch möglich sein, für einen so talentierten Mann wie Paul Gladstone den richtigen Platz in der EG-Maschinerie zu finden. Eine vertrauenswürdige Position, die ihn in Kontakt mit allen zwölf Außenministern bringen würde.

Also, wie sieht es aus? Würde sich Pater Gladstone als unser Verbindungsmann zu den Bischöfen eignen? Könnte er in einem Maße ihr Vertrauen gewinnen, wie es für unser Vorhaben erforderlich wäre?«

Anfangs erstaunte Maestroianni diese Idee. Aber aus Benthoeks Mund klang alles so plausibel, so nahe liegend, dass es ihn am Ende beinahe verlegen machte, dass er nicht allein darauf gekommen war. Der Gedanke einen von Benthoeks talentiertesten Leuten mit einem Mann im Vatikan als Kontaktpersonen zwischen der EG und den Bischöfen zusammenzubringen hatte wirklich etwas Verführerisches. Und wenn diese beiden Männer zufällig auch noch Brüder waren, sollte die Symbiose nur umso besser funktionieren.

Benthoek fand die Idee offenbar sehr anregend. Die konkrete Umsetzung von Svensens Vorschlag nahm in seinen Gedanken bereits Gestalt an. »Dann halten Sie mich am besten auf dem Laufenden, Eminenz, wie Sie diesen Pater Christian Gladstone einschätzen. Diese Angelegenheit sollte Priorität genießen. In er Zwischenzeit werden wir etwas in der EG-Maschinerie herumstochern um einen für Paul Gladstones Talente geeigneten Posten zu finden. Diesen Sommer wird sogar der Posten des Generalsekretärs im EG-Ministerrat frei. Das wäre ideal. Würden Sie auf Ihrer Seite so kurzfristig alles hinbekommen?« Benthoeks Enthusiasmus hatte Maestroianni inzwischen wie ein Fieber angesteckt. »Ich bin bereits dabei, Pater Gladstones Hintergrund zu überprüfen; er scheint sauber zu sein. Er ist gegenwärtig nur die Hälfte des Jahres in Rom. Und wenn er für uns der geeignete Mann sein sollte, bin ich mir sicher, dass wir seinen Bischof in den Staaten davon überzeugen können, ihn für einen, sagen wir es mal so, Vollzeitdienst am Heiligen Stuhl freizugeben.«

»Nett ausgedrückt, Eminenz. Ich bin überzeugt, dass wir rasche Fortschritte machen werden.«

 

 

VIII

An diesem Freitag, dem 10. Mai, trieb die frühe Morgensonne schelmische Schattenspiele mit dem Stift des Pontifex, als er an seinem Schreibtisch arbeitete. Sie wärmte das Gesicht des Heiligen Vaters. Sie hob die Spuren vorzeitigen Alterns hervor, die in den letzten Monaten vielen in seinem Gefolge aufgefallen waren. Der polnische Papst hatte die Straffheit seiner Muskeln und seiner Haut und den perfekten Schnitt seiner Gesichtszüge eingebüßt. Ein körperlicher Verfall hatte eingesetzt, sagte jeder. Er zerstörte oder entstellte seine Gesichtszüge nicht etwa. Aber für jene, die sich um den Papst sorgten, zeugte er von einer ge' wissen Zerbrechlichkeit des Heiligen Vaters, wie das sichtbar Anzeichen eines inneren, geistigen Schmerzes.

Ein Klopfen an der Tür seines Arbeitszimmers riss Seine Heiligkeit aus seiner Versenkung. .Sein Stift blieb mitten im Satz über dem Papier schweben, das vor ihm lag. Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims seines Arbeitszimmers und erstarrte kurz. Schon Viertel vor acht! Dann war das sicher Kardinal Cosimo Maestroianni. Pünktlich wie in den ganzen letzten zwölf Jahren für die zum Ritual gewordene Morgenbesprechung zwischen dem Pontifex und dem Staatssekretär.

»Avanti!« Der Papst legte den Stift hin, lehnte sich in seinen Stuhl zurück, als brauche er eine Stütze, und sah Maestroianni, die Ordner in seinen Händen wie üblich prall gefüllt mit Papieren, zu seiner offiziellen Abschiedsunterredung als scheidender Staatssekretär nervös ins Arbeitszimmer treten.

Sie verzichteten untereinander auf Formalitäten. Der Pontifex blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen. Seine Eminenz verbeugte sich nicht und beugte auch nicht das Knie um den Ring des Fischers an der Hand des Papstes zu küssen. Dank des Einflusses von Maestroiannis Vorgänger waren derart undemokratische Gepflogenheiten bereits 1978 aus diesen morgendlichen Arbeitsbesprechungen verschwunden.

Seine Heiligkeit hörte sich Maestroiannis angespannten und wenig aufschlussreichen Monolog auch an diesem Morgen mit gewohnter Gelassenheit an. Diese vom Pontifex so offen zur Schau gestellte Geduld war für den Kardinal immer ein wenig zermürbend. Der Staatssekretär hatte das Gefühl, dass der Papst während dieser Sitzungen nicht deshalb so wenig Fragen stellte, weil er die Dinge gern in Maestroiannis Händen beließ. Es schien ihm eher daran zu liegen, dass der Papst die Antworten schon kannte.

 

Wesentlichen hatte Maestroianni mit seiner Vermutung Recht. Der Pontifex hatte von Anfang an gewusst, dass sein Staatssekretär kein Kollege, sondern ein Widersacher der schlimmsten Sorte war. Ein Telefongespräch mit gewissen Personen in verschiedenen Städten in aller Herren Ländern quer über die fünf Kontinente hätte dem Heiligen Vater mehr über aktuelle oder bevorstehende Ereignisse überall auf der Welt verraten als alles, was Maestroianni in seinem Abriss von Angelegenheiten zweitrangiger Bedeutung anschneiden konnte. Ein Bericht von Kommandant Giustino Lucadamo, dem Chef des päpstlichen Sicherheitsdienstes und einem Mann von unerschöpflicher Loyalität und Begabung, verriet Seiner Heiligkeit oft mehr, als er wissen wollte.

Lucadamo war 1981 nach dem Anschlag auf das Leben des Papstes damit beauftragt worden, alle nötigen Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Heiligen Vaters zu ergreifen. Er hatte dafür einen heiligen Eid auf das Sakrament geschworen. Auf unbegrenzte Zeit von den italienischen Sondereinheiten, Abteilung Aufklärung, freigestellt, war er weithin bekannt für seine rasche Auffassungsgabe und seine stählernen Nerven. Er hatte den staatlichen Sicherheitsdienst Italiens im Rücken und konnte auf das Entgegenkommen dreier ausländischer Regierungen zählen. Darüber hinaus umgab er sich mit handverlesenen Adjutanten, die ebenso entschlossen waren wie er. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt konnte er sagen, welche schusssichere Weste Seine Heiligkeit gerade trug, wer zurzeit als Vorkoster im Dienst war oder was sonst über jede Person interessieren mochte, die auch nur den geringsten Kontakt mit dem päpstlichen Haushalt hatte. Kurz gesagt zählte Giustino Lucadamo zu den Männern, die Gott selbst dem Pap»1 unter den schwierigen Umständen in diesem Rom der Neunzigerjahre zur Seite gestellt hatte.

Noch an diesem Morgen, nach der Messe in seiner Privatkapelle, hatte Lucadamo sich mit Damien Slattery dem Heiligen Vater zum Frühstück in seinen Gemächern im dritten Stock dess Papstpalastes angeschlossen. Ihr Gespräch hatte sich um zwei Themen gedreht, die unter Sicherheitsaspekten von besonderem Interesse waren.

Zunächst galt es die Vorbereitungen zum Schutz Seiner Heiligkeit während der Andachten zu beurteilen, die er in drei Tagen :n Fatima in Portugal leiten wollte. Die Feierlichkeiten, zu denen ein Massentreffen Jugendlicher gehörte, das in alle Welt übertragen werden sollte, würden am Montag dem Dreizehnten stattfinden. Lucadamo hatte von Anfang bis Ende jeden Augenblick durchgeplant. Der Heilige Vater würde am Vierzehnten wieder wohlbehalten an seinem Schreibtisch sitzen.

Das zweite Thema waren gewisse Einzelheiten über eine merkwürdige Privatsitzung, die Staatssekretär Kardinal Maestroianni für dasselbe Datum - den 13. Mai - in Straßburg, kurz nach Abschluss der Robert-Schuman-Gedächtnisfeiern, anberaumt hatte. Zufälligerweise hatte Damien Slattery von der Sache Wind bekommen. »Ein Treffen von Wölfen und Schakalen«, hatte er diese private Versammlung genannt. »Man kann sich ja denken, wer dort zusammenkommt.«

Der Papst hatte sich angehört, welche Personen Slattery und Lucadamo als mögliche Gäste Maestroiannis auf ihrer Liste hatten: Erzbischof Giacomo Graziani - in Kürze Kardinal Graziani, wenn er das Amt des Staatssekretärs antrat; Kardinal Leo Pensabene, Führer der größten Kardinalsfraktion; Kardinal Silvio Auteatini, einer von Maestroiannis treusten Anhängern im Vatikan; Kardinal Noah Palombo, der schon greise, doch immer n°ch maßgebliche Mann für das römisch-katholische Zeremoniell; der Ordensgeneral der Jesuiten; der Generalminister der Franziskaner.

»Noch ein Komplott.« Den Pontifex ermüdete es allmählich, immer Wieder dieselben Namen zu hören. In Zusammenhang mit diesen oder jenen antipäpstlichen Aktionen taten sich immer wieder dieselben Männer hervor. »Noch mehr Kontakte. Noch mehr Gerede. Werden sie denn nie müde?«

»>Das Feuer sagt nie: Es ist genug<, Euer Heiligkeit«, zitiert Damien aus der Heiligen Schrift. Aber er und Lucadamo zeigten sich besorgt, dass diese Versammlung sich merklich von den anderen unterscheiden könnte, zumindest was den vatikanischen Anteil auf der Teilnehmerliste für den Schuman-Tag anging. »Der Wille jedes Einzelnen dieser Männer ist stark wie der Tod«, hatte Slattery seine Sorge unterstrichen. »Sie arbeiten vierundzwanzig Stunden am Tag daran. Aber norrmalerweise findet man selbst ernannte Diener Gottes dieser Sorte selten zur selben Zeit unter demselben Dach.«

»Auch wir arbeiten vierundzwanzig Stunden am Tag, Pater. Wir werden ihnen auf den Fersen bleiben.«

Obwohl er Slattery damit beruhigen wollte, war auf Lucadamos Gesicht deutlich seine Beunruhigung über den plötzlichen Überdruss des Papstes abzulesen.

 

Der Pontifex achtete darauf, sich nichts von seiner Überdrüssigkeit anmerken zu lassen, während er zuhörte, wie Maestroianni sich systematisch durch seine Unterlagen arbeitete. Er zeigte sich ernst und geduldig - beides Bestandteile seines schrumpfenden Arsenals zur Verteidigung seines Papsttums. Der Papst lehnte den Kopf gegen die Stuhllehne. Er beobachtete Maestroiannis Gesicht; lauschte aufmerksam jedem Wort, das der Kardinal sagte; nahm jede Geste zur Kenntnis. Die ganze Zeit über bereitete er sich auf das vor, was unausweichlich auf ihn zukam. Maestroianni würde diese letzte offizielle Besprechung nicht vorübergehen lassen ohne noch einmal als Staatssekretär sein Messer zu zücken.

Angesichts der Menge an Material, das er ins Arbeitszimmer des Papstes geschleppt hatte, waren die Ausführungen des Kardinalsekretärs angenehm knapp. Hatte Seine Heiligkeit sich vielleicht geirrt? Vielleicht würde der Kardinal in seiner letzten Besrechung doch nicht zum Abschied noch einmal zum Messer greifeen.

»Wie Sie wissen, Heiliger Vater, werde ich die offizielle vatikanische Delegation zu den jährlichen Gedächtnisfeiern am Schuman-Tag in Straßburg anführen.«

»Ja Eminenz. Ich erinnere mich.« Mit gleichmütiger Miene beugte der Papst sich vor um einen Blick in seinen Terminkalender zu werfen. »Sie reisen heute Nachmittag nach Straßburg ab, nicht wahr?«

»Aber ja, Euer Heiligkeit.« Der Kardinal zog ein Blatt aus den Ordnern auf seinem Schoß. »Ich habe hier eine Liste der Personen, die unserer Delegation angehören.« Das Protokoll verlangte es, dass der Pontifex über die Zusammensetzung der Delegation informiert wurde. Selbst in der Schlacht galt das vatikanische Protokoll.

Ohne dass sein Gesichtsausdruck sich im Geringsten änderte, nahm der slawische Papst die Liste aus der Hand seines Sekretärs entgegen und überflog die Spalten mit den Namen. Sie stimmte vollkommen mit der Liste überein, die Damien Slattery und Giustino Lucadamo ihm während ihrer Frühstückssitzung vorgelesen hatten. »Sie haben alle meinen Segen für diese Veranstaltung, Eminenz. Es wäre eine günstige Gelegenheit für trzbiechof Graziani, sich bekannt zu machen, während er sich darauf vorbereitet, seinen Dienst im Staatssekretariat anzutreten.«

»So habe ich mir das gedacht, Euer Heiligkeit.«

Nicht zum ersten Mal in ihrer lang währenden Auseinandersetzung sah Maestroianni sich gezwungen des Pontifex meisterhafte Beherrschung der romanitá zu bewundern. In der Stimme des Papstes klangen weder Bitterkeit noch die geringste Spur von Ironie mit. Doch beide wussten, dass Graziani - als einer von Maestroiannis Männern, wenn auch keiner seiner engsten Vertrauten - gut genug geschult war um den derzeitigen Inhaber des Stuhles Petri als einen Unglücksfall und als nur vorübergehend zu betrachten. Nachdem seine Zusammenstellung der Delegation abgesegnet worden war, erwartete der Kardinalstaatssekretär, dass der ihm das Papier über den Schreibtisch zurückreichte. Stattdessen legte Seine Heiligkeit die Liste jedoch wie beiläufig unter seiner Hand auf den Tisch.

Maestroianni stürzte die Bewegung des Pontifex in einige Verwirrung. »Natürlich würde ich meine Gastgeber im Robert-Schuman-Haus gern mündlich über den Segen Euer Heiligkeit unterrichten.«

»Bitte tun Sie das, Eminenz«, stimmte der Papst zu. »Grüßen Sie alle im Namen des Heiligen Stuhles. Sie arbeiten an einem bedeutenden Projekt. Das Europa, an dem sie bauen, ist die Zukunftshoffnung vieler Millionen Menschen.« Schließlich reichte der Papst dem Kardinal das Blatt doch zurück. Mit derselben Bewegung griff er nach einem Ordner auf seinem Schreibtisch. Indem er darauf achtete, dass die vertrauliche Notiz nicht herausfiel, die ihm bezüglich eines gewissen Paters Christian Thomas Gladstone zur Kenntnisnahme vorgelegt worden war, entnahm der Pontifex dem Ordner eines der mittlerweile vertrauten Fotos von Berninis Noli me tangere.

»Ich habe fast vergessen Ihnen davon zu berichten, Eminenz. Letzten Samstag in Sainte-Baume habe ich die ganze Pilgerfahrt zu Gott als eine Weise dargestellt ihn um besondere Gnade für all meine Bischöfe zu bitten. Die Fotos waren eine große Inspiration. Sie werden ganz sicher einige der französischen Bischöfe in Straßburg kennen lernen. Bitte überbringen Sie auch ihnen allen meinen Segen.«

Der Kardinal begegnete dem offenen, unschuldigen Blick des Papstes, so gut er konnte. Die Bernini-Fotos waren wie ein rotes Tuch füe ihn, doch die Situation erlaubte ihm weder zu seufzen noch gar zu lachen. Er fuhr zusammen, als der Papst die französischen Bischöfe erwähnte. Er würde sicher einige von ihnen in Straßburg treffen - und einige darunter betrachtete er bereits als enge Verbündete, eine Hand voll schienen sogar geeignet, sich mit ihnen gründlich abzustimmen.

Seine Verwirrung rührte nun daher, dass es stets schwer einzuschätzen war, wie viel dieser Papst eigentlich wusste. »Ja, Euer Heiligkeit.« Seine Eminenz schaffte es, ganz ruhig zu antworten, »kh bete selbst dafür, dass sie die richtige Wahl treffen ... äh, die Wahl, die der katholischen Kirche am meisten nützt.«

Da sie schon beim Thema waren, hatte der polnische Papst einen weiteren Vorschlag zu unterbreiten. »Und vergessen Sie nicht, Eminenz, unsere französischen Bischöfe darum zu bitten, dass sie auch mich in ihre Gebete einbeziehen. Sie wissen ja, dass ich mich, während Sie in Straßburg sind, auf einer Pilgerreise nach Fatima für das Fest der Heiligen Mutter am 13. Mai befinden werde.«

Wenn mit diesem Ansinnen beabsichtigt war den Kardinal zu provozieren, tat es seine Wirkung. Es lag nicht daran, dass der Pontifex wieder einmal mit Nachdruck auf seine beklagenswerte Neigung zu frommen Reisen hingewiesen hatte. Es war eher die Erwähnung Fatimas, die Maestroiannis tiefste Abneigungen weckte. Er war über das Thema Fatima oft mit diesem Papst aneinander geraten, hatte erfolgreich viele wichtige päpstliche Initiativen zugunsten Fatimas und aller anderen angeblichen Marienerscheinungen blockiert, die überall in der Kirche wie Pilze emporschossen.

Lucia dos Santos, die Einzige der drei kindlichen Seher von Fatima, die das Erwachsenenalter erreicht hatte, war inzwischen über achtzig. Als Schwester Lucia, als Nonne, die zurückgezogen in einem Karmeliterkloster lebte, behauptete sie nach wie vor von der Heiligen Jungfrau besucht zu werden und stand seit 1981, als der Anschlag auf sein Leben ihn zu eigenen Nachforschungen in Sachen Fatima veranlasst hatte, brieflich oder über Boten mit dem Papst in Kontakt.

 

Kostbare Einheit gewahrt bleibt

Der Kardinalstaatssekretär wusste wenig oder gar nichts übe die Korrespondenz zwischen dem Papst und der Nonne. Wa er wusste, tat er als irrelevant, unziemlich oder gefährlich ab Aus Maestroiannis Sicht konnte es sich in diesen Zeiten kein anständiges Pontifikat leisten, seinen Kurs von Berichten über angebliche Visionen einer übereifrigen, allzu fantasievollen und senilen Nonne bestimmen zu lassen.

»Euer Heiligkeit.« Der Kardinal hatte eine gewisse Schärfe in seine Stimme gelegt. »Ich halte es für keine gute Idee, Ihre Bischöfe in Frankreich um eine so intensive Mitwirkung an Euer Heiligkeit Besuch in Fatima zu bitten. Niemand, am allerwenigsten diese Bischöfe, dürfte etwas gegen persönliche Ergebenheiten Euer Heiligkeit haben. Aber weil Sie nun einmal in erster Linie der Papst aller Christen sind, hat alles, was Sie tun, auch als Privatperson, notwendigerweise Auswirkungen auf Ihre Rolle als Papst. Euer Heiligkeit wird deshalb Verständnis dafür haben, dass es unklug von mir wäre, die Bischöfe von Frankreich in diesem Punkt zu beunruhigen.«

Den Papst überraschte weniger Maestroiannis Aufregung als die Tatsache, dass der Sekretär seine Meinung so deutlich artikulierte. Er war fast versucht es dabei zu belassen. Dennoch berührte diese Sache den Kern der Feindseligkeiten zwischen ihnen. Zumindest das war es wert, vertieft zu werden. »Wären die Folgen denn wirklich so entsetzlich, wie Euer Eminenz andeuten, wenn Sie meine Bitte um Gebete an die Bischöfe überbrächten?« Die Frage des Heiligen Vaters klang weder empört noch bestürzt. Seinem Tonfall nach hätte er genauso gut irgendjemanden aus seinem Gefolge um einen Rat bitten können.

Maestroianni zögerte keine Sekunde, bevor er schroff erwiderte: »Offen gestanden, Euer Heiligkeit, könnte eine solche Bitte - wenn wir alle Begleitumstände berücksichtigen - die Toleranz einiger Personen erschöpfen.«

Der polnische Papst richtete sich in seinem Stuhl auf. Er hatte immer noch die Fotos der Bernini-Statue in der Hand, aber eine Augen wichen dem Blick des Kardinals nicht aus. »Ja, Eminenz. Bitte fahren Sie fort.«

»Euer Heiligkeit, aus Pflichtgefühl habe ich in den letzten fünf Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das kostbarste Element in der heutigen Kirche Christi - die Einheit zwischen dem Papst und den Bischöfen - auf dem Spiel steht. Mindestens zwei Drittel der Bischöfe sind der Ansicht, dass dieses Pontifikat ihnen nicht die Art von päpstlicher Führerschaft bieten kann, die sie brauchen. All das ist in meinen Augen von solcher Dringlichkeit, Euer Heiligkeit, dass wir, fürchte ich, in nächster Zeit darüber nachdenken müssen, ob - dieser kostbaren Einheit zuliebe - dieses Pontifikat ...«

Der Kardinalstaatssekretär spürte auf einmal, dass er heftig schwitzte, und das beunruhigte ihn. Er wusste, dass er im Vorteil war. Was hatte dieser Papst dann so unnahbar Fremdes oder Unzugängliches an sich, dass es den Kardinal in ein Nervenbündel verwandelte? Mehr um sich selbst zu beruhigen als um dem Pontifex etwas mitzuteilen versuchte Maestroianni ein Lächeln. »... nun, wie können wir es ausdrücken, Euer Heiligkeit? Der Einheit zuliebe muss dieses Pontifikat von Euer Heiligkeit und den Bischöfen neu ausgestaltet werden. Denn ich bin mir sicher, dass auch Euer Heiligkeit daran gelegen ist, dass diese kostbare Einheit gewahrt bleibt.«

»Euer Eminenz.« Der Heilige Vater erhob sich von seinem Stuhl. Sein Gesicht war bleich. In Maestroiannis Innerem ertönten Alarmsirenen. Das Protokoll ließ ihm keine ander Wahl als seinerseits aufzustehen. Hatte er zu viel zu früh gp sagt?

»Eminenz«, wiederholte Seine Heiligkeit. »Natürlich müssen wir über das Thema Einheit reden, auf das Sie so loyal meine Aufmerksamkeit gelenkt haben. Ich verlasse mich auf das Urteilsvermögen Euer Eminenz, was die Bischöfe von Frankreich angeht. Gehen Sie in Frieden.«

»Euer Heiligkeit.« Ob es ihm gefiel oder nicht, die Abschiedsbesprechung war beendet. Er wandte sich ab um durchs Arbeitszimmer zur Tür zu gehen und schob dabei die Papiere in seinem Ordner zurecht.

Maestroianni fühlte sich zum Teil hilflos und enttäuscht. Er hatte seinen Schlussakkord in seiner letzten Unterredung mit dem Papst ungefähr so angeschlagen, wie er es beabsichtigt hatte. Aber mit welchem Ergebnis?, fragte er sich. Schlussendlich gab es einfach keine Möglichkeit, sich mit dem Papst zu verständigen !

Als er an Monsignore Taco Manuguerra vorbei in sein eigenes Büro hastete, waren all diese seine Gefühle - sofern es sich um Gefühle handelte - bereits abgeflaut. Er hatte eben deshalb überlebt, weil er ebenso immun gegen tiefe seelische Qualen wie unfähig zu höherer Ekstase war. Er hatte sich immer an greifbare Fakten gehalten. In den Turbulenzen der Staatskunst war er immer sicher in Sichtweite eines vertrauten Horizonts gelandet. Nur wenn die Ereignisse zu einem Sprung über diese Horizonte ansetzten, hätte das Schicksal Seine Eminenz überrumpelt.

Doch bis heute hatten die Ereignisse diesen Sprung noch nicht geschafft.

 

Der Pontifex rieb sich die Stirn, als wollte er den freudlos bleichen Schleier von seinen Gedanken reißen. Er begann in seinem Arbeitszimmer auf und ab zu gehen und zwang sich, die Bedeutung dieser Abschiedsbesprechung mit dem scheidenden Kardinalstaatssekretär zu ergründen.

Im Grunde hatte sich in dem erregten Gespräch zwischen ihm und Maestroianni am heutigen Morgen nichts Neues ergeben. SeIbst das kleine Geplänkel um die Liste von vatikanischen Delegierten, die der Kardinal für die Feierlichkeiten zum Schuman-Tag zusammengestellt hatte, passte ins gleich bleibende Muster der Auseinandersetzungen zwischen dem Pontifex und seinem Sekretär.

Der Heilige Vater hielt inne und kehrte unzufrieden an seinen Schreibtisch zurück. Ein Gedanke begann vom Horizont seines Geistes auf ihn einzuflüstern, so wie es in den letzten Wochen einige Male geschehen war. Der Druck war so unendlich groß, sagte ihm dieses Flüstern. Es lief so viel falsch und er schien nichts dagegen unternehmen zu können. Vielleicht hatte Maestroianni in gewisser Weise Recht. Vielleicht war die Zeit gekommen eine Alternative zu seinem Pontifikat in Betracht zu ziehen.

Der Papst betrachtete ein weiteres Mal die Fotografie der Bernini-Statue. Er ließ den Ausdruck im Gesicht der heiligen Maria Magdalena auf sich wirken: e.in Ausdruck reiner Transzendenz. »Wenn es keine Transzendenz gibt«, erinnerte sich der Pontifex an eine Zeile bei Friedrich Nietzsche, »müssen wir die Vernunft abschaffen, geistige Gesundheit aufgeben.«

Das, überlegte er, war Inhalt und Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen ihm und Kardinal Maestroianni. Entweder war das Leben vollkommen von Gottes Vorsehung durchdrungen - die vom Glauben an Gott wahrgenommen, von der menschlichen Vernunft akzeptiert und vom Willen erwählt werden konnte - oder eben nicht. Wenn Letzteres der Fall war, dann unterlag alles blinden Zufällen. Dann war das Leben eine hässliche Demütigung, ein erniedrigender kosmischer Scherz gegenüber jedem, der dumm genug war noch Hoffnung zu haben. Der Papst hatte vor langer Zeit beschlossen, an Gottes Vorsehung zu glauben. Mehr als einmal, glaubte er, hatte diese Vorsehung ihn vor einer Katastrophe bewahrt. Wie an jenem Tag in Krakau während des Zweiten Weltkriegs, als er auf den, Heimweg von der Arbeit Halt gemacht hatte um das Herbstlaut beiseite zu räumen, das eine kleine Figur der Heiligen Jungfrau am Wegesrand beinahe unter sich begraben hatte. Freunde hatten ihn dort gefunden und gewarnt, dass die Nazipolizei vor seinem Haus warte. Nur so hatte er sich in Sicherheit bringen können.

Oder an jenem Tag auf dem Petersplatz, als ein Bild der Seligen Jungfrau von Fatima, das ein Kind, die Tochter eines Zimmermanns, sich an die Bluse geheftet hatte, ihn dazu veranlasste, sich hinunterzubeugen um das Kind zu segnen und so die Kugeln aus Ali Agcas Browning-Automatik seinen Schädel verfehlten.

Hätte er in solchen glücklichen Umständen nicht göttliches Wirken gesehen, dann hätte er zu glauben aufgehört. Der Heilige Vater zog bei dem Gedanken scharf Luft ein wie jemand, der einen plötzlichen Schmerz verspürt.

Augenblicklich richtete sich der Papst auf seinem Stuhl auf. Hatte Maestroianni während ihrer Besprechung nicht genau darauf angespielt? Während der vielen Begegnungen dieser beiden Feinde, die einander so gut kannten, hatte der Kardinal in der Absicht, dass der Papst irgendwann bereit sein würde freiwillig aus dem Amt zu scheiden, die Klinge immer näher an seine Kehle herangeführt. Aber diesmal hatte etwas anderes mitgeschwungen. Irgendetwas nagte an dem Papst. Er langte hinüber zur Wechselsprechanlage und gab seinem Sekretär im benachbarten Büro ein Signal.

»Monsignore Daniel, ich nehme doch an, Sie haben meine Unterhaltung mit dem Kardinalstaatssekretär auf Band aufgenommen?« Der Papst erklärte seinem Sekretär, er benötige eine Aufzeichnung der letzten zwei, drei Minuten ihrer Besprechung.

»Kein Problem, Euer Heiligkeit.« Monsignore Daniel spulte den letzten Abschnitt des Bandes zurück und schaltete den Ton durch.

Der Pontifex erinnerte sich an die Schweißperlen, die auf Maestroiannis Gesicht erschienen waren, als habe den Mann ein plötzliches Fieber erfasst. Er lauschte ein zweites Mal aufmerksam den Worten des Kardinals. »... nun, wie können wir es ausdrücken, Euer Heiligkeit? Der Einheit zuliebe muss dieses Pontifikat von Euer Heiligkeit und den Bischöfen neu ausgestaltet werden ...«

Monsignore Daniel hatte das Arbeitszimmer des Papstes betreten, als die Aufnahme noch lief. Während er näher trat, wartete er höflich ab, bis sich der Papst die Äußerungen des Kardinalstaatssekretärs konzentriert zu Ende angehört hatte. Mit einem Klicken blieb das Band stehen.

»Monsignore.« Seine Heiligkeit blickte zu Sadowski auf. Der Sekretär hielt den Atem an,, als er die Müdigkeit im aschfahlen Gesicht des Pontifex bemerkte. »Monsignore, wir haben gerade eine erste Ausfertigung des Todesurteils für dieses Pontifikat erhalten. Ich bin gebeten worden es zu unterzeichnen.«

 

 

IX

 

Sein Stützpunkt, den sich der Kardinal für dieses Stadium seiner anlaufenden Kampagne gegen den Papst ausgewählt hatte, war Straßburgs ältestes und bestes Hotel.

»Ich habe nicht gewusst, dass Euer Eminenz so fin de siècle sind!«, neckte Cyrus Benthoek den Kardinal, als die beiden siel am Freitagabend zum Essen trafen.

Maestroianni war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Das einzig Fin-de-siècle-Gemäße, was Sie an mir feststellen werden, ist meine chiliastische Mentalität!«

Obwohl der Kardinal die Worte hervorpresste, klangen sie deutlich und waren für Benthoek klar verständlich. Seine Eminenz war ganz und gar geschäftsmäßig. Seine Aufmerksamkeit - seine chiliastische Mentalität - konzentrierte sich auf die private Sitzung, die er und dieser amerikanische Vermittler transnationaler Macht in drei Tagen veranstalten wollten, unmittelbar nach Abschluss der offiziellen Gedächtnisfeiern zum Robert- Schuman-Tag.

Angesichts der explosiven Mischung konträrer Persönlichkeiten, die an diesem kleinen Stelldichein teilnehmen sollten, kam es darauf an, sowohl Maestroiannis wie Benthoeks Delegation davon zu überzeugen, dass sie besser ihre persönlichen Ambitionen und Abneigungen beiseite ließen und sich stattdessen auf eine gemeinsame Linie einigten und ihre Handlungen mit mächtigen Gestalten außerhalb des engeren Kreises des Katholizismus und des Christentums abstimmten.

Der Kardinalstaatssekretär referierte vor Benthoek ein weiteres Mal den Hintergrund, die Besonderheiten und den Wert jedes Einzelnen der sieben vatikanischen Weisen, die jene neue Allianz von seiner Seite aus verankern sollten. Der Kardinal begann seinen Überblick mit einer knappen Skizze von Kardinal Silvio Aureatini.

Als Maestroiannis Mann für alle Fälle im Sekretariat gehörte Aureatini zu den Personen, auf deren globalen Einfluss man bauen konnte. Als Leiter des vatikanischen Neuerungsprogramms, das unter der Bezeichnung Erneuerung des Christlichen Zeremoniells - kurz ECZ - bekannt war, hatte Kardinal Aureatini über lange Zeit hinweg Einfluss auf Diözesen und Gemeinden in aller Welt genommen. Unter Aureatinis Anleitung, versicherte Maestroianni Benthoek, hatte sich die Zielrichtung des katholischen Zeremoniells so weit geändert, dass es nun für die allgemeine, nicht katholische christliche Bevölkerung annehmbarer war denn je.

»Und das ist nicht seine einzige Leistung. Aureatini ist außerdem intensiv an der heiklen und langwierigen Reformierung des kanonischen Rechts beteiligt und bemüht sich darum, die päpstlichen Privilegien abzubauen und den Einfluss der Bischöfe zu stärken, damit dieses Recht auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zur Anwendung kommt.«

Das Thema des kanonischen Rechts führte Kardinal Maestroianni zum nächsten Mitglied seiner Delegation. Der sauergesichtige und stets mürrische Kardinal Noah Palombo behauptete nach wie vor die Stellung, die er seit Jahrzehnten innehatte - er war Roms führender Mann in Fragen der Liturgie. Palombo war offiziell mit der Leitung des vatikanischen IRCL betraut, des Internationalen Rats für Christliche Liturgie. Wie der Name andeutete, befasste sich der IRCL mit den allgemein gültigen katholischen Gebeten und Andachtsübungen. Wie Aureatinis ECZ unter den Laien trieb Palombo unter Priestern und Geistlichen die Angleichung zwischen Priestern und Laien, Katholiken und Nichtkatholiken voran.

Der dritte Mann auf Maestroiannis Liste, Seine Eminenz Kardinal Leo Pensabene, war ein Ein-Mann-Kraftwerk. Pensabe hatte über zwanzig Jahre lang diplomatische Ämter in Nord- und Südamerika bekleidet.

Wieder in Rom und in den Rang eines Kardinals befördert hatt er schnell herausragende Bedeutung als Anführer einer der mächtigsten Gruppen im Kardinalskollegium gewonnen - jene Kardinäle, die das größte Mitspracherecht hätten, wenn das nächste Konklave den Nachfolger des derzeitigen Papstes wählen würde.

Als Zuständiger für die Kommissionen für Gerechtigkeit und Frieden in Rom und überall in der katholischen Kirche war Kardinal Pensabene außerdem ein versierter Kenner der sozialpolitischen Aktivitäten von Staat und Kirche. Durch die Bischöfe der Welt hatte Leo Pensabene unablässig die soziale und politische Tagesordnung der Kirche umgestellt und neu geschrieben, sodass sie seiner Vision eines gründlich verwalteten, diesseitigen Königreichs der Einheit, des Friedens und des Wohlstands entsprach.

»Und Ihr Nachfolger als Staatssekretär, Eminenz?« Benthoek wandte seine Aufmerksamkeit Erzbischof Giacomo Graziani zu. »Wie sehen Sie seine Rolle in der Sitzung?«

»Still und nicht mit Ärger verbunden, Cyrus. Wie der slawische Papst mir gegenüber schon so treffend sagte, ist diese Sitzung eine günstige Gelegenheit für Erzbischof Graziani sich bekannt zu machen, während er sich darauf vorbereitet, seinen Dienst im Staatssekretariat anzutreten.«

Damit waren noch drei Namen auf Maestroiannis Delegiertenliste übrig: Michael Coutinho, General des Jesuitenordens, Generalminister Viktor Venable, Ordensgeneral der Franziskaner, und nicht zuletzt der alte und sturmerprobte Kardinal Svensen aus Belgien, von dem die nette Idee stammte die Bischöfe von Europas Kernland näher an die lukrativen Zirkel - und die politischen Schmelztiegel - der Europäischen Gemeinschaft heranzuführen.

Als Ordensgeneral der Jesuiten galt Michael Coutinho im Vatikan zum Beispiel traditionell als das Haupt aller Oberen der großen geistlichen Orden. Sein Einfluss auf die anderen Orden und religiösen Vereinigungen war immens. Und wenn jemand den Einfluss der Jesuiten auf das gemeine Volk in der Welt unterchätzte, dann konnte ihn ein Blick in die Länder der Dritten Welt eines Besseren belehren. Vor allem durch ihren Beitrag zur Befreiungstheologie hatten die Jesuiten eine führende Rolle gespielt, als es darum ging, den lateinamerikanischen und philippinischen Katholizismus aus ihrer willigen Akzeptanz der traditionellen Autoritäten heraus- und in die Kontroverse um bewaffnete Guerillabewegungen und politisches Handeln auf militanter Ebene hineinzuführen. Die antipäpstliche Gesinnung war inzwischen zum Markenzeichen der Jesuiten geworden.

Victor Venable, Generalminister der Franziskaner, war eine ebenso beeindruckende Gestalt. Während die Jesuiten Millionen Katholiken von einer Theologie des transzendentalen Glaubens abgebracht hatten, und zwar zugunsten einer humanistischen Theologie im Westen und einer Theologie der diesseitigen sozialpolitischen Revolution in der Dritten Welt, hatten die Franziskaner mindestens ebenso viele Millionen vom Personenkult weggeführt, wie er früher für die römischen Katholiken in aller Welt so typisch gewesen war.

Indem sie die charismatische Bewegung förderten, hatten sich die Franziskaner stattdessen die nunmehr revidierten und entpersonifizierten Konzepte eines »neuen Himmels« und einer »neuen Erde« und - als durchaus erreichbares Ziel - des Friedens unter allen Menschen zu Eigen gemacht. Der Einfluss der Franziskaner auf die Newage-Bewegung und ihre breite Anerkennung unter den Protestanten hatten bereits ökumenische Brücken geschlagen, die sonst unmöglich gewesen wären Einig in ihrer Überzeugung, dass der Jesuit Coutinho und der Franziskaner Venable zu der Sorte von Brückenbauern gehörten, die unbedingt in die neue Allianz eingebracht werden mussten, wandten Maestroianni und Benthoek ihre Aufmerksamkeit dem pensionierten, doch noch immer energischen belgischen Kardinal Piet Svensen zu.

Wie Maestroianni vermutet hatte, war Svensen von Benthoek bereits gründlich unter die Lupe genommen worden. Offenbar hatte Svensen die Prüfung bestanden. Und das aus gutem Grund: In seinen jungen Jahren war der Belgier der maßgebliche Architekt und Konstrukteur der rücksichtslosen parlamentarischen Taktik gewesen, die den vatikanischen Rat zur Zeit des guten Papstes von seinem ursprünglichen Kurs gebracht hatten. Klug, wagemutig, stets selbstsicher, in seiner Seele entschieden antirömisch, mit lückenhaften theologischen Grundkenntnissen, doch fast messianisch in seiner Überzeugung von der eigenen historischen Rolle hatte Svensen Kontakte zu den höchsten Rängen der Europäischen Gemeinschaft und war überall beliebt.

»Seine Frömmigkeit hat etwas Pfingstliches.« Benthoek lachte. »Man sagt, er habe die Angewohnheit von der Kanzel gelegentlich minutenlang unzusammenhängendes Zeug zu brabbeln - eine ihm eigene Gabe, >mit fremden Zungen zu sprechen< behauptet er. Aber Ihre Einschätzung des Belgiers hat den Nagel auf den Kopf getroffen, Eminenz. Er ist als so brutal ehrlich und rational bekannt, wie man es nur von einem guten Flamen erwarten kann. Wir müssen ihn unter allen Umständen für unser Bündnis gewinnen. Und bevor wir Straßburg verlassen, müssen wir unsere Pläne für Svensens Brückenschlag zwischen den europäischen Bischöfen und der EG konkretisieren.«

Arn Sonntag, dem 12. Mai, als ihnen noch ein Tag blieb, bis das offizielle Programm für die Schuman-Feierlichkeiten ihre ganze Zeit beanspruchen würde, brachte ein Mietwagen mit Chauffeur die beiden zu einer weiteren Arbeitssitzung hinaus in den Sandgau. Entlang der »Rue de la Carpe frite« wo sie auch jenen schmackhaften Fisch probierten, der sie so berühmt gemacht hatte, drehten sich ihre Diskussionen vornehmlich um Cyrus Benthoeks Gäste auf der Sitzung im Anschluss an die offiziellen Feierlichkeiten. Unter den fünf Personen, die Benthoek aus diesem Anlass um sich versammelt hatte, befanden sich vier Laien.

Nicholas Clatterbuck war ein Mann, der dem Kardinalstaatssekretär schon einige Male begegnet war. Er war der leitende Angestellte der Londoner Hauptgeschäftsstelle von Cyrus' transnationaler Anwaltskanzlei Crowther, Benthoek, Gish, Jen & Ekeus. Als Benthoeks rechte Hand in seinem Stammbüro war er ganz selbstverständlich an einem solchen Unternehmen beteiligt.

Außerdem nahmen zwei Mitglieder von Benthoeks internationalem Beraterstab teil: Serjoscha Gafin, ein Moskowiter, und Otto Sekuler aus Deutschland. Cyrus beschränkte sich auf einige knappe Bemerkungen über die beiden. »Zusammengenommen kennen sie jeden, der im neuen System der UdSSR, das sich allmählich herausbildet, einen Namen hat; und das wird für jedvis Ostblockland von Bedeutung gelten.«

Der vierte Laie war in letzter Minute hinzugenommen worden. »Gibson Appleyard lautet sein Name, Eminenz. Seine Empfehlungen sind interessant: Nachrichtendienst der US-Marine, ausgeliehen an das amerikanische Außenministerium. Er 'ttacnt ständig an den unmöglichsten Orten Urlaub um zu an-8em. Er soll natürlich kein stimmberechtigtes Mitglied der Gruppe sein. Ich meine, er wird keine Regierungsstelle vertreten. Aber er hat mich zufällig aus Washington angerufen und es erschiene mir - nun, ich würde sagen - nützlich, wenn er sich uns in einer inoffiziellen Funktion anschließt, falls Sie wissen, was ich meine.«

Maestroianni wusste durchaus, was sein Freund meinte. Und er teilte Cyrus Benthoeks Hoffnung, dass Appleyard selbst als inoffizieller Vertreter der Regierung der Vereinigten Staaten zumindest einige wertvolle Eindrücke von der geschlossenen Sitzung in Straßburg mit nach Hause nehmen würde. Apple. yard hätte mindestens die Gelegenheit sich selbst eine Meinung zu bilden, warum der gegenwärtige Papst der neuen Weltordnung im Weg stand. Und er würde auch erfahren, dass alles was Benthoek und Maestroianni vorschlugen, mit der aktuellen US-Politik vereinbar war.

Der einzige Geistliche unter Benthoeks Gästen in Straßburg war ein Mann, den Kardinal Maestroianni mit besonderer Freude einführte. Der Reverend Herbert Tartley war Mitglied der Kirche von England, der gegenwärtig der englischen Krone und dem Erzbischof von Canterbury als Sonderberater diente. Es bestand kein Zweifel, dass er sich früher oder später auf den Stuhl von Canterbury hochdienen würde. Maestroianni wusste, dass es immer Spekulationen über das Vermögen der englischen Krone geben würde.

Aber der Kardinalstaatssekretär glaubte in der englischen Krone die charakteristischen Züge eines Machtsystems zu erkennen, das sich auf profundeste Kenntnisse all dessen, was auf der Welt vor sich ging, stützte. Einer Macht, die auf Fundamenten ruht, die so tief in der westlichen Zivilisation verankert waren, dass sie so lange wie diese Zivilisation selbst zu überdauern vermochte. Maestroianni wusste auch, dass das Machtsystem, in das die englische Krone eingebettet war, nichts mit einem transzendenten Gott zu tun hatte, geschweige denn damit, sich Jesus von Nazareth, dem Gekreuzigten, als der zentralen Gestalt der Heilsgeschichte zu unterwerfen; dass Reverend Herbert Tarley ein aufgehender Stern in der Kirche von England war; dass es sich bei der Kirche von England um ein historisches Anhängsel des Throns handelte; und dass alle drei zusammengenommen eine Art Eintrittskarte in die ausschließlich menschenbezogene Zukunft in der kommenden neuen Ordnung der Menschheit darstellten.

Als er am Sonntagabend schließlich in seine Suite im Palais d'Alsace zurückkehrte, war Staatssekretär Kardinal Maestroianni mit der Arbeit dieses Wochenendes ungemein zufrieden. Seine Eminenz schlief immer gut, wenn er auf den kommenden Tag vorbereitet war.

 

Es gibt keine »Straße der gebackenen Karpfen« im Vatikan. Und auf der Tagesordnung des polnischen Papstes für Sonntag, den 12. Mai, standen keine müßigen Ausflüge. Heute war der Tag seiner Abreise zu den Feierlichkeiten in Fatima, über die der Kardinalstaatssekretär sich so erregt hatte. Um halb vier Uhr nachmittags begaben sich der Papst und sein Sekretär Monsignore Daniel Sadowski gemeinsam mit einigen persönlichen Untergebenen des Heiligen Vaters eiligen Schrittes zum wartenden Helikopter der Alitalia. Ihr Abflug nach Fiumicino rand genau zum vorgesehenen Zeitpunkt statt, so wie auch ihre Weiterreise von Fiumicino nach Portugal. Gegen halb neun an diesem Abend hatte Seine Heiligkeit wohlbehalten seine Unterkunft in Fatima erreicht.

Nach einem verspäteten Abendessen trafen sich der Papst und Sadowski mit dem Bischof von Fatima-Leiria und den örtlichen Organisatoren, um sich über den Ablauf der morgigen Ereignisse anlässlich des vierundsiebzigsten Jahrestages der ersten Erscheinung der Heiligen Jungfrau Maria vor drei Hirtenkindern aus Fatima zu informieren. Am Morgen sollte das Pontifikalhochamt stattfinden. Die Privataudienzen, die darauf folgten, waren so zahlreich, dass sie sich bis weit in die Nachmittagsstunden hinziehen würden. Das Treffen der Jugend - für diesen Papst immer ein wichtiger Bestandteil - war für de frühen Abend vorgesehen.

Nach Einbruch der Dämmerung sollte der öffentliche Teil des Papstbesuches in einer Messe und Prozession bei Kerzenlicht ihren Höhepunkt finden.

»Alles in allem, Euer Heiligkeit«, hob der Bischof mit sichtlicher Zufriedenheit hervor, »werden morgen gut anderthalb Millionen Menschen zugegen sein. Zu dem Jugendtreffen allein erwarten wir eine Million. Und zur Messe bei Kerzenlicht eine Viertelmillion bis dreihunderttausend. Und all das wird von Radio und Fernsehen in ganz Europa und anderen Kontinenten übertragen.«

»Etwas Wichtiges, Exzellenz.« Es war der Papst, der eine Frage an den Bischof richtete. »Ich finde hier mein Treffen mit Schwester Lucia nicht erwähnt. Das war sicher ein Versehen, Exzellenz. Wann wird es stattfinden?«

»Ich dachte, Euer Heiligkeit sind sich bewusst ...« Der Bischof war um die rechten Worte verlegen.

Seine sichtbare Verwirrung erfüllte den Pontifex mit plötzlicher Sorge. Lucia lebte in den Seelen von Hunderten Millionen Menschen überall auf der Welt als die einzige Überlebende der drei kindlichen Seher von Fatima. Aber sie war inzwischen eine greise Frau, weit über achtzig. Deshalb war es verständlich, dass Seine Heiligkeit sich im ersten Moment um die Gesundheit der Nonne sorgte. »Bewusst?«, griff Seine Heiligkeit das letzte Wort auf. »Wessen bewusst, Exzellenz? Wo ist die Schwester. Ist sie krank?«

»Schwester Lucia geht es gut, Heiliger Vater. Damit hat es nichts zu tun.« Der Bischof blinzelte. »Sie ist in ihrem Nonnenkloster in Coimbra, einige Kilometer nördlich von hier.«

»Womit hat es dann zu tun, Exzellenz? Also noch einmal: Wann wird Schwester Lucia in Fatima eintreffen?«

Völlig außer Fassung tastete der Bischof nach seiner Aktentasche.

»Ich dachte, Euer Heiligkeit wüssten davon ... Ich habe sie hier … irgendwo unter diesen Papieren ... Da ist sie ja. Eine Kabeldepesche vom Kardinalstaatssekretär, die den Bann erneuert ...«

Er brauchte nichts weiter zu erklären. Als der Papst ihm die Kabeldepesche abnahm und durchlas, verstand er alles. Vor vier Jahren hatte Seine Eminenz Kardinal Maestroianni der Schwester Lucia jeglichen Kontakt zur äußeren Welt untersagt. Unter Androhung der Exkommunizierung durfte Lucia keine Besucher mehr empfangen. Sie durfte keine öffentlichen Erklärungen über die Botschaft von Fatima und damit verbundene Themen abgeben. Und vor allem war es ihr verboten, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Kardinals ihr Nonnenkloster zu verlassen oder auch nur einen Fuß nach Fatima zu setzen. Mit grimmiger Miene gab der Pontifex die Kabeldepesche an Monsignore Daniel weiter.

 

Monsignore wählte Generalmeister Damien Slatterys Nummer im Angelicum in Rom und reichte dann dem Papst das Telefon. Binnen wenigen Sekunden begriff Slattery die Situation. Er bat den Heiligen Vater, ihm das Datum und die Codenummer auf der Kabeldepesche vorzulesen.

»Ich rufe Euer Heiligkeit in spätestens einer Stunde zurück. Über die private Leitung natürlich.«

Slattery befahl sofort seinen Wagen vorzufahren. Dann rief er Maestroiannis Sekretär Monsignore Taco Manuguerra an, um herauszufinden, wen Seine Eminenz als Stellvertreter während seiner Abwesenheit eingesetzt hatte.

Manuguerra wand sich. »Seine Eminenz ist bis Dienstag unterwegs, Pater General ...«

»Ja, Monsignore, das weiß ich selbst.« Slattery war seine Aufregung deutlich anzuhören. »Erzbischof Buttafuoco ist als stellvertretender Staatssekretär eingesprungen. Finden Sie ihn und richten Sie ihm aus, dass ich ihn in zwanzig Minuten in seinen, Büro im Sekretariat sehen will.«

»Um diese Stunde, Pater General? Wie soll ich ihm erklären ...?«

»In zwanzig Minuten, Monsignore!«

 

Als der weiß gewandete Riese von einem Dominikaner wie ein zorniger Geist in Canizio Buttafuocos Büro im verwaistet zweiten Stock des Papstpalastes stürmte, ging der Erzbischof auf dem Teppich auf und ab um seine Nerven zu beruhigen Wie Taco Manuguerra und jeder andere im Vatikan kannte ei Damien Slatterys privilegierte Position im päpstlichen Haushalt. Slattery kam gleich zur Sache.

»Bitte lesen Sie mir Kabeldepesche Nummer 207-SL vor.«

Buttafuoco gehorchte.

»Auf wessen Geheiß ist diese Depesche geschickt worden?«

»Auf Geheiß des Kardinalstaatssekretärs, Pater.«

»Sehr gut, Exzellenz. Als stellvertretender Sekretär werden Sit mich freundlicherweise in den Senderaum begleiten, wo Sie mil einer zweiten Depesche diese hier aufheben sollen.«

Erzbischof Buttafuoco fing an zu schwitzen. »Das kann ich nicht tun, ohne mich vorher mit Seiner Eminenz zu beraten«

Slattery stand bereits an der Tür. »Damit Ihnen eines ganz klar ist, Exzellenz: Dies ist ein Befehl des Heiligen Vaters. Wenn Sie sich weigern, werden Sie für den Rest Ihrer Dienstjahre Säuglinge in Bangladesch taufen. Und wenn jemand Ärger bekommen wird, dann bin ich das. Und wenn Sie nicht vorsichtig sind, könnten Sie sich sogar als Held erweisen - ganz gegen Ihre Natur.«

Binnen fünfundvierzig Minuten nach dem Anruf des Heiligen Vatgers konnte ein zufriedener Generalmagister Seine Heiligkeit telefonisch darüber unterrichten, dass eine Kabeldepesche an die Mutter Oberin von Schwester Lucias Kloster in Coimbra geschickt worden sei.

Kurz darauf hatte die Mutter Oberin den stellvertretenden Staatssekretär angerufen um sich zu vergewissern, dass die Depesche aus dem Sekretariat stammte und offiziellen Charakter hatte.

Die Stimme des Pontifex klang gelöst. »Dann wird Schwester Lucia morgen zum Hochamt in Fatima sein, Pater General?« »Das wird sie, Heiliger Vater. Sie wird morgen an dem Hochamt teilnehmen. Und sie wird für eine Privataudienz mit Euer Heiligkeit bleiben.«

 

In den frühen Morgenstunden wurde Staatssekretär Kardinal Maestroianni im Palais d'Alsace in Straßburg von einem Anruf der Hotelrezeption aus seinem traumlosen Schlaf gerissen.

»Verzeihen Sie, Eminenz«, entschuldigte sich der Nachtportier. »Aber aus Rom ist eine dringende Kabeldepesche für Sie eingetroffen.«

Der Kardinal griff nach seinem Morgenrock. »Lassen Sie sie sofort heraufbringen.«

Die Nachricht stammte von Erzbischof Canizio Buttafuoco. Sie enthielt im Wesentlichen den Text einer Depesche, die er an Schwester Lucias Kloster in Coimbra geschickt hatte und die anordnete, dass die Nonne am folgenden Morgen, dem dreizehnten Mai, in Fatima erscheinen solle. »Der Generalmagister«, hatte Buttafuoco als einzige Erklärung hinzugefügt.

»Schon wieder Slattery.« Maestroianni schüttelte den Kopf und legte die Depesche beiseite. Realist, der er war, stieg er ins Bett zurück und schloss die Augen. Ein kleines Scharmützel würde nicht die große Schlacht entscheiden. Und mit Slattery würde er schon noch fertig werden. Früher oder später wäre auch er aus dem Weg geräumt.

 

 

X

Jeder Augenblick der offiziellen Gedächtnisfeiern zum Schuman-Tag am Montag, dem 13. Mai, war, so schien es Kardinal Maestroianni, ganz vom Geist Robert Schumans erfüllt. Von seinem Platz irgendwo in Gottes Ewigkeit sah dieser ruhige, geduldige Mann durch seine Hornbrille herab und lächelte.

Der erste Teil der offiziellen Feiern - ein Kongress aller Delegierten - fand im großen Palais de l'Europe am Ufer der Ill statt Es herrschte eine so herzliche, ja freundschaftliche Atmosphäre, dass selbst der übliche und akzeptierte Chauvinismus unter den Nationen beiseite blieb.

Die Franzosen gaben sich zurückhaltend. Die Deutschen nahmen eine Haltung des Leben-und-leben-Lassens an. Die Italiener priesen Robert Schuman ohne auch nur den geringsten italienischen Anteil an seiner Kultur zu behaupten. Die Briten redeten, als seien sie nicht weniger Europäer als alle anderen und als bedeute ihnen Schuman so viel wie Winston Churchill' In seiner eigenen kurzen Ansprache überbrachte Staatssekreta Kardinal Maestroianni den Segen des Heiligen Vaters beinah Wort für Wort, so wie ihm vom Pontifex erst vor drei Tagen aufgetragen. »Jeder Teilnehmer an diesem Kongress« - dabei lächelte der Kardinal alle an - »arbeitet an einem bedeutenden Projekt. Das Europa, an dem wir bauen, ist die Zukunftshoffnung vieler Millionen Menschen.«

 

Kardinal Maestroianni fand Cyrus Benthoek schnell in der sich sich nach dem Mittagessen verstreuenden Menschenmenge. Gemeinsam spazierten sie durch die Gärten, genossen beide die Gegenwart des anderen, wie es nur alte Freunde können, und schwelgten in der Vorfreude auf das private Treffen, das endlich beginnen sollte.

»Hören Sie, Eminenz.« Benthoek hob beide Hände zur vertrauten Orans-Geste, als huldige er einer unsichtbaren Präsenz. »Lauschen Sie einfach der Stille!«

Als sie sich der Stelle näherten, die sie für ihr zurückgezogenes Gespräch ausgesucht hatten, reagierte Seine Eminenz mehr auf die Stimme als auf die Worte seines Begleiters.

»Ich glaube, in diesen Tagen genießen wir alle einen besonderen Segen.«

 

In der großen Halle war unter Nicholas Clatterbucks Anleitung alles perfekt hergerichtet worden. Vor jedem Stuhl lag auf einem langen Konferenztisch ein Ordner mit biografischen Notizen zu jedem der wichtigsten Teilnehmer. Obwohl alle wussten, warum sie hier waren, hatte Clatterbuck eine kurze Zusammenfassung der allgemeinen Tagesordnung für diese Sitzung beigefügt. Die Assistenten einiger Delegierter blätterten noch ein letztes Mal durch die Unterlagen, bevor die Veranstaltung begann. Bald würden sie auf den Stühlen Platz nehmen, die für das Personal ein Stück abseits an der Wand bereitstanden. An der gegenüberliegenden Wand standen Tischreihen, großzügig mit Straßburger Delikatessen und einer Auswahl von Weinen und Mineralwasser angerichtet.

Unter den Gruppen, die sich bereits in der Halle befanden, sah Maestroianni seine drei römischen Kardinäle und Erzbischof Graziani, die gemeinsam dem belgischen Kardinal Piet Svensen zulächelten. Mit seiner massigen Gestalt und den großen, hervorstehenden Augen im ernsten Gesicht war Svensen, während er die vatikanischen Vertreter mit seinen bunt schillernden Er. innerungen unterhielt, ganz offensichtlich in seinem Element Kardinal Silvio Aureatini - tadellos gekleidet in die prachtvollen Amtstracht, die seinem Rang als dem jüngsten unter den vatikanischen Kardinälen entsprach - hörte mit offenkundigem Vergnügen zu. Aureatini wurde allmählich etwas pausbäckig. Selbst die sonst so säuerlichen Züge des Kardinals Noah Palombo, des für Liturgie und kanonisches Recht Zuständigen, lösten sich so weit, dass man fast von einem Lächeln reden konnte, als er sich Seite an Seite mit dem leichenblassen und hageren Pensabene Svensens Geschichten anhörte. Auch Erzbischof Giacomo Graziani, der designierte Staatssekretär, hatte sich der Gruppe angeschlossen. Geschäftsmäßig, von beeindruckender Größe und angenehmer Erscheinung, hatte er bereits schwer an der Last des Amtes zu tragen, das ihn bald zum zweiten Mann nach dem Papst machen würde.

Maestroianni und Benthoek waren gerade im Begriff sich der Gruppe anzuschließen, als Cyrus seinen Namen rufen hörte. Die beiden drehten sich um und sahen einen kleinen, kräftig ge' bauten, breitschultrigen Burschen, ein Glas Wein in der Hand, vom Tisch mit den Erfrischungen auf sie zukommen.

»Darf ich Ihnen Serjoscha Gafin vorstellen, Eminenz.« Benthoek klopfte dem russischen Vertreter in seinem internationalen Stab freundlich auf die Schulter. »Er ist ein bezaubernder Konzertpianist. Und er kann Sie mit Schilderungen aus seinem geliebten Russland und alles Slawischen regelrecht in seinen Bann schlagen.«

Benthoeks zweiter internationaler Berater schloss sich den dreien an. Statt abzuwarten, bis Cyrus ihn vorstellte, machte er eine steife Verbeugung. »Seine Ehrwürdige Eminenz, ich bin Otto Sekuler.« Die Stimme des Deutschen klang schneidend scharf und herausfordernd. Der kerzengerade Rumpf und die breiten Schultern, der Stiernacken, die stahlgerahmte Brille und der spiegelglatte kahle Schädel erinnerten Seine Eminenz an all die Nazibeamten, von denen er in seiner langen Karriere gehört hatte. Immer noch lächelnd wandte der Kardinalstaatssekretär den Blick von Sekuler ab und sah Cyrus fragend an. Luchsäugig wie immer, wenn es um die Reaktionen des Kardinals ging, nickte Benthoek einfach leicht mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Warten Sie's ab.«

Zu der schnell wachsenden Gruppe um den römischen Kardinal und den amerikanischen Transnationalisten gesellte sich ein weiterer Gast Benthoeks. Noch bevor er ihm vorgestellt wurde, erkannte Maestroianni alle klassischen Merkmale eines Anglosassone. Gibson Appleyard war der Amerikaner schlechthin - muskulös gebaut, mit glatter Haut, sandfarbenem, mit grauen Strähnen durchzogenem Haar und einem offenen Blick.

»Freut mich Euer Eminenz kennen zu lernen.« Appleyard erwiderte Cyrus' Vorstellung mit einem gewöhnlichen, keineswegs scherzhaft gemeinten Händedruck. Als Mann von Mitte fünfzig schien er dem Kardinal der ideale Nachrichtendienstler. abgesehen von seiner ungewöhnlichen Größe hatte er nichts Merkenswertes an sich. Wie die meisten Angelsachsen ver-8a» man Appleyard schnell wieder.

»Nun, dies ist ein historischer Augenblick, meine Herren.« Mit der ihm eigenen, quasiliturgischen Geste segnete Benthoek die seltsam bunt gemischte Versammlung von Fremden und Klerikern aus dem inneren Kreis des römischen Katholizismuzs.

»Er wird Früchte tragen. In rauen Mengen.«

Wie auf ein Stichwort hin erschien Nicholas Clatterbuck in Begleitung Reverend Herbert Tartleys, des Vertreters der Kirche von England, der sich, adrett und bei bester Laune, mit seinem runden Kragen, dem schwarzen Priestergewand und den Gamaschen, ob seiner Verspätung vielmals entschuldigte. Vor der Halle und entlang der Wände des kleinen Trianon nahm Clatterbucks kleine, bis dahin unauffällige Armee aus Leibwächtern ihre zugewiesenen Posten ein.

 

Die Sitzordnung war einfach und übersichtlich. Auf der einen Seite des Tisches nahm Kardinal Maestroianni den Ehrenplatz in der Mitte ein. Die Mitglieder seiner Delegation zu beiden Seiten von ihm bildeten eine farbenfrohe Phalanx mit ihren juwelenbesetzten Kreuzen vor der Brust, ihren Soutanen mit den roten Knöpfen, ihren Schärpen und Käppchen. An der Wand hinter der vatikanischen Abordnung saßen, wie eine Reihe menschlicher Zimmerpflänzchen, schweigend die zwei bis drei Assistenten und Berater, die jeder Teilnehmer mitgebracht hatte.

Maestroianni gleich gegenüber saß Cyrus Benthoek. Er hatte Reverend Tartley als Ehrengast unmittelbar zu seiner Rechten gesetzt. Eher Beobachter denn Delegierter ignorierte Gibson Appleyard die Sitzordnung und suchte sich einen Platz ein Stück abseits von den anderen.

Angesichts der antipäpstlichen Ausrichtung dieser Sitzung war es den beiden Veranstaltern sinnvoll erschienen, dass Cyrus Benthoek den Vorsitz übernahm. Er stand auf um die VeraH' staltung zu eröffnen und sah die versammelten Delegiertetl nacheinander an.

Was er vor sich hatte, war in Wirklichkeit eine bunte Mischung von Leuten, die untereinander ebenso zerstritten waren wie mit dem Papsttum. Die reservierte Stimmung - das tief empfundene Misstrauen - schwebte wie eine Wolke über der Versammlung. Dennoch spürte jeder Anwesende die Autorität in den den starren blauen Augen des Amerikaners. »Wenn ich Ihre Namen aufrufe, meine lieben Freunde«, begann Benthoek mit klarer, lauter Stimme das Eis zu brechen, »erheben Sie sich bitte, .damit wir Sie sehen können. Sofern Sie Assistenten und Berater mitgebracht haben, möchten Sie sie uns bitte vorstellen.«

Nachdem diese Prozedur beendet war, kam Benthoek zum eigentlichen Thema. »Der Grund, meine Freunde, warum wir uns auf eine so formlose Weise getroffen haben, ist zunächst einmal der, dass wir uns kennen lernen wollen. Dass wir uns der Ressourcen und Stärken bewusst werden wollen, die wir in ein lohnenswertes Unternehmen einbringen können. Dann wollen wir uns einen Eindruck - wenn auch vielleicht keine endgültige Aufklärung - verschaffen, ob wir alle als Individuen oder als Gruppe schon zu einer Einstellung gefunden haben, was dieses besondere und wichtige Unternehmen angeht.« Benthoek schlug nun einen vertraulichen Ton an, der dennoch um keine Spur weniger autoritär klang. »Freunde, wir können heute Abend in völliger Offenheit reden. Ohne Ausnahme sind wir alle hier am Wohlergehen der römisch-katholischen Kirche interessiert.« Es entstand ein wenig Unruhe, als Kardinal Palombo sich in seinem Stuhl zurechtrückte.

»Wir alle schätzen diese Kirche« - Benthoek gönnte Noah Pal'ombo ein brüderliches Lächeln - »nicht nur als eine verehrungswürdige und jahrtausendealte Institution. Für die Mehrheit unserer ehrwürdigen Gäste heute Abend ist die Kirche von Rom die Kirche ihrer Wahl.« Ein Blick aus blauen Augen überflog all die Schärpen und Knopfreihen auf Maestroiannis Seite des Tisches und richtete sich dann auf die ganze Versammlung.

»Aber was noch wichtiger ist: Diese römisch-katholische Kirche hat einen unschätzbaren Wert für uns alle. Einen überaus wichtigen Wert als ein stabilisierender Faktor - sozial, politisch und ethisch.« Benthoek machte eine Pause und ließ seine Worte wirken. »Und vor allem ist diese Kirche eine conditio sine qua non für die Etablierung der neuen Weltordnung unter den Menschen.«

Seine Stimme hatte nichts Leichtes mehr, als der Amerikaner zu seiner ersten Hauptaussage kam. »In der Tat, meine lieben Freunde. Obwohl ich selbst kein römischer Katholik bin, wage ich zu behaupten, dass in dem Fall, dass die Kirche durch irgendwelche unglücklichen Umstände von einem Tag zum anderen verschwände, ein klaffender Riss in der Gemeinschaft der Nationen zurückbliebe. All unsere menschlichen Institutionen würden von diesem Riss verschlungen wie von einem schwarzen Loch des Nichts. Nichts - nicht einmal eine menschliche Kulturlandschaft - bliebe noch übrig. Ich akzeptiere dies als eine harte, unbestreitbare Tatsache unseres Lebens, ob sie uns gefällt oder nicht. Also, meine lieben Freunde: Freuen Sie sich wie ich darüber, dass wir die Schlüsselgestalten dieser wertvollen und verehrungswürdigen Institution heute Abend bei uns haben.«

Kardinal Maestroianni führte in Gedanken eine Checkliste der Punkte, die Benthoek ansprach. Erstens: Für die praktischen Erwägungen der neuen Allianz blieb die römisch-katholische Kirche als institutionelle Organisation unentbehrlich. Als Institution war die Kirche nicht das Ziel. Abgehakt. Zweitens: Der Kardinal und seine Delegation waren hier als potenzielle Verbündete in dem Bestreben diese Organisation nach den Zielen dessen auszurichten, was Benthoek »eine neue Weltordnung unter den Menschen« genannt hatte. Abgehakt. Drittens: Der erste Schritt ihrer Zusammenarbeit bestand darin, die historische Trennung zwischen den Personengruppen zu beiden Seten des Tisches aufzuheben. Abgehakt.

Seine Eminenz wurde von seiner Liste abgelenkt, als die Aufmerksamkeit im Saal sich Michael Coutinho zuwandte, dem Ordensgeneral der Jesuiten. Coutinho hatte die Hand gehoben, um anzudeuten, dass er etwas zu sagen hatte, bevor es weiterging.

»Ja, Pater General.«

Michael Coutinho saß steif da. Wie jeder Jesuit trug er weder Schmuck noch Zeichen seiner Würde auf dem schwarzen Amtskleid. Anders als andere Jesuiten allerdings war der Ordensgeneral der Gesellschaft Jesu - was besonders für Coutinho galt - im Vatikan und überall auf der Welt als »der schwarze Papst« bekannt. Jahrhundertelang war damit zutreffend die enorme weltweite Macht und das Ansehen des Jesuitenordens in seinem verschworenen Eintreten für Papst und Papsttum beschrieben worden. In letzter Zeit allerdings war es eine ebenso zutreffende Beschreibung der gemeinschaftlichen jesuitischen Opposition gegen den Heiligen Stuhl geworden. So wie schwarz weiß entgegengesetzt ist, so stand der schwarze Papst in Opposition zum weißen Papst.

Der Jesuit versuchte seine Ungeduld nicht zu verhehlen. »Wir haben nur wenig Zeit, Mr. Benthoek. Ich glaube, wir sollten gleich zur Sache kommen. Seien wir offen. Unter den verschiedenen Gruppen, die hier vertreten sind« - Coutinhos Blick ließ niemanden zu beiden Seiten des Konferenztisches aus - »gibt es meiner Meinung nach keine zwei, die sich darüber einig wären, wie die Politik des Heiligen Stuhles - und die Verwaltung der Kirche - in Zukunft aussehen soll. Ich bin der Überzeugung, dass jeder von uns für eine andere Organisationsform der Kirche stimmen würde.

Zugleich hat unser geschätzter Mr. Benthoek begriffen, dass wir trotz all unserer Differenzen in einem entscheidenden Punkt übereinstimmen: Wir sind uns alle darin einig, dass ein radikaler Wandel erforderlich ist. Ein radikaler Wandel auf höchster Ebene.« Wie schon zuvor pflichteten einige mit einem Nicken bei. »Was wir jetzt unternehmen müssen, ist deshalb leicht zu sagen. Wir müssen uns in einem entscheidenden Punkt einig sein: dass ein radikaler Wechsel an der Spitze der Kirche nötig ist. Wenn uns wenigstens das heute Abend gelänge, dann könnten wir als Konsequenz daraus Richtlinien formulieren, mit welchen Maßnahmen dieser Wandel herbeigeführt werden kann und welche Reichweite diese Maßnahmen haben sollten.«

Hervorragend!, dachte Maestroianni. Nicht einmal Cyrus selbst hätte das Ziel dieser Sitzung besser oder deutlicher formulieren können. Wenn sie sich heute Abend über ihre Mission einig wurden, konnten sie einen Mechanismus ausarbeiten um alles, was nun folgen müsste, möglichst elegant auszuführen. Aber warum setzte sich der Jesuit nicht?

»Nachdem das klar ist«, fuhr der schwarze Papst fort, »gibt es einen wesentlichen Vorbehalt, den zu äußern ich wohl eher berufen bin als jeder Einzelne unter meinen Zuhörern. Wenn wir einen falschen Schritt tun - entweder durch unsere grundsätzlichen Entscheidungen am heutigen Abend oder durch eine der Maßnahmen, auf die wir uns in den kommenden Tagen hoffentlich einigen werden -, dann können wir damit rechnen, dass wir überlegene Mächte auf den Plan rufen, die uns gnadenlos zermalmen werden. Glauben Sie mir! Wir in der Gesellschaft Jesu wissen alles über diese Mächte. Und über deren Gnadenlosigkeit.«

Alle Anwesenden waren gefangen von der Leidenschaft in Michael Coutinhos Blick, als er die gegenwärtige Position seines weltweiten Ordens klarstellte. »Wir in unserer Gemeinschaft leben völlig ruhigen Gewissens. Wir sind mit unserem Eid an Christus gebunden. Wir sind verpflichtet dem Vikar Petri zu dienen, dem Bischof von Rom. Sofern wir der Meinung sind, dass er dem manifesten Willen Christi gehorcht, wie er sich in den irdischen Zeitläufen äußert, sind wir verpflichtet ihm zu dienen Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Ruhig und kühlen Kopfes wie immer wollte Benthoek schon aufstehen und die Leitung der Sitzung wieder übernehmen, als sich der grimmige Noah Palombo erhob. Kardinal Palombo war ein Mann für schnelle Verfahren. Er hielt nicht viel von langwierigen Abwägungen des Für und Wider. Und er würde sich nicht von den Gefahren abschrecken lassen, die der Jesuitengeneral angedeutet hatte.

Der Kardinal hatte eine einfache Empfehlung vorzubringen. »Einer von uns«, schlug er vor, »sollte den entscheidenden Punkt formulieren, wie Pater General Coutinho es am Anfang seiner Bemerkungen empfohlen hat: die Notwendigkeit für einen radikalen Wechsel auf der höchsten Ebene der kirchlichen Hierarchie. Wenn niemand hier am Tisch diesen Gedanken klar und annehmbar - und im Hinblick auf seine praktische Umsetzung - formulieren kann, dann verschwenden wir unsere Zeit. Wenn sich allerdings jemand unter uns an diese Aufgabe macht und wir in dieser Hinsicht Übereinstimmung erzielen können - dann habe ich noch einen weiteren Vorschlag.«

Noch bevor Palombo sich wieder gesetzt hatte und fast wie auf ein Stichwort - so kam es Maestroianni zumindest vor -, erhob Kardinal Leo Pensabene seine große, knochige Gestalt mit der selbstgewissen Haltung eines Mannes, der davon ausgeht, dass ihm alle zustimmen werden. Zu Maestroiannis Erleichterung gab Leo Pensabene sich heute weniger streitbar denn väterlich.

»Ohne mir selbst allzu sehr schmeicheln zu wollen«, begann er, »glaube ich von mir behaupten zu können, dass ich mich in der idealen Position befinde, um diese Übereinkunft zu formulieren, wie der Pater General und mein verehrter Bruder Kardin angeregt haben.« Eine kleine Verbeugung vor Coutinho und eine weitere vor Palombo.

»Ich habe mich darüber sogar schon mit meinen Mitbrüdern im Kollegium beraten. Auch sie sind der Ansicht, dass ich unser Haltung am besten formulieren könnte.« Da Kardinal Pensabene eine bedeutende Fraktion im Kardinalskollegium anführte war die letzte, scheinbar beiläufige Information ein ermutigen, des Anzeichen für Unterstützung in jenen Teilen des Vatikans von denen Macht und Einfluss ausgingen. »Wenn sie praktischen Nutzen haben soll, muss unsere Übereinkunft sich auf Fakten gründen. Auf die Fakten der konkreten Situation. Worauf könnten wir sonst aufbauen?

Die primäre Tatsache ist folgende: Durch Anwendung der Prinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils war seit 1965 das Leben und die Entwicklung des Volkes Gottes - aller römischen Katholiken - vor allem von drei neuen Strukturen bestimmt, die in der institutionellen Organisation der Kirche am Werk sind. Da ist zunächst« - Pensabene hob einen knochigen Finger seiner rechten Hand - »der Internationale Rat für christliche Liturgie.« Eine zweite Verbeugung vor Palombo als dem Vorsitzenden dieses Rats. »Der IRCL ist heute für alle Katholiken die verbindliche Autorität in allen Fragen des Gottesdienstes und der Liturgie. Wenn wir also über den IRCL sprechen, berühren wir den Kern der individuellen Moral jedes Katholiken.

Zweitens« - er ließ einen zweiten knochigen Finger seiner rechten Hand hochschnellen - »gibt es die Erneuerung des christlichen Zeremoniells, die vom jüngsten Kardinal unter uns geleitet wird. Die Funktion der ECZ«, fuhr er rasch fort, »besteht darin, die neuen Formulierungen unseres Glaubens einzuführen; und dafür zu sorgen, dass sie nicht nur in der Spende der Sakramente, sondern in der religiösen Erziehung der Kinder und Erwachsenen gleichermaßen Anwendung finden. Wenn wir also von der ECZ sprechen, berühren wir die soziale Moral des katholischen Lebens an der Wurzel.

Und drittens« - Pensabene hielt nun drei Finger in die Höhe - »drittens müssen wir die Kommissionen für Gerechtigkeit und Frieden überall auf der Welt, einschließlich Roms, in Betracht ziehen.

Aufgrund meiner eigenen engen Verbundenheit mit den KGF kann ich Ihnen versichern, dass sie in ihrer genauen Funktion und Zielrichtung ein großer Erfolg waren. Sie sorgen dafür, dass die neuen demokratischen Prinzipien, die in die Philosophie und ins politische Handeln der heutigen Kirche eingegangen sind, von jedem verstanden werden. Außerdem stellen sie sicher, dass man diese Prinzipien überall in der katholischen Kirche propagiert. Besonders in den von Armut heimgesuchten Ländern der Dritten Welt haben die KGF große Fortschritte erzielt. Es liegt daher auf der Hand, dass wir, wenn wir über die KGF sprechen, von der politischen Moral der katholischen Gläubigen in aller Welt sprechen.«

Pensabene wandte den Kopf um nacheinander alle Anwesenden anzusehen. »Rund um die Welt sind also drei maßgebliche Strukturen am Werk - der IRCL, die ECZ und die KGF. Sie stehen für drei wesentliche moralische Sphären - die persönliche, die soziale und die politische. Deshalb haben sie auch in dreierlei Hinsicht Konsequenzen für den Zweck unserer heutigen Sitzung. Jede dieser drei innovativen Strukturen geht vom Heiligen Stuhl aus. Entsprechend werden diese Strukturen und ihre Aktivitäten von einer großen Mehrheit der Bischöfe in unserer Kirche gebilligt. Und durch den IRCL, die ECZ und die KGF spricht dieselbe Mehrheit der Bischöfe zunehmend im Namen des Heiligen Stuhles! Der Trend geht mehr und mehr dahin, dass diese Bischöfe - über die Gesetzgebung und in beratender Funktion - anstelle des Heiligen Stuhles sprechen!«

Die wenigsten hatten Pensabene je so enthusiastisch erlebt. »So entscheiden diese Bischöfe bereits über grundlegende moralische Fragen für alle Katholiken. Für das Volk Gottes. Entscheidungen über grundlegende Fragen der individuellen, sozialen und politischen Moral sind de facto von den Bischöfen getroffen worden. Oder, um es anders auszudrücken: In allen praktischen Belangen haben die Bischöfe die erhabene Lehrautorität der Kirche übernommen - das Magisterium, wie es in früheren Zeiten genannt wurde. De facto werden die Bischöfe als Sprachrohr Gottes anerkannt.

Was ich Ihnen hier schildere - und was Sie inzwischen sicher alle eingesehen haben dürften -, ist ein evolutionärer Zustand, der nur darauf wartet, institutionell festgeschrieben zu werden. Denn wenn die Bischöfe und das Volk Gottes uns etwas vor Augen führen, dann sicherlich, dass kein Bedarf mehr an der alten Grundlage für Autorität und Weiterentwicklung in der Kirche besteht. Diese alten Fundamente sind brüchig geworden. So bald wie möglich benötigen wir ein Papsttum, das der neuen Realität entspricht. Ein Papsttum, das der konkreten Situation de facto Tribut zollt. Ja, ein Papsttum, das diese Situation de jure anerkennt.«

Nachdem er so geendet wie angefangen hatte - mit beiden Beinen fest auf dem Boden der konkreten Situation - und sicher sein konnte, dass er sich praktisch, überzeugend und eloquent ausgedrückt hatte, ließ Kardinal Pensabene sich langsam, geradezu majestätisch nieder. Wenn Pensabenes Entschlossenheit Früchte trug - und die Allianz von Straßburg Erfolg hatte - würde der Papst sich den Umständen, wie der Kardinal sie dargelegt hatte, de facto beugen müssen; sonst wäre der Papst bald kein Papst mehr.

Nachdem nun Pensabenes Vorschlag auf dem Tisch lag, schien es nur logisch, die erste Abstimmung durchzuführen. Aber weil sich die Dinge etwas rascher entwickelten, als Benthoek erwartet hatte, war keine Gelegenheit geblieben die Stimmung in der Gruppe verlässlich auszuloten. Gut, einige hatten hin und wieder zustimmend genickt -, aber auch das nicht durchweg.

Weil er sich bewusst war, dass eine erfolglose Abstimmung zu einer ausgedehnten Debatte führen würde - und aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem frühen und unrühmlichen Ende der mit so vielen Hoffnungen verbundenen Allianz von Straßburg -, sah Benthoek über den Tisch hinweg Kardinal Maestroianni an. Die vage Bewegung von Maestroiannis Kopf bedeutete ihm vorsichtig zu sein. Das genügte Benthoek. Offenbar war eine wohl überlegte Werbung um Stimmen angeraten, ehe es zu einer Abstimmung kam.

»Meine Freunde.« Cyrus schob seinen Stuhl zurück und bedeutete damit allen es ihm gleichzutun. »Ich würde sagen, wir gönnen uns ein wenig Bedenkzeit. Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen ihre Notizen und Schlussfolgerungen gern untereinander und mit ihren Beratern abgleichen würden. Fünfzehn oder zwanzig Minuten dürften genügen.«

 

 

XI

»Zwanzig Minuten sind vielleicht nicht genug, Heiliger Vater.« Als er neben dem Pontifex in der päpstlichen Limousine saß, drehten sich Monsignore Daniel Sadowskis Gedanken schon nicht mehr um das Massentreffen Jugendlicher in Fatima, wo Seine Heiligkeit vor wenigen Minuten seine Abendpredigt gehalten hatte. Stattdessen galt seine Aufmerksamkeit der kurzen Pause vor der Kerzenlichtprozession, die später am Abend stattfinden sollte. Obwohl gerade zwanzig Minuten zur Verfügung standen, hatte man in den gedrängten Zeitplan des Heiligen Vaters noch eine Privataudienz für Schwester Lucia eingeschoben.

»Ganz richtig, Monsignore.« Der Papst wandte sich gerade lange genug von der Menschenmenge links und rechts der Straße ab um seinen Sekretär beruhigen zu können. »Zwanzig Minuten sind nicht viel. Aber vielleicht werden sie reichen. Warten wir's ab.« Dann fügte er mit einem überraschenden Augenzwinkern und einer Vertraulichkeit hinzu, die noch auf ihre gemeinsamen Tage in Krakau zurückging: »Keine Sorge, Daniel. Es steht noch nicht so schlecht um uns, dass sie die Prozession ohne uns beginnen werden.«

Sadowski antwortete mit einem leisen Lachen. Er nahm mit Freude zur Kenntnis, dass der Papst etwas von seiner alten Heiterkeit und seinem Humor zurückgewonnen hatte. Aber dem Pontifex blieb tatsächlich nicht viel Zeit für sein Gespräch mit Lucia. Zu wenig Zeit für ein Gespräch, an dessen Bedeutung der Monsignore keinen Zweifel hatte.

Aus der Sicht des Papstes war seine kirchliche Organisation dem Niedergang und dem Tod preisgegeben worden. Aber das galt auch für die Gemeinschaft der Nationen - den Nationen je für sich genommen und als Gemeinschaft. Sowohl die kirchliche Organisation als auch diese Gemeinschaft der Nationen steuerten geradewegs auf eine Zeit schwerer Strafen durch die Mächte der Natur zu - und letztendlich durch die Hand Gottes, dessen unzweifelhafter Liebe zu all seinen Geschöpfen seine Gerechtigkeit gegenüberstand. Denn Liebe ohne Gerechtigkeit ist nicht möglich. Kirchliche Prälaten und die Nationen waren Gottes Liebe gleichermaßen unwürdig geworden. Daher würde seine Gerechtigkeit unweigerlich in die Welt der Menschen eingreifen und diese Abweichung vom wahren Glauben korrigieren.

Obwohl er zur Überzeugung gelangt war, dass dieser fürchterliche Eingriff Gottes in die Welt der Menschen in den Neunzigerjahren stattfinden würde, hatte der Papst wenig Anhaltspunkte, wann genau es geschehen sollte. Aus dem dritten Brief von Fatima wusste er, dass Russland im Mittelpunkt dieser Strafen stehen würde. Er wusste außerdem, dass sein Pastoralbesuch in Russland eine Rolle im göttlichen Zeitplan spielte. Er wusste auch, dass der Zeitpunkt dieser Reise von Michail Gorbatschows Schicksal abhing. Er hatte deshalb auf eine Korrespondenz mit dem Russen großen Wert gelegt. Aber von diesen Eckdaten abgesehen gab es nur Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheit. Er bedurfte einer Erleuchtung. Schwester Lucia war vielleicht in der Lage die Vieldeutigkeiten etwas zu klären und diese fatale Unbestimmtheit zu vertreiben, die ihn im Hinblick auf die Zukunft, auf alle wichtigen Entscheidungen so unsicher machte.

Unter diesen Umständen hatte es Monsignore Daniel kaum überrascht, dass Kardinalsekretär Maestroianni alles in seiner Macht Stehende unternommen hatte um das private Zusammentreffen zwischen dem Papst und der einzigen überlebenden Seherin von Fatima zu sabotieren. Maestroianni wusste wie viele andere, dass die Jungfrau Maria in den vierundsiebzig Jahren seit den fraglichen Ereignissen Schwester Lucia immer wieder Besuche abgestattet oder Botschaften übermittelt hatte. Und der Kardinalstaatssekretär wusste auch wie viele andere, dass die Heilige Jungfrau zwei Päpsten - darunter dem gegenwärtigen Papst - selbst die Gunst eines Besuchs erwiesen hatte. Er wusste ferner, dass jeder dieser Besuche unmissverständlich etwas mit Fatima zu tun gehabt hatte.

Monsignore Daniel musste erkennen, dass der Papst in Gedanken den Kern seiner päpstlichen Politik infrage stellte.

Ende der Achtzigerjahre war ihm aufgegangen, dass er es unwissentlich zugelassen hatte, dass sich eine gewisse Düsternis der Seelen derer ermächtigte, die man gemeinhin zu den orthodoxen Prälaten, den orthodoxen Priestern und orthodoxen Laien zählte. Er hatte es zugelassen, dass die vieldeutigen Lehrsätze des Zweiten Vatikanischen Konzils weithin auf eine nicht katholische Art interpretiert wurden. Er hatte es hier und da ganzen Hierarchien von Bischöfen gestattet, sich hinter klerikaler Bürokratie zu verschanzen und die Grundlagen des römisch-katholischen Lebens zu verleugnen.

Alles in allem hatte seine Herrschaft über die Institution Kirche dazu beigetragen, dass nur ein einziger Einfluss diese Institution davor bewahren konnte, endgültig und völlig unterzugehen und als wirksame Kraft aus der menschlichen Gesellschaft zu verschwinden: das Eingreifen der Heiligen Jungfrau, das - wie in Fatima vorausgesagt - von schweren Züchtigungen begleitet sein würde.

Von daher rührte seine Sehnsucht, von Schwester Lucia etwas mehr über den göttlichen Zeitplan zu erfahren. Als sie sich der Casa Regina Pacis näherten, wo Lucia wartete, zitterte Monsignore Daniel unwillkürlich.

»Es ist doch nicht kalt, Monsignore Daniel«, neckte ihn der Pontifex, als sie ihr Ziel erreichten. »Warum also zittern Sie? Fürchten Sie sich etwa davor, einer lebenden Heiligen wie unserer Schwester Lucia zu begegnen?«

»Nein, Heiliger Vater. Es ist nur gerade jemand über mein Grab gelaufen.« Daniel benutzte das alte Sprichwort um seine Verlegenheit zu überspielen, aber eigentlich wusste er gar nicht, warum er gezittert hatte.

 

Seine Heiligkeit wurde in der Casa Regina Pacis von der Mutter Oberin mit glückstrahlendem und cherubinisch engelsgleichem Gesicht begrüßt. Sie stellte dem Heiligen Vater voller Demut und heiterer Herzlichkeit ihre Nonnen vor und der Pontifex sprach jeder einzelnen leise ein paar ermutigende Worte zu. Wenig später führte die Mutter Oberin den Papst und seinen Sekretär durch einen hohen Korridor, der sich durch das ganze Gebäude zog. Sie erklärte Seiner Heiligkeit und Monsignore Daniel, dass die Sakristei am anderen Ende des Korridors, gleich neben der Hauskapelle, für die Audienz hergerichtet worden sei.

Der Raum war schmucklos. Es waren keine Kerzenhalter vorhanden; aber die gelöste Atmosphäre wirkte ansteckend und einladend. Die Ausgestaltung beschränkte sich, wie in der ganzen Casa, weitgehend auf die »Seelen in den Mauern« In einigem Abstand zur Tür, nahe des Bogenfensters, das auf die Gärten der Casa hinausging, waren drei Stühle für die päpstliche Audienz aufgestellt worden. Der größte Stuhl in der Mitte war offensichtlich für den Pontifex gedacht. Jene zu beiden Seiten dienten als Sitzgelegenheit für Schwester Lucia und ihre Oberin und Pflegerin, die sie von Coimbra nach Fatima begleitet hatte.

»Ehrwürdige Mutter.« Der Pontifex wandte sich der Nonne mit dem glückstrahlenden Gesicht zu. »Zwei Stühle werden genügen. Ich will allein mit Schwester Lucia sprechen.«

»Wie Sie wünschen, Euer Heiligkeit.«

Mit einem Lächeln in den Augen entfernte die ehrwürdige Mutter den Stuhl auf der linken Seite und entschuldigte sich dann beim Papst um nachzuschauen, was ihre Gäste aufgehalten haben mochte. Der Heilige Vater nahm wartend Platz, ganz dankbar für die kurze Verschnaufpause. Er konnte Monsignore Daniel hören, der draußen im Korridor mit dem Fotografen redete.

Schließlich wurde Schwester Lucia von ihrer finster blickenden Oberin aus Coimbra aus dem Korridor hereingeführt. Der Pontifex erhob sich von seinem Stuhl und breitete beide Arme zu einer innigen Begrüßung aus. »Schwester Lucia«, sprach der Heilige Vater die Seherin von Fatima in ihrer Muttersprache Portugiesisch an. »Ich begrüße Sie im Namen unseres Herrn und seiner gebenedeiten Mutter.«

Die kleine alte Nonne schien nicht im Mindesten verstimmt durch die strengen Einschränkungen, die ihr das Sekretariat in Rom auferlegt hatte. Sie unterschied sich nicht sehr von der Person, die der Pontifex von ihrem letzten Gespräch in Erinnerung hatte. Sie war vielleicht noch etwas schmächtiger geworden, hatte aber immer noch ein volles Gesicht. Ihre Mimik war lebhaft, ihre Schritte zügig und zielstrebig für eine Frau von so fortgeschrittenem Alter. Ihre dunklen Augen glänzten hinter der Brille in großer und reiner Freude, als sie vortrat um den Gruß des Heiligen Vaters zu erwidern. Sie kniete nieder und küsste den Ring des Pontifex.

Weil sie keinen Stuhl für sich fand und auch vom Papst nicht freundlicher als angemessen begrüßt wurde, streifte die Mutter Oberin pflichtbewusst mit den Lippen den päpstlichen Ring und zog sich würdevoll in den Korridor zurück.

Lucia saß aufrecht in ihrem Stuhl, um die Hände den Rosenkranz geschlungen. Wenn er selbst nichts sagte, beugte Seine Heiligkeit sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und barg den Kopf in beide Hände, während er der Seherin von Fatima in angestrengter Konzentration zuhörte. Die ganze Zeit über blickte der Pontifex, obwohl er sich der Uhrzeit und der wohlwollenden Gegenwart seines Sekretärs bewusst war, nur ein einziges Mal zu Daniel auf. Dieser Blick genügte und Daniel wusste, dass die Kerzenlichtprozession später beginnen würde.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Seine Heiligkeit und Schwester Lucia sich von ihren Stühlen am Fenster erhoben. Als die Nonne erneut niederkniete um den Ring des Fischers zu küssen, schoss der Fotograf sein letztes Bild und Monsignore Daniel trat vor um Lucia zur Tür der Sakristei zu geleiten und wieder der Obhut ihrer finsteren Mutter Oberin aus Coimbra zu übergeben.

Daniel fand die Änderung im Gesicht des Heiligen Vaters elektrisierend. Aus den Augen des Pontifex strahlte dieses durchdringende, lebhafte Licht, das einst so lange Zeit sein Markenzeichen gewesen war. Der Pontifex wirkte belebt, gestärkt. Das Lächeln, das seine Züge erhellte, ging weniger von den Lippen als von der Seele aus. Der Pontifex bedeutete dem Sekretär sich für einen Augenblick neben ihn zu setzen.

»Sie hatten Recht, Monsignore.« Der Papst lachte. »Zwanzig Minuten können sehr knapp sein.«

Es blieb keine Zeit Monsignore Daniel den Inhalt seines Gesprächs mit Lucia zusammenzufassen. Das musste bis später warten. Er und die heilige Schwester hatten alle wesentlichen Fragen geklärt, die ihn interessierten. Wie nicht anders zu erwarten hatte er die Beruhigung gefunden, die er brauchte, doch noch musste er gläubig und vertrauensvoll ausharren. »Noch etwas Dringendes. Wann ist der letzte Brief von Signor Gorbatschow eingetroffen?«

»Letzte Woche, Euer Heiligkeit.«

»Es ist wichtig, dass ich ihm sofort antworte, wenn wir wieder in Rom sind. Dieser arme kleine Mann ist ein unfreiwilliges Werkzeug der Jungfrau gewesen, aber wir dürfen nicht zulassen, dass seine Ungeduld und Verzweiflung alles ruiniert.« Und als wollte er das unterstreichen, fügte er hinzu: »Wir haben keine schweren Fehler begangen, Monsignore. Aber die Zeit wird knapp. Wir haben sehr viel weniger Zeit, als ich dachte. Die Schwester sieht den Anfang vom Ende kommen. Wir werden es durchstehen - wenn Gott will.«

»Wenn Gott will, Heiliger Vater.« Daniel antwortete prompt. »Wenn Gott will.«

 

 

XII

Weil Männer auf den höheren Ebenen der Macht daran gewöhnt sind, unter schwierigen Umständen zu improvisieren, genügten Cyrus Benthoek und Cosimo Maestroianni zwanzig Minuten um sich einen Eindruck von der Stimmung zu verschaffen.

Sie gingen jeder für sich lässig von Gruppe zu Gruppe, stellten hier eine Frage, provozierten da eine Reaktion. Beide waren nah am Puls der Dinge; stets mit offenem Ohr; stets mit offenen Augen; stets hilfreich. Benthoek verbrachte etwas mehr Zeit mit seinem Ehrengast, Reverend Herbert Tartley, dem Vertreter der Kirche von England. Dann schloss er sich seinem russischen Mitarbeiter Serjoscha Gafin an, der in ein Gespräch mit dem Amerikaner Gibson Appleyard vertieft war. Weil Otto Sekuler während der Diskussion geschwiegen hatte, war auch ein kurzes Gespräch mit ihm angeraten.

Maestroianni kümmerte sich um die Seinen und widmete denen besondere Aufmerksamkeit, die sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatten. Um Kardinal Aureatini brauchte er sich natürlich keine Sorgen zu machen, auch nicht um den Belgier Svensen. Aber der politisch zurückhaltende Erzbischof Giacomo Graziani konnte wohl etwas Rückendeckung gebrauchen. Außerdem wäre es unklug, Victor Venable, den zuweilen etwas quichottischen Generalminister der Franziskaner, zu vernachlässigen.

Cyrus Benthoek und der Kardinalstaatssekretär kamen zu dem Schluss, dass eine gemeinsame Entschließung in Reichweite War. Ganz gleich, wie sehr die Auffassungen der Delegierten in tausend verschiedenen Fragen voneinander abweichen mochten, eine gemeinsame Allianz zu diesem einen Zweck - nämlich Form und Funktion des Papsttums zu ändern - war das Ei, das darauf wartete, ausgebrütet zu werden. Dazu versammelten die beiden Initiatoren wie ein Paar Glucken ihre Gäste wieder am Konferenztisch. Benthoek wandte sich dem Ehrendelegierten der Kirche von England zu, der zu seiner Rechten saß. Sicher, wandte sich Cyrus mit einem freundlichen Lächeln an die Versammlung, hätten einige Worte von Reverend Tartley als »Berater der Krone und Sonderberater des Bischofs von Canterbury« eine besondere Bedeutung.

Tartley erhob sich artig von seinem Stuhl. Er war eine wenig aufdringliche Erscheinung. Ein großer, breit gebauter Mann mit dicker Bifokalbrille, einer Mopsnase, rosigem Gesicht und sehr wenig Haar, der wie ein Mittelding zwischen der traditionellen Gestalt des John Bull und der alten Variete-Karikatur eines englischen Pfaffen wirkte. In seinem von Cockney-Englisch geprägten nasalen Ton begrüßte er die Versammlung.

Nachdem er klargestellt hatte, dass er als eine Art inoffizieller Gesandter nicht nur für die Kirche von England, sondern auch für die Krone sprach, kam er schnell zur Sache. Es konnte, erklärte er an Beispielen, keine wirkliche Zusammenarbeit zwischen »dem Heiligen Stuhl und der großen Mehrheit der Christen« geben, bis Rom nicht seine starren Ansichten über so grundlegende Fragen wie Scheidung, Abtreibung, Verhütung, Homosexualität, das Frauenordinariat, Priesterehe und pränatale Medizin geändert hatte.

Dafür sei aber ein »Wechsel an der Spitze der Kirche« unabdingbar. Bis dahin wollte der aufrichtige Reverend »ein Auge auf neue Auffassungen in hohen Ämtern haben«. Mit einem brüderlichen Blick auf Benthoeks weltliche Gäste - auf Gafiri und Sekuler, auf Nicholas Clatterbuck und Gibson Appleyard - gestand Tarley ein, dass dieser fortschrittliche Kreis klein sein mochte, wenn man nur die Anzahl seiner Mitglieder betrachte. Aber er betrachtete solche statistischen Daten als unbedeutend verglichen mit der Tatsache, dass seine Kirche, von Ihrer Majestät abwärts, dem verpflichtet war, was er als »die brüderliche Gemeinschaft der Menschheit« bezeichnete, »ob im Westen oder Osten, im Kapitalismus oder Sozialismus«.

»Ich gebe auch gern zu, dass diese freundlichen Gentlemen und ich - vor dieser Sitzung und auch während der Pause eben - unsere Aussprachen hatten.« Er richtete seine dicke Bifokalbrille wieder auf die Laien.

»Wir sind uns über das Ziel einig, das uns zu diesem historischen Abend zusammengeführt hat. Und wir sind bereit alle Pläne zu unterstützen, die zum Erreichen dieses lohnenden Ziels geschmiedet werden. Lassen Sie uns alle am selben Strang ziehen! Gott segne uns alle.« Irgendwie erinnerte diese Rede an den millenorischen Anspruch des Heiligen Stuhles, von ewiger Dauer und gottgegeben gegen den Untergang gefeit zu sein. Irgendwie nahmen seine Worte den Erfolg vorweg, den die neue Allianz erwartete.

Cyrus Benthoek fing die Stimmung der Kardinäle auf, als Tartley wieder Platz nahm. Dem Blick aller Zuhörer war Anerkennung anzumerken. Benthoek sah zu Kardinal Maestroianni hinüber. Diesmal blieb die warnende Regung aus. Ungemein zufrieden mit seiner List stand Cyrus auf und bedeutete dem englischen Kleriker mit seiner gewohnten Orans-Geste, dass er voller Lob für ihn war. »Liebe Freunde, ich merke der Stimmung aller Anwesenden an, dass unsere Übereinkunft erfrischend wie neuer Wein auf unsere Gemüter wirkt. Bevor wir fortfahren, schlage ich daher vor, dass wir über die entscheidende Frage abstimmen. Sind wir uns über das grundsätzliche Ziel einig/ dass wir einen Wechsel an der Spitze der römischen Kirche herbeiführen wollen, zum Wohl der ganzen Menschheit, wie sie sich gegenwärtig entwickelt?«

Auf seiner Seite des Tisches hob Maestroianni als Erster die Hand. Seine vier Kardinalsbrüder taten es ihm gleich. Palombo war der Schnellste. Pensabenes knochige Hand schoss empor. Dann Aureatinis Hand und die Svensens. An einem Ende der römischen Phalanx stimmte der ruhige Generalminister Victor Venable von den Franziskanern dafür. Am anderen Ende des Tisches reihte der schwarze Papst, Ordensgeneral Michael Coutinho, sich und seine Jesuiten ein. Gegenüber dem Kardinalstaatssekretär waren alle Hände oben, die Benthoeks eingeschlossen. Gibson Appleyard bildete die einzige Ausnahme. Aber als inoffizieller Beobachter erwartete niemand von dem Amerikaner, dass er an der Abstimmung teilnahm. Als letzter schloss sich Erzbischof Giacomo Graziani an, Maestroiannis designierter Nachfolger als Staatssekretär. Er rang sich erst nach einigem nachdenklichen Blinzeln dazu durch.

»Also keine Gegenstimme«, stellte Benthoek für das Protokoll das Offenkundige fest. Zufrieden richtete Cyrus seine Augen wie blaue Lichter auf Kardinal Noah Palombo. »Euer Eminenz wollte einen zweiten Vorschlag machen. Dürfen wir Euer Eminenz noch einmal um seine Stellungnahme bitten?«

Kardinal Palombo erhob sich langsam, wie üblich einen unnachgiebig strengen und ernsten Ausdruck im Gesicht. »Die Situation ist klar«, begann Palombo. »Und meine zweite Empfehlung ist dementsprechend einfach. Der Hauptgrund für den Konsens, den wir hier eben bekundet haben, ist der Druck – die Kraft -, die von den weltlichen Ereignissen ausgeht. Ereignissen, die außerhalb der Einflussnahme der heute Abend anwesenden Kirchenleute stehen. Ich rede vom Ringen der Männer und Frauen überall auf der Welt um eine neue Einheit. Um ein neues Verhältnis unter den Nationen und unter allen Menschen in unserer modernen Gesellschaft.

Wir sind gezwungen uns diesen Ereignissen und ihrer positiven Kraft zu stellen. Wir sind gezwungen uns mit ihr zu identifizieren. Sie von ganzem Herzen zu begrüßen. Diese Kraft hat bereits vitale - man sollte eigentlich sagen tödliche - Auswirkungen auf die klassische Glaubensformel der Kirche gehabt. Obwohl sie heute Abend noch nicht gesprochen haben, wissen zwei unter uns - Victor Venable, der ehrwürdige Generalminister der Franziskaner, und Seine Eminenz Kardinal Svensen - bereits aus eigener Erfahrung, wie diese Kraft, verkörpert durch die charismatische Bewegung, viele Millionen Katholiken von der pseudopersönlichen Anbetung des historischen Christus abgebracht hat. Und von dem frommen Geschwätz um Engel, Heilige und die Marienverehrung. Diese Millionen Katholiken stehen nun in direktem und persönlichem Kontakt mit dem Heiligen Geist.« Als ob er selbst den Heiligen Geist verkörpere, nahm Palombo direkten, persönlichen Blickkontakt mit dem Franziskaner und dem belgischen Kardinal auf. Beide bezeugten mit einem strahlenden Lächeln ihre Zustimmung.

Als Nächstes wandte Kardinal Palombo seine Aufmerksamkeit Michael Coutinho zu. »Sicher kann uns auch der Generalobere der Gesellschaft Jesu von dem Erfolg berichten, den die Jesuiten in Lateinamerika mit der Befreiungstheologie hatten. Wieder können wir von Millionen - Massen von Christen - reden, die sich nicht mehr von einer saccharinsüßen Christusfigur oder einer tränenreichen und frömmelnden Madonna verstümmeln lassen wollen.

In den Ländern der Dritten Welt haben Generationen imperialistisch gesinnter Kleriker einst eine pazifistische Hasenfußtheologie gepredigt. Aber nun sind diese Millionen von Männern und Frauen ihrer Machtlosigkeit überdrüssig. Sie haben sich für ihre längst überfällige finanzielle, ökonomische und poligtische Befreiung entschieden. Diese Millionen kämpfen jetzt, nicht mit Rosenkränzen oder Novenen, sondern mit der Kraft ihrer ihrer eigenen Arme. Und mit der Kraft ihrer Stimmzettel. Aber eigentlich - und vor allem - kämpfen sie mit der Kraft des Heiligen Geistes.«

Ein Funkeln in den Augen des schwarzen Papstes zeugte von seiner Zustimmung.

Konzentriert und mit säuerlichem Gesicht wandte Palombo sich nun nacheinander seinen Kardinalskollegen zu. »Wir haben heute Abend zum Beispiel von meinem geschätzten Bruder Kardinal Pensabene erfahren, dass der Geist der Katholiken sich von seiner früheren Abhängigkeit von der Meinung des Papstes freigemacht hat. Dieser Geist hat sich auch von dem ganzen konfusen Durcheinander von Geisteshaltungen freigemacht, das einst die Katholiken zum Vorbild menschlichen Verhaltens erziehen sollte, das aber heute von einer überwältigenden Mehrheit der Männer und Frauen abgelehnt und bekämpft wird. Dank der fortschrittlichen psychologischen Techniken - Sie alle kennen Verfahren und Namen verschiedener Techniken, sodass ich hier nicht weiter darauf eingehen muss - lehnt auch die überwältigende Mehrheit der heutigen Katholiken diese aiten Verhaltensmodelle ab. Und was noch wichtiger ist: Eben diese Verfahren haben die Katholiken selbst – wieder spreche ich von Millionen Männern und Frauen - den Ideen näher gebracht, die wir in diesem Saal für die neue Weltordnung entwickelt haben. Die Katholiken leiden nicht mehr unter dem Wahn einer besonderen Gruppierung anzugehören oder alleinige Hüter der Moral und der religiösen Werte zu sein, nach denen Männer und Frauen ihr Leben ausrichten müssen, um - um zu ...« Nur dieses eine Mal war Noah Palombo um Worte verlegen. »... um - wie es früher hieß - erlöst zu werden.«

Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis er seine Fassung zurückgewann. »In diesem Moment fließt durch die römische Welt - durch jede Diözese und Gemeinde, durch jedes Seminar, jede Universität und jede Schule, die sich katholisch nennt - eine ganz neue Strömung. In allen Teilen der Kirche wird ein neuer Typ des Katholiken geboren. Endlich sind die Katholiken befreit und reif sich all den anderen Männern und Frauen der Welt anzugleichen. Endlich ersehnen auch Katholiken, was wir uns ersehnen. Endlich sind die Katholiken bereit, an der neuen Weltordnung teilzuhaben, die wir in diesem Saal verwirklichen wollen.«

Alle Anwesenden waren fasziniert von Palombos Worten und warteten auf sein Finale. »Meine zweite Empfehlung ist daher ebenso dringlich wie praktisch. Als katholische Kirchenleute sind meine Kollegen und ich allein ein ganzes Stück vorangekommen. Was uns jetzt noch fehlt, ist der letzte Brückenschlag zur äußeren Welt. Der Bau einer Brücke, über die viele Millionen Katholiken sich, so schnell sie ihre Füße tragen, dem Rest der Menschheit anschließen können. Dem neuen Verhältnis der Nationen als eine aktive, gestalterische Kraft in unserer neuen und modernen Welt.«

Noah Palombo sah jetzt Cyrus Benthoek direkt an, dann nacheinander jeden Angehörigen seiner Delegation, darunter den reservierten Gibson Appleyard. »Dieser Brückenschlag ist das Einzige, was wir nicht allein bewältigen können. Sie, Signor Benthoek. Und Sie, Signor Clatterbuck. Und Sie, Signor Gafin. Und Sie, Signor Sekuler.« Der Kardinal sah wieder Gibson Appleyard an, unterließ es aber, auch seinen Namen auszusprechen. »Sie alle verfügen über die Möglichkeiten uns bei diesem Brückenschlag zu helfen. Helfen Sie uns den Stolperstein auf dem Weg zu unserer Einigung beiseite zu räumen. Helfen Sie uns unsere Brücke in die Welt zu bauen. Helfen Sie uns sie zu überschreiten.«

In seiner langen und glänzenden Karriere war für Cyrus Benthoek selten etwas so gut gelaufen. Wieder allein mit Kardinal Maestroianni in dem kleinen Trianon, ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken und streckte die langen Beine aus. Benthoek und Kardinal Maestroianni hatten noch eine Kleinigkeit auf den Weg zu bringen. Keiner von beiden hatte Kardinal Svensens Vorschlag vergessen, den er vor zehn Tagen in einem Telefongespräch mit Maestroianni in Rom geäußert hatte, nämlich eine vitale Beziehung zwischen den katholischen Bischöfen in Europas Kernland und den einflussreichen Bevollmächtigten der Europäischen Gemeinschaft aufzubauen.

Der Amerikaner berichtete Maestroianni von den Fortschritten, die er von seiner Seite aus gemacht hatte. Wie versprochen hatte Benthoeks Anwaltskanzlei sich darum gekümmert, ihrem talentierten jungen Internationalisten Paul Thomas Gladstone zum Posten des Generalsekretärs im Ministerrat zu verhelfen, der das zentrale Regierungsorgan der Europäischen Gemeinschaft darstellte. Dieser Posten würde ab Juni vakant sein. »Es wird einige kleine Absprachen erfordern«, gestand Cyrus dem Kardinalsekretär. »Aber es dürfte im Bereich unserer Möglichkeiten liegen, unserem Mann den Job zu sichern. Und wie sieht's mit Christian Gladstone aus, Eminenz? Es geht nichts über ein bisschen Vetternwirtschaft um einen solchen Plan zu verwirklichen.«

Auch Maestroianni hatte seine Hausaufgaben gemacht. Seine weiteren Erkundigungen hatten seinen ersten Eindruck vo Pater Christian Gladstone als einem fügsamen, unpolitisch Naivling bestätigt. Seine Jugend wurde von seinem persönl' chen Schliff und seinen familiären Beziehungen angenehm ausgeglichen. Solche Qualitäten würden die Bischöfe sicher be. eindrucken und ihr Vertrauen gewinnen - vor allem, wenn ihm vom vatikanischen Staatssekretariat der Rücken gestärkt wurde. Hinter der Fassade hatte Christian Gladstone sich indes als perfekter Mann für diesen Job herausgestellt. Seine Akte charakterisierte ihn als intelligenten, doch gehorsamen Kleriker der immer eine Möglichkeit fand zu erledigen, was ihm aufgetragen wurde, wenn man es ihm auf die richtige Weise nahe brachte.

»Es ist nur eine Frage seiner Verfügbarkeit. Formal gesehen unterliegt er immer noch der Rechtsprechung des Bischofs von New Orleans. Einem Kardinalerzbischof namens John Jay O'Cleary. Aber wie Sie schon sagten, Cyrus, dürfte es im Bereich unserer Möglichkeiten liegen.«

Schließlich verließen die beiden alten Freunde den Trianon. Der Kardinal warf einen letzten Blick auf das nun verwaiste, der Stille und dem Mondschein überlassene Haus. »Es wird gelingen.« Seine Eminenz wiederholte die Prophezeiung, die Benthoek vorhin gewagt hatte. »Es wird glänzend gelingen.«

 

Im Gegensatz zur öden, stillen Dunkelheit, die sich über das Schuman-Haus legte, verwandelte Fatima sich in ein dunkles, samtiges Meer, durch das sich ein Strom winziger Flammen zu den steigenden und fallenden Kadenzen der Ave Maria aus den Kehlen tausender Pilger wand, von denen jeder, der an der Prozession um die Basilika teilnahm, eine entzündete Kerze trug. Diese Prozession drückte etwas Besonderes aus, überlegte Monsignore Daniel, als er langsam hinter dem Papst herging; etwas Symbolisches über die Verfassung der Menschheit. Den Christen war nie ein weltweiter Triumph prophezeit worden. Der Bibel zufolge würden sie nie mehr als ein Überbleibsel sein, der Stumpf eines einstmals großen Baumes, zurechtgestutzt und niedergehalten von der Hand Gottes, die Liebe belohnte, doch die Gerechtigkeit seines Gesetzes durchsetzte.

All jene, die heute Abend dem Heiligen Vater folgten, befanden sich auf dem einzig sicheren Weg zur Erlösung. Für Monsigno-Daniel, für alle, die dem römischen Papst folgten, für den römischen Papst selbst stellten diese kostbaren Minuten singender Anbetung der Heiligen Jungfrau von Fatima einen süßen Augenblick des Innehaltens dar - für die müden Seelen, die verängstigten Seelen, die schwankenden Seelen, die inbrünstigen Seelen. Trotz der Dunkelheit um sie herum schien genug Licht für ihre Tröstung; und das Licht um sie herum war schwach genug, dass der Strahl ihres Glaubens das irdische Firmament durchdrang und den Thron des himmlischen Vaters erreicht.



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Freunde von Freunden

 

 

XIII

Nicholas Clatterbuck änderte sich nie. Ob er nun Gäste aus dem Vatikan oder andere Besucher während dieser einzigartigen Sitzung in Straßburg betreute oder ob er Tag für Tag als Leiter von Benthoeks Zentrale in London die weit gestreuten Aktivitäten lenkte - er war immer derselbe. Stets etwas großväterlich wirkend, aber immer mit einer eigenartig anmutenden Autorität.

Selbst der nachmittägliche Berufsverkehr in der Upper West Side von New York City konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Dr. Ralph Channing und die anderen würden zweifellos in Channings Domizil, Cliffview House, auf ihn warten. Aber nicht einmal Clatterbuck - nicht einmal der Teufel persönlich - konnte etwas gegen den Müllwagen unternehmen, der den Riverside Drive entlangkroch, oder gegen den hupenden Autoverkehr, der sich dem Lastwagen ab der 96. Straße in nördlicher Richtung anschloss.

»Hier ist es, Fahrer«, forderte Clatterbuck seinen Chauffeur mit der üblichen freundlichen Stimme auf hinter den Limousinen anzuhalten, die schon in zwei Reihen geparkt hatten. »Halten Sie hier an.«

Cliffview. Der Name war auf einer Messingplatte eingraviert, doch der Engländer beachtete das Schild kaum, als er das dreizehngeschossige Wohnhaus betrat. Er kannte diesen typischen Jahrhundertwendebau, ebenso seinen Besitzer. Tatsächlich kannte Cliffview fast jeder, dem New Yorks Upper West Side vertraut war - wenn nicht vom Namen her, dann doch wegen seiner charakteristischen Dachtraufe und der Glaskuppel, von welcher aus man den Hudson River überblicken konnte.

»Ah, Clatterbuck, mein Verehrtester.«

Die raue Stimme, die Nicholas begrüßte, als er sich zu den anderen in dem Penthouse-Studio gesellte, war unverkennbar wie alles, was zu dieser Stimme gehörte: der völlig kahle Kopf, die hohe Stirn, die stechenden blauen Augen, der Ziegenbart, die Kraft seiner Autorität und seiner Unbeirrbarkeit, der sich weder Clatterbuck noch irgendein anderer der Anwesenden jemals hatte entziehen können. All das gehörte zu Dr. Ralph S. Channing.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, Professor. Der Berufsverkehr hat mich aufgehalten.«

»Sie kommen gerade richtig. Wir haben uns eben über Sie unterhalten. Ich habe allen erzählt, wie erfolgreich Sie und Benthoek bei der Sitzung letzte Woche in Straßburg waren. Doch ich habe wohl auch einiges aufgerührt. Unser französischer Kollege hier ist der Meinung, dass der gesamte römische Vorschlag in extremster Weise geschmacklos sei.« Channing setzte sein Weinglas auf den marmornen Beistelltisch neben seinem Stuhl ab und taxierte jeden Einzelnen seiner elf Kollegen, bis seine Laseraugen mit einer gewissen Herablassung Jacques Deneuve fixierten. »Deneuve meint, Rom sei eine Jauchegrube, Clatterbuck. Was sagen Sie dazu?«

Clatterbuck nahm sich etwas Zeit, bevor er antwortete. Ein allgemeiner Blick auf die zehn Herren, die es sich, neben Dr. Channing, im Studio bequem gemacht hatten, reichte als Begrüßung aus. Er goss sich noch etwas Wein aus einer der Karaffen auf dem Kredenztisch nach.

»Wieso, selbstverständlich ist Rom eine Jauchegrube«, antwortete er. Seine freundlichen Augen blickten auf Deneuve. »Niemand hier mag Rom, Jacques. Der ganze päpstliche Verein ist eine riesige Müllkippe menschenunwürdiger Pläne und Verschwörungen und unmenschlicher Machenschaften, die von schmuddeligen kleinen Männern mit schmuddeligen kleinen Vorstellungen gelenkt wird. Wir alle wissen das. Aber das ist nicht der Punkt, auf den wir uns konzentrieren wollen. Es hat sich für uns nicht einfach nur eine günstige Gelegenheit ergeben. Vielmehr haben wir jetzt einen Fuß im Vatikan.«

Seine Ausführungen trafen zumindest den Kern, Deneuve war es zufrieden. Sein Stolz war wiederhergestellt. Channing konnte sich auf Clatterbuck verlassen, wenn es darum ging, Wunden zu heilen. Mit dem Weinglas in der Hand begab sich der Engländer in den Kreis der Männer und setzte sich in einen massiven, gepolsterten Ohrensessel. Zwischen ihm und Channing blieb ein dreizehnter Stuhl leer - bis auf eine rote Lederkladde, die auf dem Sitz lag. Dieser Platz blieb stets leer, als sei er reserviert für eine unsichtbare Macht mitten unter ihnen, die der versammelten Gruppe noch mehr Kraft verleihen sollte; eine Macht, die aus der Gruppe mehr als nur die Summe ihrer zwölf Körper und Hirne machte.

Für Clatterbuck war dies schon immer ein angenehmer Ort gewesen, ein herrlicher, geschmackvoller Zufluchtsort - »verraucht und belesen und männlich«, wie Virginia Woolf einst das private Arbeitszimmer eines ihrer Bewunderer beschrieb. Von seinem Platz aus konnte er durch die Fenster die hereinbrechende Dunkelheit und die tausend Lichter auf der anderen Seite des Hudson sehen.

Unvermittelt fand er sich in einem Gespräch über die Weltereignisse, wie es, wann immer sich diese zwölf in Cliffview trafen, ihren geschäftlichen Unterredungen voranging. Clatterbuck brauchte nicht, wie das in Straßburg der Fall gewesen war von Cyrus Benthoek instruiert werden um Näheres über die Mitglieder dieser Gruppe zu erfahren. Tatsächlich wäre Benthoek, obgleich er Channing und einige der anderen Anwesenden schon im Rahmen seiner üblichen Geschäfte getroffen hatte, überrascht gewesen, hätte er all das erfahren, was Clatterbuck über sie wusste.

Oberflächlich betrachtet bildeten Ralph Channings Gäste in Cliffview das Who's Who der Mächtigen und Erfolgreichen dieser Welt. Jacques Deneuve, zum Beispiel, dem sich ob des römischen Vorschlags in Straßburg die Haare gesträubt hatten, galt als Europas wichtigster Bankier. Gynneth Blashford war Englands größter Zeitungsmagnat. Brad Gerstein-Snell galt als dominierende Figur im Bereich internationaler Kommunikationssysteme. Sir Jimmie Blackburn kontrollierte uneingeschränkt den südafrikanischen Diamantenmarkt. Und Kyun Kia Moi beherrschte das fernöstliche Frachtschifffahrtswesen.

Diese fünf Männer allein waren die Königsmacher der neuen Weltordnung. Sie spielten täglich mit Milliarden, die auf den internationalen Geldmärkten von Tokio, London, New York, Singapur, Paris und Hongkong bewegt wurden. Sie waren die tonangebenden Persönlichkeiten, die die Geld- und Warenströme regulierten. Letztendlich bestimmten sie über Leben und Tod einzelner Regierungen und den Wohlstand der Nationen. Nun hätte man annehmen können, dass einem Dr. Ralph Channing in einer solchen Gruppe eher eine Außenseiterrolle zugefallen wäre. Stattdessen jedoch war er eindeutig mehr als nur ebenbürtig. Er entstammte einer alteingesessenen Hugenotten-Familie aus Maine und hatte an der Universität von Yale vergleichende Religionswissenschaften und Theologie studiert. Er ar berühmt für sein enzyklopädisches Wissen über die Geschichte der Tempelritter, die Tradition des Heiligen Grals und des Freimaurertums - insbesondere über den Ordo Templi Orientis, dem OTO oder Tempel des Ostens. Bekannt war auch sein Archiv verschiedenster Gruppen, die sich mit humanistischen Lehren befassten. Als ordentlicher Professor an einer sehr angesehenen amerikanischen Universität hatte er sich, dank einer respektablen Liste von Büchern, Schriften, Artikeln, Vorlesungen und Seminaren, weltweiten Einfluss erworben. Wegen seiner fundierten geschichtlichen Kenntnisse und seiner Fähigkeit die Religionsgemeinschaften als soziokulturellen und politischen Faktor in der Welt zu würdigen war er in bestimmten Kreisen sehr hoch angesehen. Er war von der Washingtoner Administration mit der - im Übrigen erfolgreichen - Planung des Bildungsministeriums beauftragt worden und er fand darüber hinaus auch noch Zeit Jahr für Jahr zwei Monate im Ausland zu verbringen, wo er als Berater für verschiedene humanistische Organisationen in Europa und im Fernen Osten tätig war.

Daher war es nicht von Bedeutung, dass Ralph Channing weder Bankier noch Reeder war. In dieser Gruppe gab es niemanden, der seine Führungsqualitäten hätte anfechten wollen - oder können.

Was diese zwölf Männer tatsächlich verband, hatte in Wirklichkeit nichts mit dem Bankgewerbe, dem Schifffahrtswesen oder dem Diamantenhandel zu tun. Alle hatten sie im Übermaß vom "folg gekostet und jeder Einzelne hatte ein anderes Ziel vor Augen gehabt. Und jeder von ihnen hatte herausgefunden, dass der Dienst am Fürsten dieser Welt das einzig wirklich befriedigende Ziel war. Jeder hatte die Prüfungen des Feuers, des Schmerzes und des Todes bestanden. Sie hatten das Siegel des letzten Wortes in ihrer Seele empfangen. Alle waren sie Geweissagte. Das war die einigende Kraft in Cliffview House.

Obwohl die Hingabe an den Fürsten die alle einigende Eigenschaft von Ralph Channings kleiner Runde in Cliffview war, hatte ihre Hingabe nichts zu tun mit einer ziegenhaften Gestalt mit spitzen Ohren und gespaltenen Hufen, die zudem wie ein Stinktier riecht. Jeder dieser Männer hatte schon lange festgestellt, dass die Realität ganz anders aussah. Was jeder hier herausgefunden und wem sich jeder ganz verschrieben hatte das war eine Intelligenz, die allem Menschlichen weit überlegen war. Ihre immer innigere Verwicklung in den Prozess hatte ganz spezielle Formen angenommen. Ausgerechnet diesen Männern - und niemandem sonst - war es möglich geworden, die charakteristischen Eigenschaften dieser höheren Intelligenz im Prozess wahrzunehmen, sich dieser Intelligenz in jeder nur erdenklichen Weise zu unterwerfen und so dem Weg der Geschichte zu folgen.

Niemand würde je eine der in Cliffview anwesenden Personen als böse betrachten, jedenfalls nicht nach heutigem Verständnis. Ein Händedruck jedes Einzelnen hier war so wertvoll wie ein Vertrag. In politischen Dingen verhielten sie sich korrekt, das heißt, sie neigten nie zu Extremen. In sozialer Hinsicht waren sie anerkannt; das bedeutete, dass sie ihre humanitäre Haltung und ihre philanthropische Großzügigkeit unter Beweis gestellt hatten. Und was die eheliche Treue betraf, so hielten sich alle an die gültigen Normen der Wohlanständigkeit.

Am allerwenigsten aber hätte sie wohl irgendjemand einer Verschwörung verdächtigt. Diese zwölf Männer bewegten sich innerhalb der anerkannten Grenzen demokratischer Freiheiten um ihre hehren Ideale durchzusetzen. Zugegeben, die Gruppe genoss gewisse Vorteile, wie sie den wenigsten vergönnt waren. Der überwältigende Erfolg jedes Einzelnen machte es der gesamten Gruppe möglich, sowohl im sozialen als auch im politischen Bereich auf allerhöchster Ebene zu operieren. Aber ihre Macht und der Erfolg waren nicht ihre größte Stärke.

Ihre eigentliche Überlegenheit, und das würde jeder von ihnen bestätigen, hatte eine einzige Wurzel: die Hingabe eines jeden Einzelnen an den Geist als solchen, an jenes Wesen also, das sie den Fürsten nannten. Die Überlegenheit, die ihrem beharrlichen Streben entsprang, schien ihnen unendlich zu sein. Die einfache Tatsache, dass ihr Interesse nicht mit dem der großen Religionen einherging, bedeutete, dass sie in einer viel universelleren Weise zu denken vermochten als ein Jude, Christ oder Moslem - dass sie also toleranter und auch humaner waren.

Ihr zweiter Vorteil war ihre Fähigkeit den Prozess zu verstehen. Ihre besonderen Qualifikationen erhoben sie in den Rang von Meisterkonstrukteuren. Sie wussten, dass sie zu den wenigen Privilegierten zählten, die die übermenschliche Qualität und das Maß an Fortschritt, die im Prozess am Werke waren, jemals zu verstehen vermochten.

Ihre Stellung erlaubte ihnen auch zu verstehen, dass der Prozess nicht die Angelegenheit einer Generation oder eines Jahrhunderts ist. Und obwohl sie inzwischen so hoch über der Tag für Tag, Jahr um Jahr voranschreitenden Arbeit des Prozesses standen, dass sie das wahre Gesicht jener Intelligenz erkannten, die hinter dem Prozess stand, akzeptierten sie doch die Tatsache, dass der Großteil der Menschheit - darunter auch die meisten Anhänger und Sympathisanten auf den unteren Ebenen - den Prozess nur in seinen Auswirkungen wahrnahm.

Für sie als Meisterkonstrukteure war von Bedeutung, dass sich diese Auswirkungen ständig veränderten. Der Prozess musste sich stetig auf das letzte Ziel zubewegen. Theoretisch war das eme Art Kettenreaktion, für die die Gesellschaft das Reaktionsgefäß darstellt.

So gesehen müsste die Evolution und damit der Prozess mehr und mehr akzeptiert werden, mehr und mehr respektiert werden, mehr und mehr als unvermeidlich angesehen werden.

»Nun, meine Herren.« Wie ein Hammer, mit dem man eine Sitzung zur Ordnung ruft, beendete Ralph Channings raue Stimme die Gespräche. »Lassen Sie uns zum entscheidenden Punkt kommen.« Wie jeder wusste, war der entscheidende Punkt die Verlesung des kategorischen Berichts. Aber erfahrungsgemäß würde Channing zunächst einige Vorbemerkungen anbringen.

»Wie einige von Ihnen schon vermutet haben, basieren die endgültigen Weisungen des kategorischen Berichtes auf der bedeutenden Sitzung, die diesen Monat in Straßburg stattgefunden hat. Unser Nicholas Clatterbuck hat eine Zusammenfassung dieser Sitzung für Cyrus Benthoek aufgestellt. Ich hoffe, meine Herren, dass Sie, wenn Sie erst die Bedeutung der in Straßburg vorgeschlagenen Allianz verstanden haben, für unsere Vorschläge umso empfänglicher sein werden.

Einige Vertreter des Vatikans haben in Straßburg anscheinend nicht überblickt, wie weit die von ihnen eingebrachten Vorschläge tatsächlich reichen. Wer hätte auch davon zu träumen gewagt, dass die Heraufkunft der Regentschaft des Fürsten etwas erforderlich machen würde, was der kategorische Bericht die >Phase der Religion< in der Entwicklung hin zur Gemeinschaft der Nationen nennt? Man kann die Religionsgemeinschaften nicht einfach zugunsten okkulter Praktiken verurteilen und übergehen. Sie alle sind selbstverständlich Teil des Prozesses. Wir erkennen jetzt, dass die Religion eine Manifestation des Geistes darstellt.«

Es kam etwas Unruhe auf, aber niemand wollte Channing als einem Experten von Weltrang in Sachen Weltreligionen widersprechen. »Ja, ich gebe zu, es ist eine irregeleitete und missgestaltete Manifestation, aber - und darauf bestehe ich - es ist in der Tat eine Manifestation. Ein fortschrittlicher Geist im Menschen bedeutet Fortschritt in der Religion - und Fortschritt, wie wie wir wissen, führt immer vom Besonderen und Lokalen zum Universellen. Mit anderen Worten, es muss - einfach weil Religionen existieren - logischerweise eine Phase der Religion im evolutionären Prozess der Menschheit geben. \

/Vir müssen verstehen, dass wir heute mit einer neuen Phase in diesem evolutionären Prozess konfrontiert sind. Es ist die letzte Phase! Es ist die Schöpfung einer wahren Weltreligion, die Vernichtung aller Nationalismen, Partikularismen und Kulturalismen der Vergangenheit. In seiner letzten Phase verlangt dieser evolutionäre Prozess nach einem Mechanismus, in dem die Phase der Religion so umgestaltet wird, dass sie dem Globalismus - der Universalität - dieser neuen Ordnung gerecht wird. Indem wir den Prozess unterstützen, ist es unser Bestreben uns der Unterstützung der großen Religionen dahingehend zu versichern, dass sie allesamt zu einer universellen Vereinigung finden - zu einer universellen Religion, bei der man die eine Religion nicht von der anderen unterscheiden kann. Die perfekte Dienerin der neuen Ordnung der Zeiten! Stimmen Sie mir zu, meine Herren?« Channing lächelte in die Runde lächelnder Gesichter.

»Wenn wir das verstanden haben - sogar wenn man Jacques Deneuves Auffassung zustimmt, Rom sei eine Jauchegrube -, wuss eine weitere Tatsache einleuchten: Wenn wir die Phase der Religion der Menschheit zum Gipfel ihrer Evolution bringen wollen - bis zum völligen Aufgehen in den Prozess -, dann aussen wir die Rolle des römischen Katholizismus berücksichtigen. Nein« - Channing unterbrach seine Einleitung, blickte auf die rote Lederkladde, die auf dem dreizehnten Stuhl lag, und erichtigte sich sofort - »vielmehr müssen wir die Rolle des päpstlichen Katholizismus im Allgemeinen und die des päpstlichen Amtes im Besonderen berücksichtigen.

Und jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, an dem der kategorische Bericht verlesen werden kann«, schloss Channing, beugte sich zu dem leeren Stuhl neben ihm, um die Lederkladde aufzunehmen und reichte sie Nicholas Clatterbuck. Clatterbuck las den Bericht mit weicher, angenehmer Stimme vor.

»Folgendes ist der kategorische Bericht, in dem der, den man den >Schlussstein< nennt, die unbedingt notwendigen Maßnahmen zusammenfasst, die das Konzilium der 13 angesichts der bevorstehenden Heraufkunft des Fürsten dieser Welt ergreifen muss.«

Als hätte man einen Schalter betätigt, verkehrte dieser erste Satz die Stimmung in Dr. Channings Studio ins Surreale. Selbst aus Clatterbucks Mund wirkten des »Schlusssteins« Worte wie dunkler Samt, wie ein Schleier, gewoben aus vergangenen Errungenschaften und gegenwärtigen Hoffnungen. Die Lippen der Zuhörer verzogen sich zu einem Lächeln, das nichts Heiteres hatte - einem Lächeln des Todes, freudig empfangen und von neuem voller Ungeduld erwartet.

»Dank der rituellen Inthronisation des Fürsten, vollzogen von den Dienern der inneren Phalanx in der Zitadelle des Feindes, haben Sie immer gewusst, dass Sie das Privileg genießen in der Zeit der Ernte zu dienen um den endgültigen Triumph des Fürsten der Welt zu befördern. Der Augenblick ist gekommen, da uns die Pflicht auferlegt ist die Kräfte des Feindes in seiner eigenen Festung in unseren Dienst zu nehmen.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir Sie daran erinnern, dass uns ein Zeitraum von fünf bis sieben Jahren gegeben ist, bevor wir die uns durch die Inthronisation zuteil gewordene Überlegenheit eingebüßt haben. Das ist unsere unumstößliche Überzeugung.« Angesichts einer solchen Warnung warfen alle Mitglieder des Konziliums - auch Clatterbuck - einen verstohlenen Blick auf Dr. Channing. Doch dessen Autorität genügte, um alle Beteiligten mit einer einzigen Handbewegung zu beruhigen. Die Lesung wurde fortgesetzt.

»Nachdem die Dringlichkeit unserer Verpflichtung geklärt ist, möchten wir hinzufügen, dass der uns zur Kenntnis gelangte Zeitraum - fünf bis sieben Jahre - ausreichend sein wird, allerdings nur unter zwei Voraussetzungen. Erstens müssen wir eine realistische Einschätzung des uns noch verbliebenen Hindernisses vornehmen. Und zweitens müssen wir ebenso realistisch bei der Beseitigung dieses Hindernisses vorgehen. Zunächst das Erste: Das älteste und hartnäckigste Hindernis - und eigentlich das einzige, das allseitigen Respekt und Schutz genießt -, das der Herankunft im Wege steht, war und ist bis zum heutigen Tage das römisch-katholische Papsttum.« Clatterbuck befand sich jetzt wieder auf vertrautem Terrain. Seine Stimme klang ausgeglichen, angenehm fürs Ohr und emotionslos im Ton.

»Lassen Sie uns dabei zuvor festhalten, dass wir Autorität an sich nicht infrage stellen. Ganz im Gegenteil, es muss Autorität geben. Doch lassen Sie uns ebenso festhalten, dass Autorität nicht mit persönlicher Unfehlbarkeit und persönlicher Repräsentation des Namenlosen einhergehen kann. Diese personalisierte Autorität ist uns fremd - und letztlich unseren Interessen abträglich -, weil sie der Herankunft abträglich ist. Wir aber fühlen uns der Herankunft verpflichtet.

Einige Werkzeuge des päpstlichen Büros können ohne weiteres als Instrumente zur Beförderung der Heraufkunft übernommen werden. Trotzdem steht uns mit dem Papsttum selbst ein Hindernis im Weg, welches wir zu fürchten haben. Es stellt eme tödliche Bedrohung dar, denn bei diesem Papsttum haben wir es mit einer gefährlichen Realität zu tun, einer Realität des Geistes, einem Brocken Andersartigkeit, die einzigartig ist. Diese Realität ist unvereinbar mit dem Voranschreiten der neuen Weltordnung, wie wir sie vor Augen haben; und damit ist sie unvereinbar mit der Herankunft, deren Künder wir sind.

Wir sollten uns daran erinnern, wie unverwüstlich das Papsttum in der Vergangenheit gewesen ist. Man kann das Amt selbst mit Korruption jeder Art vergiften. Man kann seine Inhaber vom Rest der menschlichen Rasse isolieren. Man kann sie auslöschen - sanft oder mit Gewalt, heimlich oder vor den Augen von Millionen. Aber niemand hat dieses Amt je vernichten können Nichts und niemand.

Dieser Fels von Andersartigkeit muss, da er sich als so wirkungsvoll und ausdauernd erweist, seine Kraft, seine Stärke und seine Fähigkeit zur Wiederherstellung aus einer Quelle schöpfen, die uns völlig fremd ist. Sie müssen von etwas herrühren, das uns, dem >Schlussstein<, und der Herankunft fremd ist. Sie müssen auf den Namenlosen zurückgehen. In diesem kritischen Moment unseres Feldzugs müssen wir, die wir vom Geist erfüllt sind, uns bewusst machen, dass wir gegen die Realität des Geistes ankämpfen, gegen einen widrigen Geist zwar - dennoch gegen den Geist.

In dieser letzten glorreichen Phase der Heraufkunft muss unser gemeinsames Handeln gegen den Hort des Widerstands gerichtet sein, der unserem Ziel entgegensteht. Folgerichtig behandelt unser kategorischer Bericht die eine entscheidende Frage: Was kann gegen das personifizierte Papsttum in seiner verstockten Beharrlichkeit unternommen werden?

Unsere Antwort zwingt uns zu einer völligen Umkehr unserer Strategien. Oder besser, unsere Strategien müssen auf einer Ebene ausgetragen werden, die nicht einmal Sie, die Mitglieder des Konziliums, je für möglich gehalten haben. Wir haben betont, dass das päpstliche Amt respektiert, gefürchtet und geschützt wird. Allerdings, das haben wir ebenfalls festgestellt, können wir nicht länger in der Defensive verharren. Statt uns gegen die Macht dieses Amtes zu schützen, werden wir von ihm Besitz ergreifen.

Unsere unumstößliche Entscheidung - das Ziel unseres Zeitplans für die fünf bis sieben uns günstigen Jahre, die uns bleiben - muss folgendermaßen aussehen: Wir müssen das päpstliche Amt in all seiner Beharrlichkeit für uns gewinnen. Und dafür müssen wir sicherstellen, dass dieses Amt mit einem Mann besetzt wird, der sich zuverlässig unseren Vorstellungen unterwirft. Wir möchten nun die wenigen Möglichkeiten darlegen, wie wir dieses Ziel erreichen können. Es gibt im Grunde nur drei: Überzeugung, Liquidierung, Rücktritt.

Betrachten wir zunächst die Überzeugung: Damit ist die Möglichkeit gemeint, den gegenwärtigen Inhaber des Amtes selbst zu einem solchen Entgegenkommen und solcher Billigung zu bewegen, wie es unser eingeschworenes Vorhaben verlangt. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass nach dem einmütigen Urteil unserer eingeweihten Experten - darunter Mitglieder der Phalanx, die in unmittelbarer Nähe des Papstes residieren - der jetzige Inhaber niemals die Weisheit unseres Vorhabens erkennen wird.

Wir haben aber auch nicht die Zeit zu warten, bis er dahinscheidet. Auf der Grundlage statistischer und persönlicher Gesundheitsdaten müssen wir davon ausgehen, dass der jetzige Inhaber weitere vier bis sieben Jahre am Leben bleibt. Bleiben wir bei unserer unumstößlichen Überzeugung, wonach uns ein begrenzter Spielraum von nur fünf bis sieben Jahren zur Verfügung steht, so müssen wir uns den beiden anderen Optionen zuwenden: der Liquidierung oder dem Rücktritt des gegenwärtigen Inhabers des Papstamtes,

Praktisch gesehen kann jede dieser beiden Optionen das Ergebnis bringen, welches uns vorschwebt, und uns die Möglichkeit verschaffen, einen neuen entgegenkommenden Amtsinhaber einzusetzen. Wie so oft bei wichtigen Unternehmen ist der scheinbar schwierigste Schritt - die Einführung eines uns geneigten Innhabers - auch in unserem Fall der leichtere. Wir brauchen niemandem in diesem Konzilium zu erklären, dass wir uns dank der zunehmenden Anzahl von Anhängern unserer inneren Phalanx in einer ausgezeichneten Lage befinden. Daher werden wir den gegnerischen Geist nicht etwa nur zwingen, ein uns geneigtes Haus von seiner Gegenwart zu befreien, nur damit er sich in ein anderes, uns ebenso geneigtes Haus begibt. Davon haben wir überhaupt nichts.

Nein, der Kandidat, der den gegenwärtigen Amtsinhaber ersetzen soll, wird mit unseren Zielen vertraut sein, er wird mit dem Vorhaben vollkommen einverstanden und sogar bereit sein diese Ziele durchzusetzen.

Daher muss die Möglichkeit einer Beseitigung im Mittelpunkt unserer dringlichsten und unermüdlichen Überlegungen stehen. Die erste der beiden Alternativen, mit der dies erreicht werden könnte, wäre die befriedigendste. Oberflächlich betrachtet wäre es die einfachste Art und deswegen auch die verlockendste. Wir meinen die persönliche Liquidierung.

Sollte eine schnelle und offen durchgeführte Liquidierung für uns selbst von Nachteil sein, könnte man sich fragen, ob es nicht gemäßigtere, aber dennoch effektive Möglichkeiten einer Liquidierung gäbe. Wir wissen von konkreten Plänen, die auf eine schrittweise und vorsichtige Liquidierung hinauslaufen. Aber all diese Pläne werden durch die Sicherheitsvorkehrungen, die das päpstliche Büro seit 1981 eingeführt hat, erheblich verkompliziert; diese Schutzmaßnahmen sind derart umfassend und detailliert, dass sogar die gesamte Nahrungsaufnahme kontrolliert wird.

Die bloße Tatsache, dass es solche Pläne gibt, ist ein hinreichender Grund, warum wir nicht selbst derartigen Versuchungen erliegen sollten. Es gibt auf der Welt keine Geheimnisse. Letztlich wird alles verraten, alles wird aufgedeckt, alles wird bekannt. Vergessen wir nicht, dass wir es mit dem Geist zu tun haben - er ist unbeständig, unberechenbar, wild in seiner Art und, wenn es sein muss, auch zerstörerisch.

Wir haben diesbezüglich ein unumstößliches Urteil gefällt: Wer uns Vorschläge für eine derartige Lösung unterbreitet, reicht uns in Wirklichkeit eine scharfe Handgranate und fordert uns auf den Zünder zu ziehen und uns so in die Selbstliquidierung hinabzureißen.

Daher gibt es nur noch den auserwählten Weg. Die unumstößliche Wahl, die uns zum Erfolg verhilft, wird der Amtsverzicht sein. Kurz gesagt soll der gegenwärtige Amtsinhaber dazu veranlasst werden, von seinem Amt zurückzutreten - und zwar ohne jeden Vorbehalt.

Ein freiwilliger päpstlicher Amtsverzicht wäre für den gemeinen römisch-katholischen Laienstand und die Kirchenleute selbst, die uneinig und zerstritten sind, ein wichtiges Signal. Es wäre nichts anderes als das Eingeständnis einer Niederlage wichtiger Kräfte, die uns im Wege stehen. Ein Amtsverzicht wäre eine Erklärung an die verbliebenen Hüter der alten Ordnung, dass die Vergangenheit nicht mehr wieder zu beleben ist. Das Klima ist bereits so weit gediehen, dass es innerhalb der alten Ordnung Sympathien für unseren auserwählten Weg gibt. Eine offen gehegte Sympathie, dürfen wir hinzufügen, in den strategisch bedeutsamen Rängen.

Wenn wir davon reden, dass der Amtsinhaber zu einem Amtsverzicht bewegt werden soll, dann muss dies auf die unaufdringlichste Art und Weise erfolgen. Dabei sollten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die uns zur Verfügung stehen. Das wirksamste Mittel wird der Druck unumkehrbarer Ereignisse sein sowie das Entstehen mächtiger Kraftfelder. Ereignisse und Kraftfelder müssen so ausgelegt sein, dass der Amtsinhaber in seinen Handlungen eingeschränkt wird. Das Einzige, was ihm dann noch bleibt, ist der Rücktritt.

In dem Bericht, der uns über die von Mr. Cyrus Benthoek geleitete Sitzung in Straßburg vorliegt, weist unser verehrter Nicholas Clatterbuck darauf hin, dass wir potenzielle Verbündete haben, die bislang nicht als sicher galten. Es sind Individuen, die innerhalb der Zitadelle einen sehr großen Einfluss genießen und die sich mit den Mitgliedern der inneren Phalanx zusammengetan haben. Sie waren ebenfalls in Straßburg anwesend. Sie haben betont, dass sie einen radikalen Wechsel auf allerhöchster Ebene der Administration erwarten. Und in ihrem Eifer haben sie uns ihren eigenen globalen Einfluss zur Unterstützung angeboten.

Überdies ist noch eine viel wichtigere Initiative ins Leben gerufen worden, bei der auch wir - wiederum von Cyrus Benthoek - zur Mitarbeit aufgefordert worden sind. Bei dieser Initiative handelt es sich um die Bildung einer engen und systematischen Allianz zwischen praktisch allen kirchlichen Würdenträgern Mitteleuropas und der Europäischen Gemeinschaft. Diese Initiative gilt es zu unterstützen.

Alles in allem ist also der Weg frei, dass der jetzige Amtsinhaber in strikter Übereinstimmung mit dem kanonischen Gesetz der Zitadelle friedlich abdanken kann. Ihre Aufgabe besteht nun darin, die beiden bedeutenden Vorteile, die sich uns bieten, auch zu nutzen. Ihre Aufgabe besteht darin, den Vorschlag von Straßburg in die Tat umzusetzen und die geplante Union zwischen der Zitadelle und der Europäischen Gemeinschaft voranzutreiben. Ihre Aufgabe besteht darin, mithilfe dieser beiden Vorteile die unumkehrbaren Ereignisse und die mächtigen Kraftfelder zu schaffen, dank deren das Papstamt für den namenlosen Anderen putzlos werden und den Dienern des Fürsten in die Hände fallen wird.«

 

Clatterbuck musste seinen Verbündeten nun nur noch den Plan erläutern, wie man die europäischen Bischöfe an die Interessen (ler Europäischen Gemeinschaft anbinden könne. Ein junger talentierter Mitarbeiter der Firma - Paul Thomas Gladstone - sollte den mächtigen Posten des Generalsekretärs beim Ministerrat der EG übernehmen. Gladstones Bruder, Pater Christian Thomas Gladstone, sollte die Verbindung zum Vatikan herstellen. Unter römischer Führung und mit seinem Bruder als Verbindungsmann zu den Kommissaren sollte Pater Gladstone die Bischöfe zu einer professionellen Zusammenarbeit gemäß den Plänen und Zielen der EG führen.

Nicholas Clatterbuck beendete seine Erläuterungen, indem er noch einen allerletzten Punkt betonte. Sowohl die EG-Initiative als auch die Allianz von Straßburg waren im Moment noch abhängig von der Zuverlässigkeit Seiner Eminenz Kardinal Cosimo Maestroiannis. Pater Christian Gladstone war sein Zögling. Zwar war der bald aus dem Amt scheidende Staatssekretär ein sehr guter Freund von Cyrus Benthoek, Cyrus Benthoek wiederum aber kein Mitglied des Konziliums. Und da Benthoek nicht zu den Eingeweihten zählte, durfte seine Einschätzung der Integrität und Zuverlässigkeit des Kardinals nicht als völlig verlässlich gelten. Selbst gewöhnliche Umsicht erforderte es daher, dass einer der ihren den Kardinal unter die Lupe nahm.

Dr. Ralph Channing wollte diese Aufgabe persönlich übernehmen und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. »Um unsere Beziehung zu festigen«, meinte er, »und um die Sache ein Wenig zu forcieren.«

Falls der Kardinal den Test bestünde - das heißt, wenn sein Einverständnis außer Frage stünde und er als getreuer und verlässlicher Verbündeter gelten dürfte -, könnten sich die Dinge sehr schnell entwickeln. Gynneth Blashford erwähnte, dass Clatterbuck problemlos ein Treffen zwischen Cyrus Benthoek, dem Professor und ihrem neuen römischen Freund arrangieren könne. »Die Freunde von Freunden helfen doch eigentlich immer aus, nicht wahr?«

Damit war die Sache erledigt. Wenn alles gut ginge, sollten diejenigen in Rom, die Hilfe für einen radikalen Wechsel an der Spitze der Macht erbeten hatten, mehr bekommen, als die meisten unter ihnen je erhofft hatten.

 

 

XIV

Weltgewandt wie er war - und vertraut mit den höchsten Machtebenen, wo man auszieht die Gedanken des Gegners zu bezwingen und Strategien für weltumspannende Kriege ersinnt -, fühlte Dr. Ralph S. Channing sich Kardinal Cosimo Maestroianni weit überlegen.

Channings größte Sorge bei der »Sicherung der Stabilität in Rom« betraf weniger die Fähigkeiten des Kardinals oder dessen Zugriff auf die Macht innerhalb der Zitadelle, sondern die Frage, ob Seine Eminenz nicht ein hochrangiger Wendehals war, der sich heute dem einen und morgen dem nächsten Meister zuwandte. Bevor der Professor aus New York abreiste, verschaffte er sich deshalb Einblick in die Leistungen des Kardinals in seinem derzeitigen Amt. Auf dem Weg nach Rom traf er sich in London mit Cyrus Benthoek und erhielt von ihm ein lebendiges, überzeugendes und leidenschaftliches Bild des römischen Kirchenmannes, der mit Benthoek schon sehr lange befreundet war. Schließlich vermittelte ihm dieser einen Besuch in Maestroiannis Penthouse Wohnung, wo sich alle Hoffnungen auf eine künftige Zusammenarbeit erfüllen sollten.

Während er noch mit Benthoek im Arbeitszimmer des Kardinals wartete, studierte Channing seine Umgebung mit unverhohlenem Interesse. Als herausragender Gelehrter konnte er eine erstklassige Bibliothek auf den ersten Blick erkennen. Es war eine viel benutzte Bibliothek, die den innersten Kern der Leidenschaft offenbarte, mit der Seine Eminenz offenbar den Gang der Geschichte verfolgte. »Eine ausgezeichnete Sammlung«, bemerkte Channing angetan zu Benthoek, als er einige seiner eigenen Monografien entdeckte, die auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes gestapelt lagen.

Schließlich eilte Kardinal Maestroianni persönlich aus dem angrenzenden Zimmer herein. »Wie Sie sehen, Dr. Channing, sind Sie hier nicht ganz unbekannt. Ich lese gerade Ihre Monografie über die geopolitischen Aspekte der Demografie. Ein ausgezeichnetes Werk. Ich stehe tief in Cyrus' Schuld, dass er diese Begegnung ermöglicht hat.«

Kardinal Maestroianni führte die Gäste zu drei bequemen Stühlen um einen Teetisch, auf dem Mineralwasser und Eiswürfel bereitstanden. Eine angenehme Brise wehte durch die geöffneten Fenster. Ganz seinen römischen Instinkten folgend verweilte Maestroianni einige Momente beim Smalltalk; obwohl er Channing kannte, waren letzten Endes persönliche Eindrücke und Beurteilungen ausschlaggebend.

Cyrus Benthoek verlor als Erster die Geduld. »Ich habe beschlossen mich an Sie zu wenden, Eminenz«, unterbrach er, »weil wir alle ein gemeinsames Ziel haben. Dr. Channing hat mir gegenüber betont, dass er nicht nur die Ziele unterstützt, die in Straßburg formuliert wurden, sondern persönlich alle erforderlichen Voraussetzungen schaffen kann.«

Maestroianni nickte, blieb aber reserviert. Er wollte seine Karten nicht zu früh auf den Tisch legen. Cyrus legte entschlossen nach: »Ich habe mir die Freiheit genommen Dr. Channing die Einzelheiten unserer Sitzung in Straßburg zu erläutern. Ich muss Ihnen sagen, Eminenz, es war eine angenehme Aufgabe. Es hatte den Anschein, als habe der Professor schon vorher alles über Kardinal Aureatinis Erneuerung des christlichen Zeremoniells gewusst, ebenso über Kardinal Palombos Internationalen Rat für christliche Liturgie. Es war sehr beruhigend, Eminenz. Viel versprechend.«

»Ich verstehe.« Nichts anderes hatte Maestroianni erwartet. Er wandte sich Channing zu, denn er wollte von diesem Außenseiter eine klare Aussage hören.

Channing verstand dies. Seine Stimme klang so kategorisch wie die Wahl seiner Worte. »Euer Eminenz wissen, wie weit der Prozess darin vorangeschritten ist, die westlichen Nationen in wirtschaftlicher, finanzieller und kultureller Hinsicht einander anzunähern. Dabei geht es um mehr als ein Dutzend Nationen mit beinahe einer Milliarde Einwohner.

Wenn alles nach Plan läuft, werden in zwei bis vier Jahren in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft große Veränderungen eintreten. Jedes Land wird die Kontrolle über die meisten Bereiche seiner Wirtschaft und seiner Wirtschaftspolitik verlieren. Die Außen- und die Verteidigungspolitik werden ohnehin schon zum Teil von überstaatlichen Notwendigkeiten und Zwängen bestimmt. Der souveräne Nationalstaat wird bald der Vergangenheit angehören.«

Maestroianni nickte mit geduldiger Zustimmung. Er benötigte keine Vorträge über die Möglichkeiten und Erfolge des Prozesses.

Channing spürte, dass es von Vorteil wäre, wenn er die persönlichen Leistungen des Kardinalstaatssekretärs anspräche. »Nun, während der Amtszeit Seiner Eminenz als Staatssekretär hat sich die Außenpolitik des Heiligen Stuhles in Bezug auf den Prozess als äußerst verlässlich erwiesen. Um mit Ihren eigenen geheiligten katholischen Worten zu sprechen war Ihre Kirche in den letzten fünfundzwanzig Jahren bestrebt >zusammen mit den Menschen die irdische Heimstatt der Menschheit zu errichten<. Sogar die Basis ihres religiösen Anhangs - die Masse selbst - trägt jetzt den Stempel unseres allerhöchsten Ziels. Sie nennen es den Novus Ordo, die neue Ordnung.

Ich möchte nicht Eulen nach Athen tragen, Eminenz, wenn ich darauf hinweise, dass die von Ihrem Sekretariat ausgegangene Politik eine tiefe Kluft in Ihre katholische Hierarchie gerissen hat. Meine Kollegen und ich stellen fest, dass die Mehrzahl Ihrer Bischöfe - besonders im Westen - wegen dieser neuen Orientierung der Kirche sehr erwartungsvoll gestimmt ist. Immerhin sind es sehr praktisch denkende Männer. Und diese Bischöfe genießen nicht das luxuriöse Leben der Vatikanstadt.« Dr. Channing deutete mit einer ausladenden Geste zum Fenster der Dachwohnung hinaus. »Sie beginnen bereits den Druck zu spüren, der von der EG, der KSZE und dem Freihandelsabkommen zwischen Europa, Nordamerika und Asien ausgeht.

Wie jeder andere haben sicher auch Ihre römisch-katholischen Bischöfe erkannt, dass sie entweder aktiv an der Errichtung der neuen Weltordnung teilhaben oder aus dem alltäglichen Leben ihrer eigenen Landsleute verschwinden werden. Welch eine Kirche wäre denn das, Eminenz? Eine Kirche der neuen Katakomben! Etwa so einflussreich wie tibetische Astrologen bei der NASA!

und hier liegt das Problem«, erklärte Channing weiter und beugte sich vor. »Der gegenwärtige Inhaber des Stuhles Petri leitet seine Energien in eine ganz andere Richtung. Meine Kollegen und ich sehen in ihm den Erben der unannehmbaren Auffassung, dass seine Kirche als Verkörperung einer vollkommenen Autorität den Katholiken ex cathedra verbieten darf ihren Mitmenschen in dieser Welt auf ihrem Weg zu folgen.

Der entscheidende Punkt für die meisten Gläubigen ist folgender: Der derzeitige Inhaber des Papstamtes hat, so scheint es, noch mehr als ein paar Jahre aktiven Lebens vor sich, während Ihrer Kirche keine fünf oder zehn Jahre bleiben um sich den richtigen Platz in der neuen Weltordnung zu sichern.« Obwohl er trotz seiner langen Rede den eigentlichen Anlass ihres Treffens noch gar nicht angesprochen hatte - die Absicht, den gegenwärtigen Papst aus seinem Amt zu entfernen -, lehnte sich Dr. Channing in nachdenklichem Schweigen zurück.

Laut Clatterbuck hatten sich Maestroianni und seine Kollegen in Straßburg darauf verständigt, dass eine Änderung an der päpstlichen Struktur ihrer Kirche unbedingt erforderlich war; und sie waren es auch gewesen, die nach genau der Hilfe gesucht hatten, die Channing ihnen bieten konnte. Doch außer einem gelegentlichen zustimmenden Nicken und einigen anerkennenden Lachern blieb der Kardinal ruhig und zurückhaltend. Was musste denn noch passieren um diesen kleinen, anmaßenden Prälaten aus der Ruhe zu bringen? Wie weit sollte Channing noch gehen um Bewegung in die Sache zu bringen? Vielleicht einen Schritt noch. Professor Channing beugte sich erneut vor. »Das Timing, Eminenz, hat uns hier zusammengebracht. Ich bin mir wohl bewusst, wo ich mich an diesem Nachmittag befinde. Und ich hoffe, dass ich nicht die Grenzen des Anstands überschreite. Aber ich fühle, dass ich nun offen wie unter Brüdern sprechen muss.« Channing schloss Benthoek in diesen symbolischen Schulterschluss ein.

»Ohne dass ich auf vertrauliche Details eingehe, werden Sie verstehen, dass auch unsere Seite innerhalb eines abgesteckten 2eitrahmens arbeitet. Wir glauben, dass in dieser Welt der Rationen ein sehr großes Ereignis stattfinden wird. Wir rechnen damit, dass wir nur noch fünf Jahre Zeit haben. Höchstens sieben. Selbstverständlich ist dieses Ereignis eng mit der entstehenden neuen Ordnung der Nationen verknüpft. Aber es ist genau genommen kein rein ökonomisches, soziales oder politisches Ereignis. Lassen Sie mich nur so viel sagen: Es ist seinem Wesen nach eine humanistische Erfüllung der spirituellsten Art.«

Maestroianni schaute Benthoek fragend an. Doch von ihm kam keine Antwort. Cyrus war sich über das von Channing angekündigte »große Ereignis« offenbar genauso im Unklaren wie der Kardinal selbst. »In diesem Fall, Doktor« - der Kardinalstaatssekretär stieß einen schweren Seufzer aus -, »lassen Sie uns unsere notwendigen Handlungen aufeinander abstimmen.«

Channings blickte befriedigt auf.

»Sehen Sie, Dr. Channing, zu behaupten, dass viele unserer Bischöfe den Innovationen enthusiastisch gegenüberstehen, die wir in unserer Kirche eingeführt haben, ist eine Sache. Andererseits ist die päpstliche Autorität auch heute noch für Millionen von Katholiken verbindlich und sie ist auch außerhalb der katholischen Kirche sehr einflussreich. Das Papstamt ist weiterhin der exklusive Hort autoritärer Macht über das Denken und Wollen der Gläubigen. Diese autoritäre Macht entscheidet darüber, woran die Gläubigen zu glauben haben; und sie bestimmt ihre Verhaltensmaßregeln im privaten Bereich und in der Öffentlichkeit.

Unser Konzept ist relativ einfach. Cyrus würde sagen, es ist eine bürokratische Lösung für ein komplexes bürokratisches Problem. Wenn wir sowohl die religiöse als auch die politische Souveränität als schädliche Einflüsse auf die menschlichen Beziehungen eliminieren wollen, müssen wir einen überzeugenden und rechtlich akzeptablen Mechanismus entwerfen, der zwei Zielen gerecht wird: Er muss sich mit der Lehre und der jahrhundertealten Tradition dieser Kirche auseinander setzen, der zufolge sich die Macht und die Autorität auf das Amt Petri konzentriert; und derselbe Mechanismus muss sicherstellen, dass die Einheit zwischen dem Papst und den Bischöfen nicht erschüttert wird. Ohne Einheit kann es so etwas wie eine universelle Kirche nicht geben. Ihr Nutzen als globaler Partner ginge dann verloren.

Deswegen sieht unser Vorschlag die Durchführung eines Programms vor, das den Schwerpunkt der autoritären Macht vom Papst weg verlagert. Ein Programm, das die Einheit selbst zu einem wichtigen operativen Faktor zu unseren Gunsten umwandelt, während wir voranschreiten.

Die Bischöfe des Zweiten Vatikanischen Konzils haben betont, dass sie als Nachfolger der zwölf Apostel die Regierungsautorität in der universellen Kirche mit dem Bischof von Rom teilen. Die Bischöfe kehrten nach dem Konzil heim und gründeten ihre nationalen Bischofskonferenzen«, fasste Maestroianni die Umverteilung der Macht zusammen. »Und in bestimmten Regionen der Welt bildeten sich aus den nationalen Bischofskonferenzen regionale Bischofskonferenzen. Fünfundzwanzig Jahre später haben wir damit eine neue Kirchenstruktur. Anstelle eines einzigartigen, eingleisigen, exklusiven Machtgefüges, das vom Papst abwärts die ganz universelle Kirche gliedert, haben wir nun vielfältige Ebenen, auf denen einzelne Machtströmungen kollidieren. Es gibt so viele Machtströmungen, wie es nationale und regionale Konferenzen gibt.

Mit einem Wort, die universelle Kirche ist jetzt ein Gitter, ein Netzwerk, das diese Bischofskonferenzen gebildet haben. Ihrer Natur und ihrem Mandat nach sind diese Konferenzen zu ständiger Aktion und Reaktion im Verhältnis zur vatikanischen Vormundschaft und dem Papsttum verdammt. Und während jeder Bischofskonferenz ein lokaler Bischof vorsitzt, sind alle Bischöfe auf die Periti angewiesen, wie sie genannt werden, auf ausgezeichnete Berater. Ich nehme an, Sie kennen den Einfluss, Jen die Periti auf die Bischöfe des Zweiten Vatikanischen Konzils hatten?«

Channing nickte.

»Das Ergebnis sieht so aus, dass viele unserer Bischöfe sich nicht mit der Politik des gegenwärtigen Pontifikats anfreunden können. Und sie schränken jetzt schon die Reichweite und den Einfluss der ehemals einzigartigen Machtsphäre des Papsttums ein. Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass es höchste Zeit sei, diese Unzufriedenheit mit Rom auszunutzen.«

Channing glaubte Maestroianni folgen zu können. »Ihr Ziel ist es, den gegenwärtigen Papst aus seinem Amt zu entfernen.«

»Nein, Professor. Natürlich betrachten wir den freiwilligen Rücktritt des jetzigen Papstes als unbedingt notwendig. Aber unser letztes Ziel ist ein viel ehrgeizigeres. Wir werden den Bischöfen selbst etwas entlocken - und ich spreche von der überwältigenden Mehrheit der viertausend Bischöfe in aller Welt - und zwar ein formales Instrument mit kanonischer Gültigkeit, das wir ganz passend die Gemeinsamen Gedanken der Bischöfe< nennen werden.

Falls wir Erfolg haben sollten, wird der Papst nicht mehr über die Einheit bestimmen, sondern es werden die Bischöfe sein, die emen Papst der Einheit benötigen. Ein Papst, der ihnen das Gefühl eines episkopalen Ganzen vermittelt. Damit will ich sagen, dass die Gemeinsamen Gedanken der Bischöfe< logischerweise darauf zielen sollen, im Papst nicht mehr den Vikar Su zu sehen, sondern den Vikar Petri, den ersten Bischof von Rom. Und darüber hinaus sollen die Gemeinsamen Gedanken< konsequenterweise alle Bischöfe - gemeinsam und gleichberechtigt - zum kollektiven Vikar Christi erheben.«

Ralph Channing war beeindruckt. Sollten die Vorstellungen Seiner Eminenz als offizielle Kirchenlehre angenommen werden, würde sich die Herrschaftsstruktur der Kirche grundlegend ändern. Die zentrale Rolle des Vatikans würde entfallen. In religiösen Fragen wäre der Papst nicht mehr der Oberhirte. Auf politischer Ebene wäre er nicht mehr souverän. Etwaige Reformen müssten nicht mehr vom Papst abgesegnet werden um Gültigkeit zu erlangen.

»Nun gut, Euer Eminenz. Nachdem Sie Ihre Ziele dargelegt haben, könnten wir jetzt darüber reden, mit welchen Schritten Sie diese Ziele erreichen wollen? Ich denke, dafür benötigen Sie unsere Unterstützung?«

»Ganz genau«, antwortete Maestroianni. Da er schon so weit vorgeprescht war, fiel es dem Kardinal nicht weiter schwer die drei Phasen zu beschreiben, nach denen verfahren werden sollte. »Der erste Schritt ist der mühseligste. Wir müssen uns durch die Mühlen ihrer Konferenzen arbeiten, wo wir den Bischöfen die vielen praktischen Vorteile und Vergünstigungen der neuen Weltordnung vorstellen werden. Unsere Strategie sieht vor, dass wir zunächst die Konferenzen aufsuchen, die von den einflussreichsten Bischöfen angeführt werden.« Nach Mastroiannis Meinung waren diese Schlüsselkonferenzen unbestreitbar diejenigen Westeuropas.

»Und warum?« Die Frage des Kardinals war offensichtlich rhetorischer Natur. »Ganz einfach weil die Bischöfe in diesen Ländern die längste und die reichste Tradition haben. Weil dort, wo diese Bischöfe residieren, die Bevölkerung gegenwärtig in einem heraufziehenden größeren Europa vereinheitlicht und geeint wird. Und weil diese Bischöfe verstehen, dass ihre Eingliederung in die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für alle wichtigen Fragen ihrer Organisation von Bedeutung sein wird.

Natürlich müssen wir Gegenleistungen anbieten können, die für ihre Belange lebenswichtig sind. Vorteile im Finanzwesen zum Beispiel. Und Sozialeinrichtungen für ihre Evangelisierungsbemühungen. Und eine Rechtsprechung, die ihren bürgerlichen Rechten entgegenkommt; die ihre Position im Bildungsbereich absichert; die ihren privilegierten Steuerstatus aufrechterhält; und die eine wohlwollende Handhabung von Justizverfahren gegen straffällig gewordene Geistliche garantiert.

Während sich dieser Konsens entwickelt, werden sich die Bischöfe zunehmend weniger mit der Politik des Papstes einverstanden zeigen. Und mithilfe dieser vielschichtigen Bischofskonferenzen wird man einen weiteren Konsens erreichen. Einen solide geformten, formal beschlossenen und offen ausgedrückten Konsens: die Gemeinsamen Gedanken der Bischofe<. Dieses Instrument wird durch solche kategorischen Aussagen auf sich aufmerksam machen wie etwa: >Der gegenwärtige Heilige Vater ist kein Papst der Einheit. Die Bischöfe sind der Meinung, dass wir einen Papst der Einheit brauchen. Die Bischöfe vertreten die Auffassung, dass er wie jeder andere Bischof im Alter von fünfundsiebzig Jahren seinen Rücktritt einreichen sollte.<«

Maestroianni lächelte Channing verschwörerisch zu. »Es gibt gar keinen Zweifel, der Papst ist ein sturer Mann. Dennoch ist es nicht einmal in seinem Fall vorstellbar, dass er dem außerordentlichen Druck widerstehen kann, den dieses formale Instrument seiner Kirche auf ihn ausüben wird. Diese Gemeinsamen bedanken der Bischöfe<, offiziell von den Bischofskonferenzen vorgetragen, werden deutlich machen, dass jeder Bereich des tpiskopats seinen Amtsverzicht verlangt. Alles in allem habe ich persönlich keinen Zweifel, dass wir innerhalb einer Zeitspanne von zwei bis drei Jahren den Amtsverzicht des derzeitigen Heiligen Vaters erleben werden.

Kommen wir nun zum zweiten Schritt«, fuhr Kardinal Maestroianni rasch fort. »Wenn irgendein anderer Bischof seinen Rücktritt einreicht, erhält der Papst sein Rücktrittsschreiben und er bestätigt es oder lehnt es ab. Wir können jedoch nicht erwarten, dass dieser Mann sein eigenes Rücktrittsgesuch entgegennimmt und es auch bestätigt. Wir müssen uns eines anderen Mittels bedienen - wir müssen einen Rat der Bischöfe einberufen, der grundsätzlich genauso legitimiert ist - um das päpstliche Rücktrittsgesuch entgegenzunehmen und zu bestätigen. Nur selten urteilen die Bischöfe in ihrer episkopalen Rechtsprechung einstimmig und treten als eine Einheit auf. Aber wir haben einen solchen Rat der Bischöfe! Es ist die Internationale Bischofssynode, die hin und wieder in Rom tagt. Weil die Synode im Namen des gesamten Episkopats und in Verantwortung für die universelle Kirche auftritt, wäre sie die nahe liegende Instanz, die den Rücktritt des Papstes entgegennehmen und bestätigen könnte.

Und das, meine Herren, führt uns zum dritten Schritt, dem leichtesten. Die Organisation eines Konklaves um auf hergebrachte Weise einen neuen Papst zu wählen.«

Cyrus Benthoek stellte zum ersten Mal fest, wie ausführlich und detailliert der Plan bereits ausgearbeitet worden war. Er war überaus beeindruckt. »Nun gut, Eminenz! Ich denke, wir sind aber noch beim ersten Schritt Ihres Plans, oder? Und ich nehme an, wir sollten uns zunächst auf die Bischöfe in Europa konzentrieren, nicht wahr?«

»Und« - Channing war nicht weniger enthusiastisch - »ich gehe davon aus, dass meine Kollegen und ich an dieser Stelle behilflich sein könnten.«

»Korrekt.« Maestroianni antwortete beiden mit einem Wort. »Die vorgesehen Gemeinsamen Gedanken der Bischöfe< werden ohne Nutzen sein, wenn wir nicht sicherstellen können, dass die Bischöfe selbst frühzeitig eine aktive und profitable Rolle in den übergeordneten Strukturen Großeuropas spielen werden. Und zu diesem Zweck, Dr. Channing, haben uns günstige Umstände zwei Zahnrädchen in die Hand gegeben, die gut in unseren Mechanismus passen. Es sind zwei Brüder.

Einer von ihnen, Pater Christian Gladstone, steht in Diensten des Vatikans - oder wird es bald sein. Paul Gladstone hingegen hat sich seine Sporen als exzellenter Internationalist in Cyrus Benthoeks Unternehmen verdient. Wir werden dafür sorgen, dass unser geistlicher Bruder in eine Position in der Bischofssynode befördert wird, wo er mit der notwendigen Autorität ausgestattet ist. Unter unserer strengen Anleitung wird er als reisender Botschafter des Vatikans tätig sein um die genauen Bedürfnisse eines jeden der betreffenden Bischöfe unter den praktischen Aspekten zu ermitteln, die ich vorher erwähnt habe.

Um unsere Versprechungen gegenüber den Bischöfen einhalten zu können, ist es erforderlich, dass Pater Christian Gladstone unter unserer Leitung agiert. Und da der Posten des Generalsekretärs im Ministerrat der Europäischen Union günstigerweise bald frei wird, schlagen wir vor, dass Paul Gladstone allen anderen Kandidaten vorzuziehen ist, die gegenwärtig für diese Position in Betracht kommen.

Also, Dr. Channing, wir kommen nun zu den praktischen Aspekten unseres Vorhabens, zur Hauptsache. Wir können die gesamte Diskussion auf zwei einfache Fragen reduzieren: Können Sie garantieren, dass der Posten des Generalsekretärs im EG-Ministerrat durch Mr. Paul Gladstone besetzt wird? Und wenn ja, werden Sie es tun?«

Das Trio in Kardinal Maestroiannis Arbeitszimmer saß für einige Zeit schweigend da. Es schien, als habe jeder seinen Kollegen Zeit gegeben sich zum Nachdenken hinter den Schleier seiner eigenen Gedanken zurückzuziehen.

Maestroianni bat nicht wie üblich Cyrus Benthoek mit einem Blick um Unterstützung oder Zustimmung. Ausnahmsweise war es Benthoek, der sich nicht ganz wohl fühlte. Die anhaltende Stille machte ihn äußerst nervös. Benthoek hatte nie behauptet die Dinge so zu verstehen, wie dies dem Professor möglich war; natürlich konnte er die Gedanken eines Meisterkonstrukteurs nicht lesen. Doch ebenso wenig konnte er sich vorstellen, was einen solch hellen Kopf wie Channing von einer sofortigen Zustimmung abhielt.

In Wahrheit gab es nicht viel, was Channing zurückhielt. Jegliche Zweifel, die Maestroiannis Person betreffen mochten, waren gänzlich unbegründet. Trotzdem, war Maestroiannis Einschätzung der Bischöfe nicht zu optimistisch? Hatten die Bischöfe sich wirklich in einer solchen Wüste verlaufen? Hatte sich ihr Pflichtbewusstsein gegenüber ihrem Papst so sehr verflüchtigt, dass sich jetzt so leicht eine Mehrheit für ihre eigenen individuellen Interessen fände?

 

Schließlich konnte Benthoek die Stille nicht mehr ertragen. In der Hoffnung, es möge wie die herniederstürzenden Wassermassen der Niagarafälle klingen, ließ er frische Eiswürfel in sein Glas fallen und füllte es geräuschvoll bis zum Rand mit Mineralwasser auf.

Aufgeschreckt ergriff Channing das Wort. »Nun gut.« Der Professor setzte das Gespräch fort, als habe es überhaupt keine Pause gegeben.

»Sie haben die Sache überzeugend auf zwei Fragen reduziert, Eminenz. Und ich kann beide Fragen eindeutig bejahen. Wir können Paul Gladstone den EG-Posten garantieren. Und wir werden dies auch tun.« Selbstverständlich gab es da noch einige petails ... »Nichts Ernstes«, versicherte Channing seinen Bundesgenossen.

»Zum Beispiel?«, fragte Maestroianni, dem mit diesem Fremden in seiner Welt immer noch nicht wohl war.

»Zum Beispiel ein komplettes Dossier über beide Gladstone-Brüder.« Channing fing mit dem Nächstliegenden an.

Maestroianni musste darüber lächeln. »Noch etwas, Dr. Channing?«

»Jetzt, wo Sie fragen, gibt es da noch etwas, Eminenz.« Er hatte keinen Zweifel, dass der Kardinal der Erste wäre, der seine Anspielung auf die immensen Mittel der Bruderschaft verstehen würde; und dass er um einen zeitlichen Aufschub bat. Irgendein handfester Beleg für die Bereitschaft Seiner Eminenz zur Zusammenarbeit wäre sehr hilfreich.

Kardinal Maestroianni fuhr so abrupt aus seinem Stuhl hoch, dass Benthoek überlegte, ob Channings Ansinnen ihn beleidigt haben mochte. Er sah, wie Maestroianni zu seinem Schreibtisch ging, eine Schublade öffnete und an einem Gerät mit Schaltern zu hantieren schien. Wenig später war Channings Stimme aus einem Lautsprecher zu hören. Der Kardinal spulte das Band zurück, nahm die Kassette heraus und hielt sie zwischen zwei Fingern hoch. »Ich nehme an, dass Ihnen eine Aufnahme unseres Gesprächs genügen wird, oder?« Diese Frage bedurfte keiner Antwort. Maestroianni steckte die Kassette in einen unbeschrifteten Umschlag und hielt ihn in der Hand wie eine Möhre, mit der man einen Esel lockt.

»Ich habe noch einen letzten Vorschlag zu machen, bevor wir unser Gespräch beenden.« Der Kardinal machte keine Anstalten sich wieder zu seinen Besuchern zu setzen. »Ich habe Sie schon darauf hingewiesen, dass unser gegenwärtiger Papst sehr starrsinnig ist; starrsinnig und versessen darauf, das Papstamt zu verteidigen. Ich habe außerdem erwähnt, dass er ein gewisses Maß an Unterstützung genießt. Und in der Vergangenheit ist er verschlagen und auch entschlossen genug gewesen sogar Regierungen zu stürzen.«

Channing sah ihn finster an. »Haben Sie jetzt schon Bedenken, Eminenz?«

»Keinesfalls«, erwiderte Maestroianni sanft. »Ich habe kaum Zweifel, dass wir in naher Zukunft die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Bischöfe genießen werden. Allerdings haben wir es hier mit einem halsstarrigen Heiligen Vater zu tun und für alle Fälle sollten wir dafür sorgen, etwas mehr Druck ausüben zu können. Ein zusätzlicher geschickter Schachzug, damit der Rücktritt des Papstes endgültig und unwiderruflich auf den Weg gebracht wird.

Sie haben gesagt, Dr. Channing, dass wir hier als Mitglieder einer Bruderschaft zusammengekommen sind, die etwas Großartiges im Sinn hat. In dieser Stimmung möchte ich Ihnen einschärfen, dass wir in einer entscheidenden Situation, wie wir sie uns ausgemalt haben - in der heikelsten und empfindlichsten Phase unseres Unternehmens -, sehr wahrscheinlich zusätzliche Hilfe weiterer gleich gesinnter Gruppierungen benötigen werden, die zurzeit nicht näher beschrieben werden können und auf die wir hier nicht eingehen wollen.«

Channing war erleichtert. Wenn es um eine »entscheidende Situation« oder um einen »geschickten Schachzug« ging, sprach der Kardinalstaatssekretär mit dem richtigen Mann. »Wir werden Sie nicht enttäuschen, Eminenz.«

Maestroianni wandte sich seinem alten Mitstreiter zu. Auch Benthoek sollte ein wichtiger Teil des Unternehmens sein.

»Einverstanden, Cyrus?«

»Einverstanden, mein Freund.«

 

 

XV

Seit diesem seltsamen Samstagmorgen Anfang Mai, als die dringende Bitte des Heiligen Vaters um Fotografien von Berninis Noli me tangere ihn in persönlichen Kontakt mit Staatssekretär Kardinal Cosimo Maestroianni brachte, hatte sich - obwohl Pater Aldo Carnesecca ihn seit diesem Tag vom Gegenteil überzeugen wollte - Christian Gladstones Gefühl nur verstärkt, dass er in diesem Rom der Päpste fehl am Platz, ein Außenstehender war.

Seit den ersten heißen Sommertagen unternahmen Pater Aldo und Christian samstagnachmittags ausgedehnte Spaziergänge, meistens auf der Via Appia. Dort fanden die beiden Freunde zwischen Grabsteinen, Statuen und Olivenhainen Ruhe und Abgeschiedenheit. Gladstone hielt Carnesecca für einen ehrenwerten Mann, dem er alles anvertrauen konnte und dessen Deutung der Politik des gegenwärtigen Papstes ihn ständig zu Widersprüchen herausforderte.

Gladstone wollte wissen, warum der Papst sich nicht einfach der ganzen Schismatiker und unkeuschen Priester entledigte. Warum hatte er erst kürzlich einen offensichtlich ketzerischen Bischof zum Vorsitzenden einer der wichtigsten päpstlichen Kongregationen ernannt? Warum hatte er, statt die Ketzer zu verfolgen, ausgerechnet Erzbischof Lefebvre an den Pranger gestellt, wenn dieser doch nur die Kirche verteidigen wollte? Warum hatte sich dieser Papst so abfällig über Amerikas Operation Wüstensturm geäußert?

Carnesecca kam immer wieder auf die Schlüsselfrage zurück, um die sich die Politik des Heiligen Stuhles in den Neunzigerjahren drehte: Dem Papst waren durch die Bischöfe und die internen Beamten des Vatikans praktisch die Hände gebunden.

»Er steckt in einer Zwangsjacke, Chris. Er hat eigentlich nicht viel zu sagen.«

»Das kann ich so nicht akzeptieren, Aldo. Dieser Mann ist der Papst.«

Doch diese Spaziergänge und die Gespräche mit Carnesecca waren kaum dazu angetan, dass Christian seine Einstellung zu einer möglichen Karriere in Rom änderte. Tatsächlich konnte er während der hektischen Wochen im Mai und Juni seine Ungeduld Rom zu verlassen kaum verbergen. Wie jedes Jahr seit 1984, als er zum ersten Mal das zweite Semester des akademischen Jahres im Angelicum verbracht hatte, würde Gladstone Ende Juni wieder in die nordostfranzösische Stadt Colmar zurückkehren. Dort hatte er schon vor langer Zeit den großartigen Schatz des Unterlindenmuseums kennen gelernt - das unübertroffene Meisterwerk des Malers Mathias Grünewald aus dem sechzehnten Jahrhundert, den riesigen Isenheimer Altar mit seiner Darstellung der Leiden und des Todes Christi. Grünewald hatte fast zehn Jahre an diesem großartigen Werk gearbeitet. Da Christian gleichzeitig in Rom und in New Orleans lehrte, brauchte er genauso lang um seine von Grünewalds Meisterwerk inspirierte Dissertation zu beenden. Jedes Jahr genoss er die wenigen ungestörten Wochen, in denen er ganz in diese Arbeit eintauchen konnte - es war ein Werk der Liebe. In der dritten Augustwoche reiste er dann, ganz gleich wie beansprucht er sein mochte, nach Windswept House in Galveston ab, wo ihn ein Wiedersehen mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Tricia erwartete. Wenn er Glück hatte, schaffte es diesmal vielleicht auch sein Bruder Paul, mit seiner Frau Yusai und ihrem kleinen Sohn Declan die Heimat zu besuchen.

Alle akademischen Aktivitäten ruhten und die meisten Studenten hatten die verschiedenen Universitäten verlassen, als Pater Christian sich endlich zu seinem obligatorischen Gespräch zum Semesterende mit dem Superior des Angelicums, dem Generalmagister Damien Duncan Slattery, durchringen konnte.

»Ah, da sind Sie ja, mein Junge.« Trotz der späten Stunde öffnete Pater Damien die Tür seines Arbeitszimmers und lud Christian mit einer ausladenden Geste eines seiner riesigen Arme dazu ein, es sich in dem großen Stuhl neben dem Schreibtisch bequem zu machen. Pater Damien nahm auf seinem eigenen Stuhl Platz und sein weißer Haarschopf glänzte im Lampenlicht wie ein widerspenstiger Heiligenschein.

Trotz des lockeren Tons seiner Begrüßung hatte Gladstone bald das Gefühl, dass irgendetwas dem Generalmagister Sorgen bereitete. Der junge Amerikaner war nicht scharfsinnig genug um festzustellen, welches Problem er haben mochte, und es kam einem untergeordneten Priester auch nicht zu seinen Vorgesetzten auszufragen. Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass eine solche Initiative vom geistlichen Vorgesetzten ausgehen musste.

Etwa eine Viertelstunde lang hörte Slattery sich mit fast übertriebener Nüchternheit Gladstones Zusammenfassung des akademischen Jahres im Angelicum an. Hin und wieder unterbrach er Gladstone und erkundigte sich nach einigen viel versprechenden Priestern, die im nächsten Jahr weiterstudieren wollten. Er sprach mit Christian über die Priester, die die Erwartungen nicht erfüllt hatten. Da er im nächsten Semester, von September bis Januar, in New Orleans lehren wollte, lenkte der Amerikaner seine Aufmerksamkeit auf die Archive des Angelicums. »Sie sind auf dem neuesten Stand, Pater General. Das heißt, abgesehen von den internen Bestandslisten, die ich mir Anfang Mai vorgenommen habe. Da ist noch einiges zu erledigen.«

Der Dominikaner nahm Gladstones Papiere mit einer großen Hand entgegen und legte sie für einen Moment auf den Schreibtisch. »Wir werden versuchen die Dinge in Ordnung zu halten, während Sie weg sind, Padre.«

Da war es wieder; dieses Gefühl tief in seinem Inneren, dass Slattery etwas im Schilde führte.

»Sie fahren also nach Colmar, Pater Christian?« Die Frage lenkte die Unterhaltung auf die Arbeit über den Isenheimer Altar, die der junge Mann noch vor sich hatte. Christian wusste, dass er die bisher abgeschlossenen Teile seiner Doktorarbeit nicht zu referieren brauchte. Er wollte jedoch wissen, was der Generalmagister von einigen Aspekten seiner Argumentation hielt, und er wollte seinen Arbeitsplan für die nächsten Wochen in Colmar darlegen.

Wieder brachte Slattery Christian mit einigen präzisen Fragen behutsam auf den richtigen Weg. Das war Pater Damiens Art als Doktorvater. »Wenn Sie in Colmar fertig sind, werden Sie dann direkt in die Vereinigten Staaten fliegen, Pater Christian?«

»Ja, Pater General. Wenn ich bis Ende August nicht zu Hause bin, wird meine Mutter mir den Kopf abreißen.« Normalerweise hätte ein solcher Anflug von Humor Slattery zu einer entsprechenden Antwort ermuntert. Doch diesmal wich der dominikanische Rektor, statt auf Gladstones Bemerkung überhaupt einzugehen, in eine scheinbar völlig andere Richtung ab. »Sagen Sie, Padre. Haben Sie in Ihrer ganzen Zeit in Rom jemals persönlichen Kontakt mit dem Heiligen Vater gehabt?« Christians Verwirrung war so offenkundig wie seine Antwort kurz. »Nein, Pater General.« Und als er die unangenehme Absicht hinter der Frage verstanden hatte, fügte er ahnungsvoll hinzu: »Jedenfalls bis jetzt noch nicht ...«

Der Tonfall des jungen Amerikaners sagte Slattery genug. Gladstone würde alles tun, was sein priesterlicher Gehorsam von ihm verlangte. Aber ein Zusammentreffen mit Seiner Heiligkeit, geschweige denn eine engere Verbindung mit den besonderen päpstlichen Aufgaben des Heiligen Stuhls, war ihm zutiefst zuwider. Pater Damien zögerte einen Moment, bevor er eine Art Entscheidung zu treffen schien. »Nun, Pater.« Er stand auf. »Vielleicht unterhalten wir uns ein anderes Mal darüber.«

Christian stand ebenfalls auf, wie es das Protokoll verlangte, und verabschiedete sich. Er war schon durch die Tür, als Pater Damiens herzlicher Bariton ihm einen alten irischen Abschiedsgruß mit auf den Weg gab.

»Mögen die süßen Winde des Himmels Sie zu uns zurücktragen, Pater Christian.«

Damien Slattery fühlte sich mit seiner Unentschlossenheit, ob er Christian Gladstone über die Veränderungen unterrichten sollte, die ihn in nächster Zukunft wahrscheinlich erwarteten, nicht besonders wohl. Gleich nachdem die Affäre um die Bernini-Statue Kardinal Maestroianni auf Christian aufmerksam gemacht hatte, war im Staatssekretariat ein ungewöhnliches Interesse an dem Amerikaner erwacht. Es war nicht Maestroiannis Art, sich mit Leuten zu beschäftigen, für die er keine praktische Verwendung hatte. Welche Pläne Seine Eminenz auch im Sinn haben mochte: Damien rechnete fest damit, dass sie diesen unvorbereiteten und ahnungslosen Amerikaner geradewegs ins Zentrum des allgemeinen Aufruhrs werfen würden. Eher früher als später würde der Moment kommen, da man Gladstones Geist und Gedanken irgendwie auf die kommenden Ereignisse einstellen musste. War es daher falsch, dass Slattery heute Abend mit entsprechenden Vorbereitungen begonnen hatte?

 

Ganz gleich wie oft Gladstone das Unterlindenmuseum in Colmar, ein ehemaliges Kloster, betrat und die Bildtafeln des Isenheimer Altars betrachtete, jedes Mal überwältigten ihn dieselben Gefühle fassungslosen Staunens und demütiger Bewunderung. Als er das erste Mal vor den Altar getreten war, hatte er sich nicht mehr rühren können.

Ohne Vorwarnung hatten die heftigsten Gefühle sein Herz, seine Seele und seinen Verstand erfasst. Was Christian an diesem Tag sah, war eine so aufrüttelnde Darstellung der Leiden und des Todes Christi - so atemberaubend in ihrer Schönheit und so brutal in ihrem Realismus -, dass er einige Sekunden brauchte, bis er wieder Luft holen konnte.

Der geschnitzte und bemalte Altar bestand aus zwei festen Tafeln und vier beweglichen Flügeln. Grünewald hatte jede Szene der Ereignisse, von Gethsemane bis Golgatha, in Farben getaucht, die selbst Licht auszustrahlen schienen. Und dieses Licht schien das Schockierende zu verklären und das Schöne zu transzendieren. Es war, als sei der rétable von Isenheim kein bemaltes Stück Holz, sondern ein transparenter Schleier, durch den man die überwältigende Hässlichkeit und Verkommenheit des Bösen in der Welt mit dem Auge Gottes - in einer übernatürlichen Ekstase - betrachten konnte.

All dies nahm aus dem Licht heraus Gestalt an. Es wuchs aus dem Licht hervor, erfüllte Christians Seele mit Licht. Es gab keine Möglichkeit, die Vision zu fassen, so überwältigend war sie. Doch er hatte es versucht. An diesem Nachmittag musste er es versuchen. Nach und nach stellte er fest, dass er selbst vom Licht durchdrungen war - und von den Farben - und von der schieren Essenz des dargestellten Leids. Bis schließlich selbst das Leid im Gesicht des gekreuzigten Christus sich wandelte. Christian Gladstone hatte sein Wunder gefunden.

In diesem Juni war Gladstone nach einer gut durchschlafenen Nacht sehr früh bei der Arbeit und hatte Fotografien von Grünewalds Meisterwerk bei sich. Zunächst wollte er die Fotografien mit dem Original auf ihre Genauigkeit hin vergleichen; diese Fotografien sollten in Gladstones Doktorarbeit aufgenommen werden. Doch plötzlich tauchte ein neuer Gedanke an seinem geistigen Horizont auf wie ein ungebetener Gast, der nicht weiß, ob er willkommen ist. Plötzlich eröffneten sich ihm ganz neue Perspektiven.

Es war wieder Anfang Mai, und er stand neben Pater Aldo Carnesecca in der Kellerkapelle des dominikanischen Haupthauses. Er arbeitete wieder mit dem Fotografen des Vatikans, um möglichst gute Bilder von Berninis Noli me tangere zu erhalten. Er faxte dem Heiligen Vater die gelungensten Bilder nach Sainte-Baume durch. »Natürlich!«, flüsterte Gladstone hörbar, als er sich an den Ausdruck erinnerte, den Bernini im Gesicht der Magdelena eingefangen hatte.

Natürlich. Es musste so sein. Der Heilige Vater hatte ebenfalls einer Inspiration bedurft. Vielleicht sogar eines Wunders. Vielleicht eines ähnlichen Wunders, wie es Christian vor Jahren so unerwartet in den Klostergewölben des Unterlindenmuseums entdeckt hatte. Nur gab es da einen bedeutenden Unterschied. Christian hatte unwissentlich nach einem Wunder gesucht. Aber wenn sein unwillkommener Gedanke zutraf, musste der slawische Papst gewusst haben, dass er nach einem Wunder suchte.

Seine plötzliche Einsicht kam für Christian einer Demütigung gleich. Wie arrogant kam er sich jetzt selbst vor, als er an die kompromisslos strengen Urteile dachte, die er in Carneseccas Gegenwart über die Politik des Heiligen Stuhles und darüber gefällt hatte, wie der Papst sich scheinbar den üblen Machenschaften in der Kirche fügte. Vielleicht hatte Carnesecca doch Recht. Vielleicht konnte man in den ganzen Vorgängen viel mehr erkennen, als Gladstone bislang zugeben wollte. Chris fiel ein, wie oft sein Bruder Paul bemerkt hatte, Arroganz sei ein Charakterzug der Gladstones. Paul hatte wohl Recht. In einer Familie, deren Motto »Kein Pardon!« lautete, durfte man Arroganz durchaus erwarten. Erst recht, wenn es um die Söhne von Cessi Gladstone ging. Dennoch war kein Gladstone je so arrogant gewesen, dass er zu schroffer Ungerechtigkeit neigte. Er war aber noch nicht so weit, dass er zugeben konnte falsch geurteilt zu haben. Doch zumindest konnte er zugeben, dass er sich vom Papst vielleicht ein zu einseitiges Bild gemacht hatte. Und ein zu voreiliges.

 

 

XVI

Es gab keinen Zweifel, dass Paul Gladstone bis Ende des Sommers den Posten des Generalsekretärs im EG-Ministerrat besetzen würde. Maestroianni widmete seine unmittelbare Aufmerksamkeit und die seiner wichtigsten Bundesgenossen der heiklen Aufgabe, die römische Seite der Gladstone-Gleichung zu lösen.

Die Nachforschungen des Kardinalstaatssekretärs über Reverend Christian Gladstone bestätigten, was er von Anfang an vermutet hatte: Er war ein politischer Einfaltspinsel und ein Niemand im Gefüge der Macht. Dennoch mussten wenigstens pro forma alle rechtlichen Vorschriften beachtet werden, auch wenn man nur einem Zwerg wie Gladstone zu einer Karriere in Rom verhelfen wollte. Selbst das kanonische Recht spielte bei Pater Gladstones Versetzung nach Rom eine Rolle. Es schrieb vor, dass eine dauerhafte Versetzung eines Priesters aus seiner Heimatdiözese vollständig vom Einverständnis seines Bischofs abhängig war.

In diesem Fall war der zuständige Bischof der ehrwürdige Kardinal John Jay O'Cleary, Erzbischof von New Orleans. Unter den Prälaten des Vatikans, die ihn am besten kannten, galt O'Cleary als ein Mann, dem beträchtliche Geldmittel zur Verfügung standen; daher würde er für den Verzicht auf einen so guten Mann wie Gladstone sicher keinen finanziellen Ausgleich erwarten. In O'Clearys Fall, schien es, waren Ehrgeiz und Status eher das Problem als Geld.

Es hatte den Anschein, als sei der Kardinal von New Orleans auf eine diplomatische Karriere in Rom aus. Von seiner fachlichen Unfähigkeit abgesehen gab es noch andere Aspekte, die Kardinal O'Cleary für das vatikanische Staatssekretariat unannehmbar erscheinen ließen, etwa seine Orthodoxie in Fragen der Lehre und seine Unterstützung für den gegenwärtigen Papst. Wenn der amerikanische Kardinal also forderte für die Freigabe Pater Gladstones ebenfalls nach Rom geholt zu werden, war dieser Preis sicher zu hoch. Die Forderungen mussten sich im Rahmen halten.

Angesichts der grundlegenden Fragen dieses Problems war es unvermeidlich, dass Kardinal Maestroianni sich für eine Lösung an Seine frisch gebackene Eminenz Kardinal Silvio Aureatini wandte. Vom Temperament und von der Erfahrung her - und aufgrund des glücklichen Umstands, dass er und Kardinal O'Cleary gewöhnlich den Sommerurlaub gemeinsam in der norditalienischen Stadt Stresa verbrachten - schien kein Mann besser als Aureatini geeignet O'Cleary den Gefallen, den er dem Heiligen Stuhl mit einer Freigabe Christian Gladstones erweisen würde, schmackhaft zu machen.

 

Cosimo Maestroiannis nächtlicher Anruf bei Seiner Eminenz Kardinal Aureatini über eine geheime Sitzung der Kardinäle, welche am frühen Morgen in Aureatinis Privatwohnung stattfinden sollte, erreichte Seine Eminenz in einem ungünstigen Moment. Er hatte sich darauf gefreut, am nächsten Morgen in das Land der Blumen und des sanften Regens abreisen zu können, wo er aufgewachsen war. Normalerweise wären die Namen, die der Kardinalstaatssekretär am Telefon aufzählte, für Aureatini von unwiderstehlicher Anziehungskraft gewesen. Unter allen anderen Umständen hätte er keine Zeit verloren sich mit solch hochrangigen Kardinälen wie Pensabene und Moradian, Karmel und Boff, Aviola, Sturz und Leonardine zu treffen. Aber ausgerechnet jetzt, und sollte der Grund noch so wichtig sein, behagte ihm die Vorstellung überhaupt nicht Maestroianni und seine ehrwürdigen Brüder empfangen zu müssen.

Die Männer, die Kardinal Aureatini an diesem Morgen mit einiger Nervosität erwartete, gehörten zum festen Bestand jener alten Tradition, in deren Mittelpunkt das Rom der Päpste stand. In Aureatinis Augen war diese Tradition eine Tradition der Macht. Aber schließlich war der enge Vertraute Maestroiannis, Aureatini selbst, von Anfang an kein Mann von Bescheidenheit gewesen. Er hatte überall seine Finger im Spiel. Er war dafür bekannt, dass er mit Bundesgenossen großzügig und mit Feinden • gnadenlos verfuhr. Er hatte keine richtigen Freunde, und das war ihm ganz recht so. Sein Gedächtnis war ein Archiv, aus dem er Fakten, Personen, Namen und Daten mit geradezu unheimlicher Präzision abrufen konnte. Er merkte sich jedes Gesicht und jede Stimme. Er galt als gefährlich - eine in seiner Welt beneidenswerte Qualität.

 

»Schalom diesem heiligen Haus, mein ehrwürdiger Bruder!« Der Franzose Joseph Karmel, Kardinal von Lille, begrüßte Silvio Aureatini mit dröhnender Stimme. Dann stürmte er auf seinen Spazierstock gestützt ins Wohnzimmer und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in den nächstbesten Sessel fallen. Ihm folgte mit einer Aktentasche in der Hand Cosimo Maestroianni, der dem Segen Karmels eine wesentlich prosaischere Wendung gab. »Gott segne den Erfinder der Klimaanlage!« Vier weitere Kardinäle marschierten herein ohne einen Blick auf das jüngst signierte Papstporträt zu werfen, welches jetzt Aureatinis Eingangshalle zierte.

Während es sich seine Gäste bequem machten, hielt es Aureatini für das Beste, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Er wusste, dass diese sechs Männer in der Welt der Mächtigen, in die es auch ihn zog, schon viel weiter gekommen waren. Erst nach einiger Zeit und als wolle er sich selbst daran erinnern, dass dieser Grünschnabel von Kardinal ja in seinen eigenen vier Wänden zugegen war, wandte Maestroianni sich schließlich Aureatini zu.

»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie auf dem Sprung nach Stresa, ehrwürdiger Bruder?«

»In weniger als einer Stunde, hoffe ich, Eminenz.« Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als er merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Keine Sorge.« Maestroianni wurde höflich kühl. »Wir werden hier schnell fertig sein und dann steht der Abreise Eurer Eminenz nichts mehr im Weg.« Dann ging er, indem er sich an alle wandte, zur Tagesordnung über. Von den nackten Fakten her waren alle Anwesenden schon seit längerem an der Kampagne zur Beendigung des gegenwärtigen Papsttums beteiligt. Alle wussten von den Beschlüssen, die im vergangenen Monat auf der Sitzung in Straßburg verabschiedet worden waren. Und Maestroianni hatte sich beeilt seine engsten Kollegen knapp über die entscheidende Unterstützung zu unterrichten,: die Dr. Channing ihm vor wenigen Tagen zugesichert hatte.

Maestroianni hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller, als er ruhig einen Punkt nach dem anderen abhandelte. Um Zeit zu sparen und um alle Beteiligten vollständig zu informieren hatte er für jeden seiner Kollegen einen Ordner mit einem Positionspapier vorbereitet. Und er führte einen neuen Ausdruck ins Wörterbuch der Konspiration ein. »Auserwählter Weg« beschrieb den Plan, den sie dem Papst zugedacht hatten, so genau, dass Kardinal Maestroianni sich diesen Begriff sofort angeeignet hatte, als ihn Dr. Channing das erste Mal ausgesprochen hatte.

»Unser auserwählter Weg hängt von der Verpflichtung zweier Amerikaner ab, die als Pfeiler für unsere Brücke in die äußere Welt dienen sollen. Wie ich bereits jedem hier erklärt habe, wird Dr. Channing dafür sorgen, dass Cyrus Benthoeks fähiger junger Protege Paul Gladstone der europäische Pfeiler dieser Brücke wird. Sie finden sein Profil unter den Positionspapieren. Und auf unserer Seite wird unser Juniorpartner hier« - Maestroianni lenkte die Aufmerksamkeit auf Aureatini - »damit beauftragt, unseren Mann in die Position zu befördern, die gemäß des auserwählten Weges für ihn vorgesehen ist.«

Die Frage, die Aureatinis Seele in diesem Moment am meisten bewegte, war ein klagendes »Warum ausgerechnet ich«. Aber weil niemand in einem Kreis wie diesem es wagen würde, solche Worte in den Mund zu nehmen, und weil er noch nicht über diese jüngste Fortentwicklung unterrichtet worden war, stellte er eine ganz geschäftsmäßige Frage.

»Sémplice o no?« War »unser Mann« ein Naivling oder nicht? Statt zu antworten griff Maestroianni erneut in seinen Aktenkoffer und holte einen weiteren Stapel Ordner hervor, die er an seine Kollegen verteilte. »Gladstone, Christian Thomas.« Kardinal Pensabene las den Namen laut vor und verdaute dann die Informationen mit dem ihm eigenen Scharfsinn. »Einige Überraschungen«, nuschelte er in den Raum. »Aber sie kommen uns entgegen.«

Andere waren da schon skeptischer. Untereinander hatten sich die wichtigsten Kardinäle bereits darüber verständigt, dass Christian Gladstone selbst von seinem familiären Hindergrund abgesehen kein Problem darstellte. Doch dann kam Aureatinis besondere Rolle in dieser Initiative zur Sprache.

Maestroianni setzte seine Lesebrille auf und bat die Anwesenden das Positionspapier über Pater Gladstones Ordinarius, Seine Eminenz Kardinal O'Cleary von New Orleans, zur Hand zu nehmen. »Unser ehrwürdiger Bruder aus Amerika scheint die Vorzüge Ihres geliebten Lago Maggiore als Sommerresidenz sehr zu schätzen.«

»Ja, Eminenz.« Aureatini brauchte das Dossier nicht durchzusehen. »Er kommt seit drei Jahren nach Stresa und logiert von Ende Juli bis Mitte August im Hotel Excelsior.«

»Ich nehme an, dass Sie ihn kennen.«

»Ja, Eminenz. Er will immer die letzten Neuigkeiten hören ...«

»Kennen Sie ihn so gut, dass Sie ihn dazu überreden könnten, diesen jungen Pater Gladstone ganzjährig für Rom freizugeben?«

Aureatini behielt sein Pokerface bei. Einen kurzen Augenblick lang überdachte er kühl, dass der gesamte Plan für die neuen Brücken und den auserwählten Weg von seiner Antwort abhinge. Der Gedanke war so befriedigend, dass er beschloss etwas mit der offensichtlichen Anspannung zu spielen, die seine mächtigen Gäste plötzlich erfasst hatte. »Da wird es Probleme geben, Eminenz.«

Kardinal Maestroianni starrte in eisiger Ungläubigkeit über den Rand seiner Lesebrille. Es sah Silvio Aureatini nicht ähnlich, dass er binnen eines Jahrzehnts zwei Fehler beging, geschweige denn binnen einer Stunde. »Und die wären?«

Obwohl Maestroianni seine Frage kaum mehr als flüsterte, brachte der Warnschuss Aureatini sofort zur Besinnung.

»Schlicht gesagt«, erwiderte der untergeordnete Kardinal gedehnt, »ist Seine Eminenz O'Cleary derjenige, der nach Rom kommen möchte.«

»So?« Dieses eine Wort stellte klar, dass solcherart Einzelheiten dem Erfindungsreichtum Aureatinis überlassen blieben.

»Wie immer Sie es anstellen, verehrter Bruder Silvio, wir wollen nicht damit rechnen, dass Kardinal O'Cleary irgendwann bei uns vor der Tür steht. Außerdem bin ich sicher, dass Ihnen etwas einfallen wird um Seine Eminenz in New Orleans für seine Zusammenarbeit angemessen zu entlohnen und Pater Gladstones Bedürfnisse zu befriedigen. Jeder hier wird Ihnen den Rücken stärken. Ich selbst werde die Rolle des Sahnehäubchens auf dem Kuchen übernehmen, falls es einen Kuchen gibt. Verstanden?«

»Verstanden, Euer Eminenz.«

Nachdem er Aureatini den Kopf zurechtgerückt hatte, löste Seine Eminenz Maestroianni die Anspannung. Er erhob sich von seinem Stuhl und klopfte sich zufrieden auf die Brust. »Das war sehr anregend, verehrte Brüder! Doch jetzt sollten wir Bruder Silvio mit seinen Vorbereitungen allein lassen, nicht wahr? Er kann's kaum erwarten, in sein geliebtes Stresa aufzubrechen.«

Aureatini schüttelte seinen Kopf, aber diesmal blieb er wohlweislich still. Er hatte heute Morgen mehr als einen Fehler begangen. Und es würde lange dauern, bis ihm der nächste unterlief.

 

 

XVII

Die warmen Strahlen der Nachmittagssonne fielen auf die Terrasse des exklusiven Hotels Excelsior in Stresa und Kardinal O'Cleary schloss die Augen, ließ den Kopf gegen die Stuhllehne zurücksinken und glitt in die angenehme Grauzone zwischen Schlafen und Wachen. Er war kurz davor, ganz einzuschlafen, als plötzlich ein Schatten das rötliche Glühen hinter seinen Augenlidern verdunkelte und die kühle Brise vom Lago Maggiore her auffrischte. O'Cleary fröstelte ein wenig und schlug die Augen auf.

»Habe ich Euer Eminenz gestört?«

Der amerikanische Kardinal schielte empor und hatte das Gefühl den salopp gekleideten Mann, der über ihm stand, kennen zu müssen. Die eisblauen Augen und die scharf geschnittenen Gesichtszüge weckten Erinnerungen, aber er konnte sie nicht ganz konkretisieren.

Diskret wie er war - und dank seines alles bestimmenden Gefühls eine wichtige Aufgabe zu erfüllen -, ließ sich Aureatini die Verärgerung nicht sofort erkannt worden zu sein nicht weiter anmerken. Stattdessen stellte er sich, und zwar überaus freundlich, ein zweites Mal namentlich und mit seinem Rang als Kardinal vor und er vergaß nicht, seine enge Beziehung zu Seiner Eminenz Kardinal Maestroianni im vatikanischen Staatssekretariat zu erwähnen. Und als er auf dem Gesicht seines Gegenübers ein leises Wiedererkennen entdecken konnte, zog Aureatini einen Stuhl heran und machte es sich an O'Clearys Seite bequem. Er frischte das Gedächtnis seines Kollegen weiter auf, indem er ihn an ihre zwei oder drei Begegnungen in den vergangenen Sommern erinnerte, wobei er sich unaufhörlich darüber beklagte, dass er den amerikanischen Prälaten nur so selten zu Gesicht bekäme. Obwohl sie sich nur flüchtig unterhalten hatten, gestand Aureatini, die Anmerkungen Seiner Eminenz seien so interessant und sein selbstloses Interesse an Rom so erfrischend gewesen, dass ihm jede dieser Unterhaltungen besonderes Vergnügen bereitet hatte.

O'Cleary bestellte zwei Drinks - einen Jack Daniel's für sich und einen Campari für den Italiener - und bemühte sich nach Kräften herauszufinden, welche Bemerkungen vergangener Jahre bei einem Kollegen des großen Kardinals Maestroianni solchen Eindruck hinterlassen haben mochten. Zu seiner Erleichterung stellte er jedoch fest, dass Aureatini nur ein zwangloses Gespräch führen wollte.

Für Aureatini war dieser Ort ein sicherer sommerlicher Hafen. Hier konnte er für eine kleine Weile das Leben, das er in Rom führte - und den Menschen, der er dort geworden war -, vergessen. Doch leider schien in diesem Sommer alles anders zu laufen. Eine offizielle und zynische Pflichtübung, die Seine Eminenz John Jay O'Cleary aus New Orleans - Jay Jay, wie man ihn zu Hause nannte - betraf, zwang ihn die Spannungen aus dem Vatikan in seinen sonst so sicheren Hafen mitzubringen. Doch selbst nachdem alles gesagt und getan war, fühlte sich Aureatini ob seiner Aufdringlichkeit unwohl.

 

Wo immer sie während Jay Jays dreiwöchigem Urlaub unterwegs waren, konnte es Aureatini nicht lassen, immer wieder eine pointierte Bemerkung über seine Arbeit, seine Beziehungen zu den höchsten Rängen der Kirchenhierarchie oder zu aktuellen Krisen anzubringen, die die Kirche in Mitleidenschaft zogen. Und bei jeder derartigen Bemerkung fuhr O'Cleary aufs Neue die Antennen seines persönlichen Ehrgeizes aus. Doch jedes Mal wechselte Aureatini das Thema so plötzlich, wie er es angesprochen hatte.

Bis zum zweiten Augustsonntag, dem Vorabend seiner Abreise nach Amerika, wurde die Spannung beinahe unerträglich. John O'Cleary war von Natur aus nicht besonders wortgewandt. Er tat am besten daran, immer unverhohlen auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Und das tat er denn bei einem letzten gemeinsamen Essen auf der Hotelterrasse auch.

»Ich habe über alles nachgedacht, was Sie mir gesagt haben, Eminenz, seit ich Ihr Vertrauen gewinnen konnte. Sie hatten völlig Recht, als Sie sagten, wir sollten alle bereit sein für den Heiligen Stuhl in seiner jetzigen eingeschränkten Verfassung Opfer zu erbringen. Ich habe großes Mitleid mit dem Heiligen Vater. Er hat wirklich einen schmutzigen Job!«

Obwohl O'Cleary einige Jahre älter war, nickte Aureatini voll väterlicher Zustimmung.

»Ich denke« - O'Cleary lächelte bescheiden - »es gibt nicht viel, was ein armer Provinzkardinal wie ich über seine gewöhnlichen Pflichten hinaus tun kann. Trotzdem, äh ... ich will sagen, ich hoffe, Seine Eminenz weiß, das ich persönlich dem Heiligen Stuhl uneingeschränkt zur Verfügung stehe.«

Aureatini gestattete sich ein anerkennendes Lächeln. Er wollte nicht unbescheiden sein, aber jetzt wusste er, dass er den Amerikaner am Haken hatte. »Was wir im Vatikan brauchen, Eminenz, sind Arbeitskräfte. Einfache Leute.«

Nach einer Pause fuhr Aureatini fort: »Es gibt vielleicht etwas, das Euer Eminenz für uns arme Schreiberlinge in Rom tun könnte. Was ich Euer Eminenz jetzt sage, ist höchst vertraulich. Viele Regierungen in Europa sind davon betroffen - und folglich natürlich auch Ihre Regierung in den Vereinigten Staaten.« Aureatini senkte die Stimme, sodass O'Cleary sich vorbeugen musste um ihn überhaupt verstehen zu können. »Ich habe von Seiner Eminenz Maestroianni erfahren ... «

Die Erwähnung dieses Namens hatte genau die Wirkung, die Aureatini erhofft hatte. »Kardinal Maestroianni ist hier?«

O'Cleary war ganz ergriffen.

Der Italiener legte einen Finger auf die Lippen um nochmals den vertraulichen Charakter dieser Unterhaltung zu betonen.

Eigentlich war es nicht nötig gewesen, Maestroiannis Sommerurlaub durch einen Anruf zu stören, denn Seine Eminenz war nach Stresa gekommen. Dennoch wäre es nicht verkehrt, sich O'Clearys Kooperation durch eine kleine Rückversicherung zu vergewissern. Schließlich hatte Maestroianni gesagt, dass diese Mission seine volle Rückendeckung genieße. Und Aureatini hatte eine gewisse Befriedigung empfunden, als er für den alten Kardinal ein Zimmer in einer etwas zweifelhaften Pension auf der Isola dei Pescatori buchte.

»Ja, allerdings«, flüsterte Aureatini. »Seine Eminenz ist gestern erst angekommen. Und zwar um eben diese Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Er reist selbstverständlich inkognito. Er wohnt auf der Isola dei Pescatori. Dieser Mann hat eine Vorliebe für einfache Umgebungen. Er läuft gern in Hemd und Jeans herum und trinkt in den Cafes Wein mit gewöhnlichen Leuten, die er in Rom niemals kennen lernen würde.«

O'Cleary war gerührt. »Also das, Eminenz, zeugt von wahrer Größe!«

»Wahre Größe, in der Tat, Eminenz. Was den Kardinal so eilig hergeführt hat, ist unser dringender Bedarf an einem Mann mittleren Rangs. Und Euer Eminenz ist der Einzige, der uns helfen kann diesen Mann für uns zu gewinnen.«

O'Cleary war hin- und hergerissen zwischen seinem Bestreben, sich als nützlich zu erweisen, und seiner heftigen Enttäuschung, dass offenbar nicht er selbst im Mittelpunkt eines so intensiven Interesses des Vatikans stand. Daher konnte er nicht anders, als Aureatinis weiteren Ausführungen zuzuhören.

»Der Name des Mannes, den Seine Eminenz im Sinn hat, ist Pater Christian Thomas Gladstone. Erinnert sich Euer Eminenz an ihn?«

Kardinal O'Cleary hatte seine widersprüchlichen Gefühle einigermaßen unter Kontrolle gebracht, als er energisch nickte.

»Selbstverständlich, Eminenz. Ein hervorragender junger Priester. Ich kenne seine Familie schon sehr lange. Aber Pater Gladstone verbringt bereits die Hälfte des Jahres in Rom.«

»Ja, ja. Das wissen wir, Eminenz. Aber der Kardinal hat mir zu verstehen gegeben, dass wir Ihren jungen Mann ganzjährig brauchen. Und zwar ab kommenden September.«

Als sich O'Clearys Blick für einen Moment verfinsterte, so als käme ihm gerade ein zwingender Gedanke, schüttelte Aureatini verständnisvoll den Kopf. »Ich weiß ja, es ist unmöglich. Und ziemlich ungerecht. Rom sollte die Diözesen nicht ihrer besten Leute ...«

»Nein, nein, Eminenz.« O'Cleary wirkte aufrichtig erschrocken. »Ich will damit nur Folgendes sagen, Eminenz: Wenn Rom Gladstone braucht, dann wird Rom Gladstone auch bekommen. Als sein direkter Vorgesetzter kann ich dafür garantieren.«

Jetzt war Aureatini derjenige, dem die Gefühle durchzugehen schienen: »D20 mio! Der Kardinal wird von Ihrer Opferbereitschaft begeistert sein! Ich bin sicher, dass er sich persönlich bei Ihnen bedanken wird. Ich habe für heute Abend ein Essen mit ihm arrangiert. Bei Mammaletto an der Via Ugo Ära. Der Kardinal mag Hummer. Aber Seine Eminenz wird sicher den ausgezeichneten Streifenbarrel vorziehen.«

O'Cleary traute seinen Ohren kaum. »Wollen Sie damit sagen ...?«

»Ich glaube, Eminenz, dass Kardinal Maestroianni sicherlich verärgert wäre, sollten Sie uns nicht Gesellschaft leisten können. Eine Absage kann ich nicht annehmen.«

Es wäre O'Cleary nie in den Sinn gekommen, einen Abend privater Gespräche mit dem berühmten Cosimo Maestroianni auszuschlagen. Doch als er für einen kurzen Moment die Augen schloss, nahm der schmerzliche Gedanke, der ihm eben durch den Kopf geschossen war, plötzlich Gestalt an. Das stolze Gesicht der tapferen Francesca Gladstone kam ihm in den Sinn, die ihn warnte ein übereiltes Versprechen zu machen. Es hätte eines Wunders bedurft um die unversöhnliche Abneigung dieser Matriarchin gegen Rom zu überwinden, vor allem wenn es um eine Vollzeitkarriere ihres Sohnes Christian in ebendiesem Rom ging.

»Soll ich Sie hier abholen?«, hakte Aureatini nach. »Sagen wir, gegen acht Uhr heute Abend?«

»Streifenbarrel, sagen Sie?« Kardinal O'Cleary schlug die Augen auf und es gelang ihm, wenigstens für den Moment das Gesicht und die Macht Francesca Gladstones aus seinem Kopf zu verbannen.

 

Wieder allein in seiner Suite im Excelsior war Jay Jay O'Cleary überrascht, wie schnell sämtliche Hochgefühle verflogen. Er hatte zwar nicht das Gefühl, dass Aureatini ihn in irgendeiner Weise benutzt hatte. Doch im tiefsten Winkel seines Herzens wusste er, dass diese Römer zu raffiniert für ihn waren.

Seine Eminenz ließ sich müde in den Armsessel fallen. Allmählich schien ihn das Leben zu überfordern. Es war schon eine Ironie sondergleichen, dass ausgerechnet Christian Gladstone, der kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen das klerikale Leben in Rom machte, dort aus ebenso unerfindlichen wie dringenden Gründen benötigt wurde, während O'Cleary selbst im kirchlichen Hinterhof von New Orleans ausharren musste.

O'Cleary machte sich keine Illusionen über Rom. Und doch hatte er es stets vorgezogen, Rom so zu sehen, wie es in seinen jungen Jahren war, als er erstmals die Kanzlei besucht hatte. Damals lief jjian bei einem Aufenthalt in Rom noch nicht Gefahr seinen Glauben zu verlieren oder die Überzeugung, dass nach wie vor Gottes und Christi Liebe vorherrschten. In O'Clearys Rom hatte es weder allgegenwärtigen Zynismus noch penetrante Herzlosigkeit gegeben. Zu seiner Zeit hatte noch die Solidarität der christlichen Liebe regiert.

O'Cleary zog es immer noch vor, seine Welt mit solchen Augen zu sehen. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass sich etwas verändert hatte. Er ging mit diesen Veränderungen nur anders um als die meisten seiner bischöflichen Kollegen. Noch heute, nach fast zehn Jahren als Kardinalerzbischof von New Orleans, war O'Cleary überzeugt, dass seine Botschaft einfach gehört und akzeptiert werden musste, solange sie sich nur auf Gerechtigkeit und Liebe und auf die Kraft seiner Autorität stützte.

Während seiner gesamten Amtszeit in New Orleans hatte O'Cleary sich oft genug mit dem Problem der Gladstones von Windswept House befassen müssen. Doch mit der ihm eigenen Weisheit hatte er begriffen, dass es besser sei, jeder Konfrontation mit ihnen aus dem Weg zu gehen. Daher beging er auch nie den Fehler seines Vorgängers, des mächtigen und extravaganten Kardinals Jean de Bourgogne, dem man einen Hang zum Größenwahnsinn nachsagte.

Bourgogne hatte in seiner Arroganz einen Brief an Francesca Gladstone, der Herrin auf Windswept House, geschrieben, in dem er fälschlich behauptete, dass »der Heilige Vater und das Vatikanische Konzil die alte römische Messe abgeschafft und allen römischen Katholiken verboten haben sich weiterhin damit zu befassen«.

Francesca hatte ihm daraufhin postwendend eine Antwort zukommen lassen, mit der er nie gerechnet hatte: »Als Herrin auf Windswept House«, schrieb sie, »werde ich diese Vergewaltigung der römischen Messe in meiner Kapelle nicht dulden. Ich beanspruche unser dauerhaftes Privileg gemäß Paragraph 77 des kanonischen Rechts, wonach wir Gladstones ein päpstlich verbrieftes Recht genießen, das von keiner kirchlichen Verordnung welcher Institutionen der Kirche auch immer außer Kraft gesetzt, eingeschränkt oder aufgehoben werden kann, sondern nur durch direkte und persönliche Weisung des Papstes. Darüber hinaus beabsichtige ich zivile oder kanonische Rechtsmittel einzulegen, falls es erforderlich sein sollte.«

Bourgogne unternahm daraufhin durch seinen Vertreter in Rom einen Versuch, das Privileg der Gladstones aufzuheben. Rom riet ihm aus guten Gründen davon Abstand zu nehmen. Seit 1982, als O'Cleary die Nachfolge Bourgognes als Kardinalerzbischof von New Orleans angetreten hatte, folgte er einer klügeren und sanfteren Strategie im Umgang mit den Gladstones. Sein natürliches Interesse bestand darin, die Herrin auf Windswept House von seinem Standpunkt zu überzeugen. Zu seiner Enttäuschung hatte jedoch Cessi Gladstone sich immer wieder entschlossen gezeigt »den besten und schlimmsten Anstrengungen von Kirchenleuten aus dem Weg zu gehen, die Kirche um ihre übernatürliche Bestimmung als der einzigen und wahren Kirche Christi zu bringen«.

Wie so oft hatte auch diesmal O'Clearys angeborenes Interesse seiner ebenso angeborenen Vorsicht Platz gemacht. Er hielt sich im Allgemeinen von Windswept House fern.

An diesem Sonntagnachmittag in Stresa, als er über die unangenehme Tatsache nachgrübelte, dass sein Verhältnis zu den Gladstones von Windswept House zugleich zum Schlüssel und zum Stolperstein seiner römischen Ambitionen geworden war, hatte John O'Cleary mehr und mehr das Gefühl, als irre er durch ein Labyrinth. Es stand völlig außer Zweifel, dass Francesca Gladstone ihren Einfluss auf ihren Sohn nutzen würde um ihm einen dauerhaften Wechsel nach Rom auszureden.

»Die Menschen gehen nach Rom und verlieren ihren Glauben«, hatte sie mehr als einmal gesagt. Schlimmer noch, weil Christian Gladstone seine eigenen Erfahrungen in Rom gemacht hatte, konnte man es ihm nicht zum Vorwurf machen, wenn er diese Auffassung teilte. Doch wenn es O'Cleary nicht gelang, Christian Kardinal Maestroiannis Obhut zu übergeben, dürfte er wohl alle Hoffnungen auf eine Karriere am Tiber begraben.

O'Clearys Ehrgeiz überwog schließlich seine Abneigungen gegen die Gladstones. Damit stand er nun vor einem neuen Problem: Er musste Christian Gladstone ausfindig machen und seine Zustimmung für eine dauerhafte Versetzung nach Rom erhalten. Er warf einen Blick auf die Uhr: schon vier Uhr nachmittags; in New Orleans demnach neun Uhr morgens. Er beschloss mithilfe des wunderlichen Telefonnetzes von Stresa den Generalvikar seiner Diözese in New Orleans, Monsignore Pat Sheehan, zu verständigen. Nachdem er eine Stunde lang gewartet und dabei mehrere Damen vom Amt mit einem Mischmasch aus Englisch und Italienisch angefleht und ihnen gut zugeredet hatte, brach Seine Eminenz beinahe in Freudentränen aus, als er am anderen Ende der Leitung die ruhige und »heimelige« Stimme Pat Sheehans hörte.

»Pat?«, schrie O'Cleary über ein plötzliches Knistern in Stresas korrodierten Leitungen hinweg.

»Ja, wer spricht da?«

»Ich bin's, Pat. Jay Jay.«

»Im Namen aller Heiligen, Mann, wo sind Sie? Hört sich an, als sprächen Sie durch eine Blechbüchse mit Schnur.«

O'Cleary lachte so unvermittelt freudig auf, dass er sich fragte, ob Aureatini nicht vielleicht doch Recht hatte. Vielleicht vermisste er New Orleans wirklich. »Ich bin noch in Stresa. Hier gibt es zahllose Paläste und einige ausgezeichnete Angelplätze. Aber ich glaube nicht, dass man hier schon einmal etwas von Glasfasertechnik gehört hat.«

Einer der vielen Vorzüge Pat Sheehans als Generalvikar bestand darin, dass er über eine rasche Auffassungsgabe verfügte. Der Monsignor war im Handumdrehen im Bilde. Jay Jay befand sich in einer Zwickmühle. Und wie nicht anders zu erwarten wusste Sheehan ganz genau, wo Pater Gladstone zu finden war. »Er befindet sich bei den Dominikanern in Colmar, Jay Jay, arbeitet dort an seiner Dissertation. Dem Zeitplan nach, den er telefonisch durchgegeben hat, wird er innerhalb der nächsten Tage die Rückreise nach Galveston antreten.«

O'Cleary stöhnte. Für Pater Christian bedeutete eine Heimkehr nach Galveston zugleich eine Heimkehr nach Windswept House. Und das wiederum bedeutete, dass er aufs Neue unter den Einfluss jenes traditionellen Geistes geriete, der dort noch immer herrschte. O'Cleary spielte mit dem mittlerweile verführerischen Gedanken die ganze Sache um Gladstones Versetzung nach Rom bis zum September zu vertagen - bis Gladstone seinen Urlaub bei der Familie beendet hatte. Dann musste er sich ohnehin in New Orleans melden, weil er dort semesterweise im Priesterseminar unterrichtete. Vielleicht blieb dann noch genug Zeit ihn über die bevorstehende Wende in seiner Karriere zu unterrichten.

Sheehan lehnte diese Idee entschlossen, aber leidenschaftslos ab. »Wenn es um irgendeinen anderen Kleriker in der Diözese ginge, wäre es gleichgültig, wie Sie die Sache angehen. Aber die Gladstones sind nicht ohne Einfluss.«

»Erzählen Sie mir etwas Neues«, murmelte O'Cleary.

»Wenn Sie mich fragen, Jay Jay, könnten Sie nichts Schlimmeres tun als Pater Christian erst dann mit diesem Ansinnen zu überfallen, wenn weder Ihnen noch ihm viel Zeit bleibt, bis er in Rom erscheinen soll. Wenn Sie warten und er sich als widerspenstig erweisen sollte, hätten Sie keinen Spielraum mehr. Und außerdem, Jay Jay« - Sheehan versuchte aufmunternd zu klingen - »glaube ich, dass Sie den Jungen verraten und verkaufen. Er wird Zeit brauchen um Ihren Vorschlag zu überdenken. Das sollten Sie berücksichtigen. Und er wird die Sache, wann immer er von Ihrem Vorschlag erfährt, in jedem Fall mit seiner Mutter besprechen. Aber Gladstone ist genauso eigensinnig wie seine Mutter. Er wird eine eigene Entscheidung fällen.« Ein Blick auf die Uhr und O'Cleary hatte sich entschieden. Es blieb ihm gerade noch genug Zeit um sich frisch zu machen, bevor Aureatini ihn zu ihrem Abendessen mit Kardinal Maestroianni abholen würde.

»Hören Sie, Pat. Haben Sie Gladstones Nummer in Colmar?« »Einen Moment.« Eine kurze Pause trat ein, während Sheehan einige Papiere durchblätterte. »Ja, hier ist sie. 32-84 ...«

»Nein, Pat.« Jay Jay beschloss die Sache abzukürzen.

»Die Ehre überlasse ich Ihnen. Fragen Sie den jungen Gladstone, ob er einige Minuten seines Urlaubs auf der Heimreise nach Galveston für seinen armen Erzbischof erübrigen kann. Ich werde morgen aus Stresa nach New Orleans abreisen. Notieren Sie nach Ihrem Gutdünken einen Termin für ihn.«

 

 

XVIII

Kurz vor sieben Uhr am Montagabend - dem Zeitpunkt, den er mit Monsignore Pat Sheehan verabredet hatte, als der Generalvikar ihn unerwartet in Colmar anrief - stieg Christian Gladstone aus einem Taxi, huschte durch den herniederprasselnden Augustschauer und klingelte an der Pforte von Kardinal Jay Jay O'Clearys Residenz in New Orleans.

Die modisch gekleidete und merkwürdig frisierte Schwester Claudia Tuite öffnete Christian die Tür und bat ihn einzutreten. Mit der ihr eigenen Herablassung, die sie jedem Kirchenmann unterhalb des Ranges eines Kardinals entgegenbrachte, nahm sie Gladstones Begrüßung mit einem knappen Nicken zur Kenntnis, nahm ihm mit spitzen Fingern den Regenmantel ab, als wolle sie ihn möglichst schnell in eine antiseptische Lösung stecken, und eilte lautlos davon um Seiner Eminenz die Ankunft Gladstones mitzuteilen.

»Pater Christian! Seien Sie willkommen!«, platzte Kardinalerzbischof O'Cleary wenig später in sein Arbeitszimmer.

»Euer Eminenz.«

Zu O'Clearys Überraschung beugte der schlaksige junge Priester das Knie und küsste den Bischofsring an seiner Hand. Diese Gladstones!

»Kommen Sie, Pater, nehmen Sie Platz.«

Seine Eminenz deutete auf einen abgewetzten Stuhl und setzte sich selbst in einen hohen Lehnsessel, der ihm das Gefühl gab auf sein Gegenüber herabblicken zu können. »Nun, Pater, erzählen Sie, wie geht es dieser bemerkenswerten Dame, Ihrer geliebten Mutter?«

»Mutter geht es gut, Eminenz.« Weil er für den unbequemen Stuhl zu groß war, sortierte Gladstone notdürftig seine Beine. »Sie schlachtet gerade das fetteste Kalb um meine Heimkehr zu feiern.«

Wenn Jay Jay Cessi Gladstone auch nur annähernd richtig einschätzte, bereitete sie gerade ein Festmahl ä la Belsazar vor. »Ich hoffe, dass dieser unerwartete kleine Abstecher nach New Orleans Ihre Pläne nicht durcheinander gebracht hat, mein Junge.«

»Ich bin sicher, dass sie Verständnis dafür hat, Eminenz. So wie immer.« Christian rückte seine Beine zurecht und bereitete sich auf ein weiteres Ritual des Kardinals vor. Bei O'Cleary deutete Smalltalk immer darauf hin, dass Seine Eminenz zu einem Gespräch ansetzte, das Gladstone an eine jener Seemöwen erinnerte, wie er sie oft durch die meerwärts gerichteten Fenster von Windswept House beobachtet hatte. Der Kardinal würde eine ganze Weile in der Luft hin und her flattern, bis plötzlich all das Segeln und Gleiten mit einem Sturzflug auf das anvisierte Ziel ein Ende nahm.

»Pater Christian.« Seine Eminenz setzte sein großherziges Lächeln auf, das in den Medien von New Orleans zu einem Markenzeichen geworden war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lieb und teuer mir Ihre Familie geworden ist. Wie lieb und teuer die Gladstones über ein Jahrhundert dem Heiligen Stuhl und dem Heiligen Vater gewesen sind; und wie viel sie für die Erhaltung der Kirche Gottes getan haben.«

»Seine Eminenz sind zu gütig.«

»New Orleans dürfte Ihnen mittlerweile sehr provinziell vorkommen, nach all der Zeit, die Sie in Rom verbracht haben.«

Christian fand diese Bemerkung höchst merkwürdig, bis ihm einfiel, dass O'Cleary bekanntermaßen schon immer ein Auge auf Rom geworfen hatte. »In mancher Hinsicht«, antwortete Gladstone, »unterscheiden sich die beiden Städte gar nicht so sehr voneinander, Euer Eminenz. New Orleans ist so sündig und so heilig, so sauber und so schmutzig, so glücklich und zugleich so furchtbar traurig. Wie im Falle Roms kann man nur noch erahnen, wie wunderschön New Orleans in seiner großartigen katholischen Blütezeit einmal gewesen sein muss.«

Das Lächeln, mit dem Jay Jay anfangs zuhörte, wich einer gewissen Verwirrung. Er fühlte sich wie ein gutmütiger Professor, den sein begabtester Schüler gerade schwer enttäuscht hatte. »Betrachten Sie Rom nach so langer Zeit immer noch mit denselben Augen?« O'Clearys Frage klang so herzlich und zugleich so herablassend, dass Gladstone plötzlich begriff: Er war zu diesem Gespräch eingeladen worden um über Rom zu sprechen. Der Gedanke kam ihm so unglaubhaft vor, dass er gerade deswegen der Wahrheit entsprechen musste. Voller Unbehagen und Widerwillen konnte er die Frage nur mit Schweigen beantworten.

Der Ton des Kardinals klang nun fast tadelnd, als er fortfuhr. »Wie Sie wissen, bin ich gerade von einer ausgedehnten Europareise zurückgekehrt. Wir Kirchenfürsten müssen im Hinblick auf die weltweiten Probleme ständig miteinander in Kontakt bleiben, wie Sie sich vorstellen können. Ich hatte zunächst eine Audienz beim Heiligen Vater. Sehr tröstlich, Pater Christian. Welch einen Mann hat Christus der Kirche in ihrer Stunde der Not geschenkt! Und während meines Aufenthalts in der Ewigen Stadt hatte ich ein langes Gespräch mit dem Rektor des Angelicums. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie hoch Generalmagister Slattery Ihre Dienste schätzt, die Sie dort während ihres alljährlichen Semesters leisten.«

O'Cleary betrachtete Gladstone mit einem Ausdruck liebevoller Zufriedenheit. »Es überrascht Sie vielleicht nicht - vor allem, wenn man den Status Ihrer Familie in den Annalen des Heiligen Stuhles bedenkt -, dass Ihr Name drüben im Staatssekretariat hoch im Kurs steht. Wirklich sehr hoch! Raten Sie mal, worum ich gebeten worden bin, Pater Christian!«

Gladstone schaute Seine Eminenz unverwandt an, sagte aber immer noch nichts.

»Mein lieber Pater, man hat mich um das größte Opfer gebeten, das man einem Bischof abverlangen kann: Ich soll einen guten Mann aufgeben.« Da er nun zum Sturzflug auf sein Ziel ansetzte, nahm O'Clearys Miene einen tiefernsten Ausdruck an. »Ab September soll ich Sie für einen dauerhaften Aufenthalt in Rom freigeben. Sie sollen als vollwertiger Professor für Theologie im Angelicum und als Theologe im päpstlichen Haushalt tätig werden.«

Da sich nun seine schlimmsten Vermutungen bestätigt hatten, bedrängten Gladstone innerlich so viele Fragen, dass er sie kaum ordnen konnte. Soviel er wusste, hatte das Angelicum keinen ganzjährigen Bedarf an seinen Diensten. Und es gab bereits Hunderte von Theologen im »päpstlichen Haushalt« - ein bestenfalls salopper Ausdruck in diesem Zusammenhang -, sodass ein weiterer sicher nicht dringend gebraucht wurde. Dazu kam, dass trotz O'Clearys Versicherung, welch hohes Ansehen er im Sekretariat genieße, kein Würdenträger in Rom Christian auch nur eines Blickes gewürdigt hätte. Oh, natürlich hatte es jenes unbedeutende Zusammentreffen mit Kardinal Maestroianni gegeben. Andererseits galt wohl Generalmagister Slattery als Intimus des Papstes, doch es war unwahrscheinlich, dass er hinter dieser sonderbaren Sache steckte.

Wer in Rom konnte sonst nach ihm verlangen ? Und warum so dringend? Das Ganze ergab keinen Sinn. Gladstone war sich plötzlich einer Sache sicher: Jay Jay steckte in der Klemme; und aus welchen Gründen auch immer war Christian die einzige Hoffnung des Kardinals dieser Falle zu entkommen. Er klammerte sich so heftig an ihn, dass er sogar den Zorn von Christians Mutter riskierte um seine Haut zu retten. Ja, O'Cleary war so angespannt, so nervös wegen der ganzen Angelegenheit, dass der junge Priester vermutete, es sei nur O'Clearys Scheu vor der willensstarken Cessi Gladstone, die den Kardinal davon abhielt, ihn auf der Stelle nach Rom zu beordern.

»Euer Eminenz.« Es war Christian, der das Schweigen brach. Ein paar Fragen würden genügen um festzustellen, wie entschlossen O'Cleary tatsächlich war ihn nach Rom zu schicken; und um zu testen, wie schwierig es sich gestalten könnte, dieser Vorsetzung zu entgehen. »Euer Eminenz, erweisen Sie mir die Gnade eines kleinen Rats. Ich bin nur ein ganz kleiner Fisch im großen Teich. Ich unterrichte am Angelicum nur Nebenfächer. Ich spende den polnischen Nonnen an der Via Sistina die Sakramente. Ich verhelfe den irischen Nonnen von der Via di Sebastianello zu etwas Abgeschiedenheit. Ich kenne Rom eigentlich nicht; auch nicht den päpstlichen Haushalt. Ich spreche ein unverzeihlich schlechtes Italienisch. Ich bin Amerikaner. Welchen so wichtigen Posten könnte es für einen Kleriker mit solche Referenzen geben?«

Jay Jay nahm die pontifikalste Haltung ein, die ihm möglich war. »Trotz Ihrer lobenswerten Bescheidenheit, Pater Christian, bin ich der Meinung, dass Sie sich diese Sache ganz genau überlegen sollten. Auch auf die Gefahr hin, dass ich etwas Vertrauliches ausplaudere, sollten Sie, glaube ich, wissen, dass keine geringere Persönlichkeit in unserer Kirche auf Sie aufmerksam geworden ist als Seine Eminenz Cosimo Maestroianni persönlich.« Die Ungläubigkeit, mit der Gladstone diese Information aufnahm, schrieb O'Cleary der Ehrfurcht zu, die er selbst gegenüber dem großen Kardinal empfand. »Also gut, Pater. Legen wir die Karten auf den Tisch, ja? Sowohl im Sekretariat wie sonst wo in der Heiligen Stadt« - der weise Blick des Kardinals sollte im Zusammenhang mit Rom die Tatsache unterstreichen, dass mit den Worten »sonst wo« nur der Heilige Vater gemeint sein konnte - »sehe ich bedeutende Entwicklungen auf uns zukommen. Man stimmt darin überein, dass neue Initiativen anstehen. Und ich beobachte dieselbe Bewegung unter meinen Kardinalsbrüdern. Unter uns gesagt, dies könnte die größte Chance in Ihrer kirchlichen Karriere sein.«

Überzeugt davon, dass es um die Karriere des Kardinals ging und er selbst der Köder war, machte sich Christian dennoch einige Gedanken über Jay Jays Eindruck, es stünden neue Entwicklungen bevor. Aus Gladstones Sicht spielte sich die größte globale Krise derzeit innerhalb der katholischen Kirche ab. Nein. Christian kam zum Schluss, dass es das Beste für ihn sei, sein Studium zu beenden und in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, wo er noch etwas bewirken konnte. Zumindest konnte er hier den Gläubigen dienen, die verzweifelt guter Priester bedurften. Hier konnte er dem römischen Karrierismus den Rücken kehren.

»Daher sage ich noch einmal«, drängte der Kardinal, »dass Sie sich diese Sache sehr gut überlegen sollten. Die Zeit spielt für Ihre Entscheidung natürlich ebenfalls eine Rolle. Aber« - Jay Jay lächelte tapfer - »Sie sollten sich nicht beeinflussen lassen.«

»Das werde ich, Eminenz. Darauf können Sie sich verlassen.«

Zum ersten Mal warf Jay Jay einen Blick auf ein Blatt mit maschinengeschriebenen Notizen auf seinem Schreibtisch. »Man würde es gern sehen, wenn Sie bis Ende September für ein Gespräch nach Rom kämen - um einen Zeitplan auszuarbeiten und eine Unterkunft zu finden. Solche Dinge eben. Wenn Sie möchten, mein Junge, können Sie ab sofort ein Zimmer auf dem Hügel haben. Ich habe das persönlich für Sie mit dem Rektor abgesprochen.« Der »Hügel« war in Rom die übliche Bezeichnung für das amerikanische College und Christian verstand den Schachzug als einen zusätzlichen Ansporn.

Weil er spürte, dass von Christians selbstgewisser Antwort der gesamte römische Plan abhing, fügte Jay Jay sich dem Umstand, dass er heute Abend keine endgültige Antwort erhalten würde.

 

Etwa fünfzehnhundert Kilometer nördlich von New Orleans, in der schönen mittsommerlichen Landschaft Virginias unweit von Washington, D.C., steuerte Gibson Appleyard gerade auf die Einfahrt seines Hauses zu, als seine Frau Genie mit ihrem Wagen herausfuhr.

»Ich muss zur Sitzung des Eastern Star, Liebling.« Sie warf ihm eine Kusshand zu. »Wir sehen uns beim Abendessen.«

Appleyard winkte und warf ihr seinerseits eine Kusshand zu. Er ging nach hinten in den Garten, von wo er, trotz der Verlockung seinen wundervollen Rosen ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, durch die Glastüren in sein lichtdurchflutetes Arbeitszimmer trat, dort die Aktentasche auf den Schreibtisch legte, Krawatte und Jacke auf einen Stuhl warf, Die Zauberflöte aus der Stereoanlage tönen ließ und sich daranmachte, einige, so hoffte er wenigstens, ungestörte Stunden zu arbeiten.

Von Beruf Marineoffizier bei der Spionageabwehr war dieser ungewöhnlich hoch gewachsene Mann mit dem sandfarbenen Haar - jener Angelsachse, den Kardinal Maestroianni so farblos gefunden hatte, als Cyrus Benthoek ihn auf der geheimen Sitzung anlässlich des Schuman-Tages in Straßburg vorstellte - auf Wunsch des Präsidenten der Vereinigten Staaten seit Januar 1990 mit besonderen Aufgaben betraut worden.

Gegen Ende Dezember 1989 waren zehn Männer an den Präsidenten herangetreten, die als wahre Riesen in den größten, wichtigsten und wohlhabendsten transnationalen Unternehmen galten. Männer, die die Kontrolle über Telekommunikation und Elektronik und Öl, Agrarwirtschaft, Finanz-, Versicherungs- und Rückversicherungswesen hatten.

Diese Herren hatten sich mit einer klaren Analyse der US-amerikanischen Position in einer sich unvermittelt ändernden Welt an das Weiße Haus gewandt. Der Zerfall der Sowjetunion in Einzelstaaten, sagten sie, sei so sicher wie der nächste Sonnenaufgang. Die natürlichste Alternative für diese Staaten sei der Eintritt in den europäischen Binnenmarkt. Gorbatschow - ganz zu schweigen von Vertretern Europas - sagte bereits einen solchen Kurswechsel voraus.

»Herr Präsident«, lautete ihre gemeinsame Aussage, »wenn es in absehbarer Zukunft dazu kommen sollte - wenn wir es bis zum gegenwärtig vorgesehenen Stichtag im Januar 1993 mit einem Großeuropa zu tun hätten, könnten die Vereinigten Staaten in keiner Weise mehr mithalten. Wir stünden mit dem Rücken zur Wand.«

Natürlich hatten diese Herrschaften auch einen Vorschlag parat: »Geben Sie uns die Vollmacht eine Kommission zu bilden, die über die allgemeinen wirtschaftlichen Interessen der USA angesichts dieser neuen Situation wacht; und die vor allem beizeiten Maßnahmen gegen die rasante Entwicklung eines solch unschlagbaren wirtschaftlichen Konkurrenten ergreift.« Der Präsident hatte ihr Argument verstanden. Kein Präsident konnte es sich leisten, den Rat solcher Männer zu missachten; und kein Präsident konnte ihrer gemeinsamen Stimme widersprechen.

Binnen eines Monats nahm die ad hoc gebildete Zehnerkommission des Präsidenten, die nur der obersten Exekutive Rechenschaft schuldete, ihre Arbeit auf. Und wie so viele Kommissionen in Washington erlangte sie bald einen solch dauerhaften Status, dass der Zusatz »ad hoc« zu einem Widerspruch in sich wurde. Im selben Monat wurde Gibson Appleyard von seinem Posten im Spionageabwehrdienst der Marine abkommandiert. Er und sein vorgesetzter Offizier Edward »Bud« Vance, Admiral im Ruhestand, fungierten als die ausführenden Organe der Kommission. Sie sollten installieren, was der Präsident locker als »Haltegriffe und Trittstufen« in der Europäischen Gemeinschaft beschrieben hatte. »Eine kleine Vorsichtsmaßnahme«, wie der Präsident den beiden Geheimdienstmännern während ihrer ersten Sitzung erklärte, »damit wir ein wenig Kontrolle über unsere Verbündeten haben und Druck ausüben können, sollte es je erforderlich sein.«

Appleyard war ein Meister im Auffinden von Haltegriffen und Trittstufen. Auch wenn ihn die Situation in Europa in gewisser Weise unter Druck setzte, hatte er noch nie vor einer Aufgabe gestanden, die seine Möglichkeiten überstieg. Pragmatisch und erfinderisch, hatte er schon vor langer Zeit herausgefunden, dass der Charakter der Politik und der Politiker sich nicht sonderlich änderte, auch wenn sie auf transnationaler Ebene agierten.

Fest stand, dass die Europäische Gemeinschaft dreihundertzwanzig Millionen Menschen in zwölf Nationen repräsentierte. Rechnete man die sieben Nationen der Europäischen Freihandelszone EFTA hinzu, stand man einer Marktwirtschaft von nahezu dreihundertsiebzig Millionen Menschen auf hohem soziokulturellem und technologischem Niveau gegenüber. Die »Europäer« hatten in den Achtzigerjahren von einer kommenden finanziellen und politischen Einigung Europas gesprochen - möglicherweise bis Mitte der Neunziger. Dieses Großeuropa war ihr Ziel. Für diesen Sommer allerdings - und das trotz der strahlenden Prognosen der EG - schätzte Appleyard die Chancen als eher gering ein, dass dieses Großeuropa zum Stichtag Mitte der Neunziger einig und harmonisch vollendet sein könnte. Die verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft hatten ihre nationalen Identitäten nicht ganz an die EG hingegeben. Deutschland begann seine politischen Muskeln spielen zu lassen und, wenn auch sehr zaghaft, seine militärischen Muskeln. Die Franzosen hingen immer noch der Vorstellung von einem Frankreich als Herz und Seele der europäischen Demokratie an. Und trotz der jüngsten entschlossenen Worte des englischen Premierministers wollte das englische Volk in seiner Mehrheit nicht als Europäer gelten. England war England, zum Teufel!

Hinzu kam, dass die größte Konkurrenz der EG - die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - kaum an Einfluss eingebüßt hatte. Seit der Unterzeichnung der Schlussakte 1975 in Helsinki wurde die KSZE von einer großen Personengruppe als die maßgebliche Instanz Großeuropas betrachtet. Schließlich waren die Vereinigten Staaten - deren Einfluss auf Europa von der EG ungern gesehen wurde - nicht nur ein gleichberechtigtes Mitglied der konkurrierenden KSZE, sondern zudem Hauptsponsor der Europäischen Bank für Aufbau und Entwicklung.

Bis August dieses Jahres hatte Gibson Appleyard nach anderthalb Jahren mühsamer, doch erfolgreicher Nachforschungen zahlreiche Haltegriffe und Trittstufen in der Gesamtstruktur des innereuropäischen Wettbewerbs entdeckt. Er wurde von seinen Vorgesetzten zu Recht als ein Mann geschätzt, dessen geübtem Auge so schnell nichts entging und der stellvertretend für Amerika seine Position verteidigte, während die Zehnerkommission sich an ihre Ad-hoc-Arbeit machte den globalen Frieden und die amerikanische Vorherrschaft in der sich abzeichnenden neuen Ordnung Europas zu sichern.

An diesem sonnigen Nachmittag, als ihm der langsame Sicüia-no-Rhythmus von Paminas Arie in g-Moll um ihren verlorenen Tamino ins Ohr drang, hatte Appleyard sich über die aktuelle Situation in jedem einzelnen Mitgliedsland der EG auf den neuesten Stand gebracht. Eine letzte Durchsicht der Ordner widmete er der bevorstehenden Wahl des neuen Generalsekretärs beim Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft, dann hatte er es geschafft.

Der Posten des Generalsekretärs war seit Juni vakant. Der Besetzungsausschuss der EG war zweimal zusammengetreten. Beide Male hatte Appleyard der Sitzung als Vertreter der USA und Verbindungsoffizier beigewohnt. Und beide Male war die Zahl der Bewerber - natürlich durchweg Europäer und alle von verschiedenen Mitgliedern des Ministerrats oder durch die Kommission vorgeschlagen - reduziert worden. Die dritte und letzte Sitzung des Besetzungsausschusses sollte im September in Brüssel stattfinden. Daher war Mitte August der ideale Zeitpunkt für eine letzte Durchsicht der Dossiers der wenigen Männer, die es in die engere Wahl geschafft hatten - Männer die wussten, wie man das »europäische Spiel« zum eigenen Vorteil spielte ohne heikle Gleichgewichte zu gefährden.

Die Akten verrieten nichts Unerwartetes. Appleyard hatte fast die letzte Seite des letzten Dossiers erreicht, als das private Telefon auf seinem Schreibtisch zu klingeln begann.

»Ich weiß, dass Sie nicht gestört werden wollen, Kommandant ...«

Gibson lächelte über Mary Ellens vertraute geschäftige Stimme vor sich hin. Seine Sekretärin hatte ein gutes Gefühl dafür, was wichtig war, und Gib war so klug ihrem Urteil zu trauen. »Was liegt an, Mary?«

»Admiral Vances Assistent hat gerade noch einen großen, dicken Ordner vorbeigebracht, Sir. Es scheint, dass noch ein weiterer Name für den Posten des Generalsekretärs in der EG im Gespräch ist.«

Gibson pfiff überrascht. »Ist es jemand, den wir schon kennen, oder ein unbeschriebenes Blatt für uns?«

»Ich habe noch nie von ihm gehört, Sir. Aber er arbeitet für Cyrus Benthoek. Und der Präsident persönlich hat die Empfehlung unterschrieben.«

Gib sah sehnsuchtsvoll durch die Glastüren. Es klang ganz so, als könne er seinen Rosengarten für heute vergessen. »Am besten faxen Sie mir die Akte hierher durch, Mary Ellen.«

»Gladstone. Paul Thomas.«

Appleyard las den Namen auf dem Titelblatt des Dossiers mit professioneller Neugier. Die Seiten, die Mary Ellen durchgefaxt hatte, beschrieben den Hintergrund des Kandidaten so gründlich und detailliert, dass man kaum von einer hastig zusammengestellten Akte reden konnte.

Am angenehmsten wurde Appleyard von der Tatsache überrascht, dass überhaupt ein Amerikaner für einen Posten von solcher Bedeutung für die EG in Betracht gezogen wurde.

Eine weniger angenehme Überraschung war, dass es sich bei diesem Gladstone um einen in der Wolle gefärbten Katholiken handelte.

Gib hegte keine Vorurteile. Dafür war er zu klug. Andererseits bildete die Freimaurerei Inhalt und Substanz seines privaten Lebens. Er runzelte die Stirn, als er die obligatorischen Teile der Akte las, die sich mit Gladstones Abstammung befassten. Gladstones Mutter Francesca war so durch und durch katholisch, wie es nicht einmal der Papst von sich behaupten konnte. Und sein älterer Bruder Christian hatte sich für den Priesterberuf entschieden.

Auf der Habenseite stand allerdings, dass in der Familie niemand außer Paul selbst politisch aktiv zu sein schien.

Wie sein Bruder Christian schien auch Paul anfangs mit dem Priesterberuf geliebäugelt zu haben; aber er war vernünftig genug gewesen sein Seminar zu verlassen. Mit seinen Harvard-Abschlüssen in Jura und Finanzwissenschaft hatte dieser Gladstone selbst die Voraussetzungen für eine steile Karriere geschaffen. Cyrus Benthoeks Anwaltskanzlei hatte sich rasch seine Dienste gesichert.

Nach eindrucksvollen internen Einsätzen in Brüssel und Straßburg war er nun mit kaum sechsunddreißig ein Juniorpartner. Sprach flüssig Französisch, Deutsch, Italienisch, Russisch und Mandarin-Chinesisch. War sogar mit einer Chinesin verheiratet. Ein Kind: ein Sohn. Hauptwohnsitz in London. Ein Anwesen in Irland. Ein Apartment in Paris. Kein Problem mit seinem Sicherheitsstatus.

Das war alles interessant; einiges davon sogar faszinierend. Aber es ergab zusammengenommen nichts, was den EG-Besetzungsausschuss bewegen konnte einer so späten Bewerbung oder überhaupt einem Amerikaner den europäischen Kandidaten gegenüber den Vorzug einzuräumen.

Was allerdings für Gladstone sprach, hatte er aus Appleyards Sicht selbst auf den Seiten formuliert, die der Überschrift »Persönliche Stellungnahme« folgten. Auf Seite sechs hatte Gladstone beispielsweise mit bemerkenswerter Einsicht von der »Errichtung völlig neuer Grundlagen für Zusammenarbeit und transnationale Beziehungen« geschrieben. Er hatte einige ausgesprochen gute Abschnitte dem »gegenwärtigen Bedarf nach einer grundlegend neuen ... nicht nationalistischen und nicht sektiererischen Haltung« gewidmet.

Außerdem vertrat Gladstone einen bemerkenswert ausgeglichenen Standpunkt. Seine persönliche Stellungnahme endete mit den Worten: »... nie aus den Augen verlieren, dass das angloamerikanische Establishment seine Vorherrschaft beibehalten sollte, bis das transnationale Gleichgewicht alle anderen Faktoren ausgleicht.« Diese Phrase allein verlieh Paul Gladstone nach Appleyards Einschätzung eine Sonderstellung. Diese Worte hätten aus seiner eigenen Feder stammen können. Oder direkt aus der Zehnerkommission.

Nun blieben nur noch Gladstones Referenzen zu prüfen. Wie erwartet lag ein Empfehlungsschreiben von Cyrus Benthoek bei.

Aber was war mit der Empfehlung aus dem Weißen Haus? Oder besser der Tatsache, dass der Präsident persönlich das Schreiben unterzeichnet hatte? Gewöhnlich widmete der Alte solchen Angelegenheiten keine sonderliche Aufmerksamkeit.

Was also, fragte sich Appleyard, steckte hinter der Unterschrift des Präsidenten?

Wieder unterbrach sein privates Telefon seine Gedanken.

»In letzter Zeit mal ein paar interessante Dossiers gelesen, Gib?«

Admiral Vances Stimme klang entspannt und offiziell zugleich. »Hallo, Bud. Ich dachte mir schon, dass Sie bald anrufen würden. Ich habe gerade die Lebensgeschichte Paul Thomas Gladstones gelesen.«

»Und...?«

Appleyard lieferte seinem Chef die Einschätzung, die er hören wollte. Unter professionellen Aspekten, sagte er, als ausführendes Organ der Zehnerkommission, könne er nichts Bedenkliches an dieser späten Bewerbung um den Posten des EG-Generalsekretärs finden. Und selbst in persönlicher Hinsicht könne er eine gewisse Begeisterung für einen solchen Außenseiter nicht unterdrücken. Ein nicht mehr praktizierender römischer Katholik. Ein Yankee, der mehr wie ein Europäer als wie ein Amerikaner wirkte und mit der internationalen Politik bestens vertraut war. Starke familiäre Bindungen in seinem Leben. Keine Anzeichen für Frauengeschichten oder Probleme mit Alkohol oder anderen Drogen. In Anbetracht des Familienvermögens vermutlich weitgehend unbestechlich.

»Stört es Sie, Gib, dass er ein Katholik ist?« Weil ihn alle Personen in hohen Ämtern beunruhigten, die etwas um das, wie er es gern nannte, »ganze Larifari des Papstes« gaben, war Vance von Gladstones Stellungnahme offenbar nicht überzeugt.

»Es ist ohne Bedeutung, ob es mich stört«, antwortete Appleyard. »Der Präsident will ihn und nur das zählt. Und wo wir schon beim Thema sind: Was ist an dieser Sache eigentlich so mteressant, dass der Alte sich ihrer persönlich angenommen hat? Warum hat er seinen Namen unter das Empfehlungsschreiben gesetzt?«

»Fragen Sie mich nicht.« Vance klang wenig überzeugend. »Da greift wohl ein Rädchen ins andere, schätze ich. Der Präsident verfügt über seine eigenen Kanäle. Um wieder zur Sache zu kommen: Wie schätzen Sie Gladstones Chancen vor dem Besetzungsausschuss der EG ein?«

Appleyards gab ihm keine bis bestenfalls dürftige Chancen. »Sie kennen die Voraussetzungen. Bis auf den einen Briten ist der Ausschuss durch und durch europäisch besetzt, so wie die EG selbst. Das spricht nicht gerade für einen Amerikaner als Generalsekretär. Der Posten ist zu einflussreich. Er bringt einen mit zu vielen Menschen in Kontakt. Mit den zwölf Regierungschefs und den siebzehn EG-Kommissaren.«

»Genau darum geht's, Commander.« Vance klang jetzt ganz geschäftsmäßig. »Wir dürfen uns keine Gelegenheit für einen amerikanischen Einfluss auf die höchsten Ebenen der EG entgehen lassen. Sie werden an der Sitzung im September teilnehmen. Natürlich verfügen wir über kein Stimmrecht. Aber wenn es für Gladstone schlecht aussehen sollte, drängen Sie darauf, dass die Abstimmung verschoben wird. Lassen Sie sich etwas einfallen. Verschaffen Sie uns etwas Zeit um den einen oder anderen umzustimmen. Wir brauchen ...«

»Ich weiß, Bud.« Appleyard lachte und imitierte den Präsidenten, so gut er konnte. »Wir brauchen Haltegriffe und Trittstufen.«



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WlNDSWEPT HOUSE

 

 

XIX

In den ganzen siebzig fahren ihres Lebens war Windswept House für Francesca Gladstone immer ein Haus Gottes und ein Tor zu jenem Himmel gewesen, den sie einmal zu erreichen hoffte.

Das bedeutete nicht, dass Cessi Gladstones Dasein auf Windswept House stets von Engelsgesichtern umgeben gewesen wäre, wie man sie vielleicht von Skulpturen della Robbias kennt, oder dass sie Tragödien nicht erlebt hätte. Im Gegenteil: Ihre Mutter war gestorben, als Cessi gerade fünf Jahre alt war. Ihre eigene Ehe - überdies keine glückliche - hatte mit dem frühen Tod ihres Mannes durch einen dummen und blutigen Unfall geendet. Und trotz des soliden Bollwerks, als das sich das Vermögen der Gladstones und ihr Familienstatus als privilegiati di Stato erwiesen hatten, war die Erziehung ihrer drei Kinder während der Sechziger- und Siebzigerjahre einem steten Abwehrkampf - mit wechselndem Erfolg, wie sie gern zugab - gegen eine feindliche Belagerung ihres Glaubens gleichgekommen - eine Belagerung ihrer gesamten Lebensweise.

Aller Tragödien und Schwierigkeiten ungeachtet aber hatte ein inneres Glück Cessis Jahre auf Windswept House überstrahlt und beschützt. Sie hatte Unzufriedenheit, Enttäuschung, Bedauern und Zorn kennen gelernt. Aber sie hatte etwas nie verloren, was man nur als Glückseligkeit bezeichnen konnte.

Cessi Gladstone verfügte über ein dunkles, intuitives Wissen um zukünftige Ereignisse. Es war nicht so klar wie eine Vision oder eine genaue Vorausschau dessen, was geschehen würde. Es waren eher Vorahnungen; ein Vorgeschmack der Auswirkungen bevorstehender Veränderungen. Es war mehr ihre Stimmung als ihre Geist, die Kommendes widerspiegelte. Und öfter als ihr lieb war - öfter als sie es im Interesse ihrer Kinder erträglich fand -, hatten Cessis Ahnungen sich als zutreffend erwiesen.

Im Frühling dieses Jahres, als Christians Karriere in Rom einen Wendepunkt erreichte, bemerkte Patricia, Cessis jüngstes Kind und einzige Tochter, als Erste, dass sich wieder einmal eine solche Stimmung ankündigte. Tricia hätte es nicht in Worte fassen können. Ihre Mutter hatte an jenem Morgen nicht anders ausgesehen als sonst. Mit siebzig war Cessi Gladstone immer noch einen Meter siebzig groß. Mit ihren langen Beinen, ihrer schmalen Hüfte und ohne überflüssige Fettpolster wirkte sie wie eine Frau von fünfzig; und sie bewegte sich immer noch mit der kraftvollen Eleganz der Primaballerina, die sie einmal gewesen war. Sie war nie einfach nur gegangen: Sie schritt. Jede Bewegung schien von einem unmerklichen, unerschütterlichen inneren Gleichgewicht auszugehen.

An diesem Morgen aber, in dem sonnigen Frühstückszimmer, wo die beiden Gladstone-Frauen ihren Tag begannen, hatte Tricia erkannt, dass das innere Barometer ihrer Mutter Änderungen zu registrieren begann. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass das gotische Gesicht ihre Mutter mit seiner sonst völlig weißen Haut an diesem Tag zu rosig erschienen war. Vielleicht hatten Cessis starker Mund und ihre leicht gebogenen Nase, wie sie alle echten Gladstones auszeichnete, zu eingefallen gewirkt. Vielleicht hatten diese großen, gewöhnlich weichen blauen Augen das blitzende Grün ihrer empfänglichen Stimmungen angenommen. Oder vielleicht hatte es an der Art gelegen, wie Cessi ihr kastanienbraunes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar so streng zurückband. Was immer es sein mochte, Tricias eigener empfindsamer Intuition konnte nicht entgehen, dass etwas ihrer Mutter Sorgen bereitete.

»Unsinn, Liebling«, hatte Cessi Patricias Beunruhigung mit einem Naserümpfen abgetan. »Es könnte mir nicht besser gehen.« Aber sie hätte sich die Mühe sparen können. Cessis Worte überzeugten Tricia so wenig wie Cessi selbst.

»Sie reden selbst Unsinn, Miss Cessi«, bemerkte Beulah Thompson, die gerade mit einer frischen Kanne dampfenden Kaffees in der Hand und einem Runzeln auf der Stirn aus der Küche hereinkam. »Jeder Einäugige könnte sehen, dass etwas nicht stimmt.« Beulah, eine stattliche, knochige Mutter von vier Kindern und Großmutter von drei Enkeln, war seit nahezu zwanzig Jahren Haushälterin und Vertraute der Gladstones. Sie verstand sich selbst als gläubiges und gewissenhaftes Mitglied der örtlichen Baptistengemeinde. Doch in erster Linie und vor allem anderen verstand sich Beulah als eine Gladstone, die, wann immer in ihrer Gegenwart ein Familiengespräch stattfand, ein Mitspracherecht hatte.

Angesichts dieser beider Frauen, die sie so gut kannten, musste Cessi schließlich die Wahrheit zugeben. Ein Gefühl, dass eine grundlegende Veränderung bevorstand, hatte sie erfasst, aber sie konnte noch nichts Konkretes dazu sagen. Bis die Ereignisse ihren Ahnungen Gestalt verliehen, konnte sie nichts tun als zu warten.

Kaum hatte sie dieses unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit zugegeben, rebellierte Cessi schon gegen ihre eigenen Worte. Ob in Cornwall, England, oder in Galveston, Texas, die Gladstones hatten nie einfach so dagesessen und auf etwas gewartet, erklärte sie; und sie wollte nicht die Erste sein, die damit anfing. Das diesjährige Familientreffen versprach ein ganz besonderes zu werden und keine Ahnungen oder Stimmungen oder Veränderungen sollten sich dem in den Weg stellen. Christian würde Ende August für zwei Wochen aus Italien nach Hause kommen. Und dieses Jahr wollte auch Paul seine Heimat besuchen, gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Declan, der zu den größten Freuden in Cessis Leben gehörte. Natürlich würde Paul auch seine Frau Yusai mitbringen; doch damit würde sich Cessi wohl abfinden.

»Fort mit all diesen Vorahnungen!« Cessis Miene war plötzlich in einem Feuer solch enthusiastischer Entschlossenheit erstrahlt, dass die Flammen auf Tricia und Beulah Thompson übergriffen, bevor sie noch wussten, wie ihnen geschah. »Wir werden diesen alten Bau vom Dach bis zum Keller aufputzen. Es soll ein Sommer werden, den Galveston nie vergessen wird!« Kaum hatte sie beschlossen Windswept House wieder zum Leben zu erwecken, hatte sie sich auch schon an die Arbeit gemacht. Cessi stellte eine Liste mit allem auf, was zu erledigen war. Bei der Ankunft ihrer beiden Söhne Ende August sollte jedes einzelne Zimmer im Haus in neuem Glanz erstrahlen.

 

Den Sommer über, während sie in jeden Winkel des Herrenhauses des alten Glad schaute, durchlebte Cessi noch einmal ihr ganzes Leben. Indem sie durchs Haus streifte, seine Treppen erklomm, dort eine Fotografie betrachtete, hier vor einem Porträt innehielt, begriff sie, was der heilige Paulus in einem seiner Briefe so treffend ausgedrückt hatte: dass unsere irdische Existenz von einem »Schwärm von Zeugen« begleitet wird. Von all unseren Ahnen und von allen, die ihren Teil zum Guten oder zum Bösen beitragen, dem Heiligen und dem Unheiligen in uns- Ohne Nostalgie, ohne Selbstzufriedenheit, nur mit der Zufriedenheit und Glückseligkeit der Seele, die sie nie verlassen hatten, ging sie in Gegenwart all jener Menschen zu Werke, deren Gesichter und Stimmen nun ein Teil des Erbes von Windswept House waren.

 

Trotz all des Wirbels von Arbeit und Aufregung ging Cessi abends nie zu Bett ohne zuvor die Wendeltreppe in die Turmkapelle hinaufgestiegen zu sein. Dort verbrachte sie eine stille Stunde, so wie sie es seit ihrer frühesten Kindheit getan hatte: Sie besprach ihre Probleme und Sorgen - und vor allem diese hartnäckigen Ahnungen, die sie wieder einmal heimsuchten - mit Christus im Tabernakel, mit der Heiligen Jungfrau und all den Heiligen und Engeln, die sich hier versammelt hatten.

Alle Familienmitglieder wussten, dass Cessi sich am liebsten in der Turmkapelle aufhielt. Es hing nicht nur damit zusammen, dass hier ihre Kinder getauft worden waren und sie hier geheiratet hatte oder dass die Totenfeiern für alle Gladstones seit dem alten Glad, darunter auch die für ihre Mutter Elizabeth und ihren Vater Declan, hier abgehalten worden waren. Es hatte auch damit zu tun, dass jede Erfahrung, die sie mit ihrer wundersamen Gabe der Vorahnung gemacht hatte, auf diese oder jene Weise eng mit der Kapelle verknüpft war.

Cessi hatte ihre erste bewusste Erfahrung mit dieser Gabe in einem Alter gemacht, als sie sich noch nicht mit Worten mitteilen konnte. Sie hing mit ihrer Mutter zusammen, deren Porträt sie genauso zeigte, wie Cessi sie im Gedächtnis hatte: eine zerbrechliche junge Frau mit pechschwarzem Haar, hohen Wangenknochen, einem sanften Mund und lachenden blauen Augen. Sie erinnerte sich noch an das düstere Vorgefühl, das ihr tterz ergriffen hatte, Monate bevor ihre Mutter ernsthaft krank geworden war. Sie hatte noch das Gesicht ihres Vaters vor Augen, tränenfeucht und doch so voller Liebe und Glauben, als er ihr in ebendieser Kapelle sagte, was sie bereits wusste. »Unser lachender Engel«, hatte Declan seiner kleinen Cessi erklärt, »ist zum Herrn gegangen um glücklich in seinem Himmelreich zu leben.«

Die zweite derartige Erfahrung in ihrem jungen Leben war von fast erhabener Natur gewesen. Cessi war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Die Karwoche war fast vorbei und überall wich der Winter bereits den ersten Anzeichen des Frühlings. Cessi hatte mit ihrem Vater und ihrer Tante Dotsie die Karfreitagsliturgie in der Marienkathedrale besucht. Dotsie war auf Windswept House eingezogen um die Kinder zu betreuen.

Während sie zwischen ihrem Vater und Dotsie auf der Familienbank kniete, hatte Cessi zugehört. Zu jeder Station des Kreuzweges wurde ein Vers aus dem Stabat Mater gesungen, gefolgt von einer kurzen Meditation und einem Gebet. »... schenk mir Deine Gnade und Deine Liebe, Herr Jesus«, betete die Gemeinde laut wie aus einem Mund, »und dann verfahre mit mir, wie es Dir beliebt.« Natürlich hörte sie dieses Gebet; doch in einem bestimmten Moment hörte sie auch eine andere Stimme. Klanglos, klar, weich. Von behutsamer Wirkung, nur für sie bestimmt. Die Stimme von jemandem, der immer bei ihr, immer in ihrer Nähe gewesen war; der ihr noch näher als ihr Vater stand. Eine Stimme, die ihr versprach, dass ihr tatsächlich Seine Gnade und Seine Liebe zuteil werden sollten. Eine Stimme, die ihr versprach, dass Er mit ihr verfahren würde, wie es Ihm beliebte. Es war ein kostbarer Augenblick, der mit einem Wimpernschlag vorüberging; eine Ankündigung, die Cessis Geist und Seele überfließen ließ.

Ihr Vater verstand, als sie ihm von ihrem Erlebnis erzählte, denn auch er war mit einer besonderen Gabe gesegnet. Er wusste, dass ihr eine Erfahrung zuteil geworden war, die weit über das hinausging, was unserem Verstand zugänglich ist. Cessi betrachtete dieses Erlebnis später als mehr denn eine Vorahnung. Sie sah in ihm nichts weniger als eine schicksalhafte Einstimmung auf ein Leben, das sich beinahe sofort der Welt außerhalb der Mauern von Windswept House öffnen sollte.

 

Es kam ganz unerwartet, dass ausgerechnet Tante Dotsie die erste Phase in Cessis neuem Leben einleitete. Cessi, befand Dotsie, sei zu sehr ein Wildfang geworden. Aber für die künftige Herrin von Windswept House sei es nie zu früh, zu lernen, »wie sich eine Dame benimmt«. Es sei daher an der Zeit, dass sie Ballettstunden nehme.

Zu aller Erstaunen ging Cessi so in ihrem Ballettunterricht auf, als habe jeder Tag ihrer ersten acht Lebensjahre sie darauf vorbereitet - als sei Tanz genau der körperliche Ausdruck jener übernatürlichen Gnade, die nun den Mittelpunkt ihres spirituellen Gleichgewichts bildete.

Als Cessi zwölf wurde, erkannte sie, dass ihre tänzerische Begabung mehr war als eine Gabe der Natur. Sie stelle eine Verantwortung dar, erklärte sie ihrem Vater, eine Berufung, die sie verpflichte aus den Bewegungen des menschlichen Körpers eine sichtbare, wenn auch vergängliche Schönheit zu schaffen. Von dieser Zeit an fand eine ganz eigentümliche Verschmelzung statt: Eine einzigartige Vereinigung des Schwerpunkts, den sie als Tänzerin benötigte, mit jenem, den sie in ihrem religiösen Leben bereits gefunden hatte, wurde zum Mittelpunkt und zur leitenden Instanz ihres Lebens; zu einer dauerhaften Verfassung ihres Seins. Von einer einzigen Ausnahme in ihrem Leben abgesehen verlor Cessi nie das Gefühl für diese beiden inneren Schwerpunkte ihres Seins; von dort schienen all ihr Glück und all ihre Freiheit zu entspringen.

So stolz Declan auch auf seine Tochter war, er konnte sich nie ganz mit ihren langen Abwesenheiten von Windswept House anfreunden. Er war deshalb ebenso erfreut wie erstaunt, als Cessi unvermittelt beschloss sich der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entziehen, die ihre Karriere allmählich erregte. Sie kehrte eines Tages von einer Tournee zurück und erklärte ihrem Vater, dass Gott sie nicht mehr auf der Bühne sehen wolle. »Er will, dass ich unterrichte.«

Declan nahm sich Cessis Worte zu Herzen. Wenn sie sagte, Gott wolle, dass sie unterrichte, dann sollte sie unterrichten. Er half seiner Tochter nicht nur bei der Gründung und Einrichtung ihrer eigenen Tanzschule, sondern blieb auch ihr Partner, was die geschäftliche Seite der Akademie anging. Und da Cessi nun für immer zu Hause war, begann Declan sanften Druck auf sie auszuüben, damit sie sich endlich für einen der vielen Männer entschied, die ihr den Hof machten. Es wurde Zeit, dass sie heiratete.

Sie sei nicht im Mindesten an einer Heirat interessiert, erklärte Cessi ihrem Vater frank und frei. Es gab einen einfachen Grund, warum sie es schließlich doch tat. Mit einunddreißig, insofern musste sie ihrem Vater Recht geben, wurde es allmählich Zeit, wenn sie noch Kinder haben wollte. Warum sie aber ausgerechnet Evan Wilson zu ihrem Ehemann erwählte, konnte niemand je begreifen.

Die eheliche Zuneigung zwischen Cessi und Evan, wenn davon überhaupt die Rede sein konnte, war bestenfalls lau gewesen. Sie zeugten in rascher Folge drei Kinder - 1954 zuerst Christian, im Jahr darauf Paul und 1956 dann Patricia. Aber mit der Geburt eines jeden Kindes wurde Evan immer mürrischer und unausstehlicher. Mit Tricias Geburt gaben die morschen Fundamente, auf denen ihre Ehe ruhte, schließlich ganz nach. Evans Trunksucht wuchs sich zum Skandal aus. Und spätestens nach einigen gewalttätigen Szenen musste Cessi ernsthaft um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten. Schließlich zog er sich mehr oder weniger auf den Hof seiner Familie auf dem Festland zurück. Am Ende war es ein Vetter, der Windswept House die Nachricht von dem Unfall überbrachte. Cessi blieben die Einzelheiten unklar. Sie verstand nur, dass Evans Tod eine trunkene und blutige Angelegenheit gewesen war.

Christian war gerade fünf, als sein Vater starb, Paul erst vier, Tricia kaum drei. Doch weil sie nie vergaß, dass sie selbst nicht älter als Christian gewesen war, als ihre eigene Mutter starb, machte Cessi der Gedanke traurig, dass ihre Kinder nie dieselbe Gewissheit haben würden, ob Evan die letzte Gnade zuteil geworden sei, wie sie sie im Falle ihrer Mutter hatte. Es war eine berechtigte Sorge, denn Cessi war sich ziemlich sicher, dass zumindest Christian und vielleicht auch Paul und Tricia sich des Verhaltens ihres Vaters sehr viel deutlicher bewusst waren, als sie das ausdrücken konnten. Deshalb sandte sie Dankgebete gen Himmel - als es allen dreien irgendwie gelang ihrem Vater einen friedvollen Platz in ihren Herzen einzuräumen. Sie gaben sich niemals falschen und kindlichen Erinnerungen an ihren Vater hin. Aber sie vergaßen auch nie für seine unsterbliche Seele zu beten.

 

 

XX

»Es ist bald Ende August, Mutter, und trotz deiner Vorahnungen ist bei uns noch kein Blitz eingeschlagen.« Den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick ins frühmorgendliche Licht emporgerichtet, hockte Patricia Gladstone auf der Kante des Liegesofas in ihrem Schlafzimmer. »Bevor du dich versiehst, ist Chris wieder daheim; und dann Paul und seine Familie.«

»Halt still, Tricia, sonst fallen dir diese Tropfen ins Haar und nicht in die Augen!«

Gehorsam lehnte Tricia sich nach hinten, legte den Kopf schräg und hielt, obwohl es ihr Schmerzen bereitete, die Augen weit offen, damit Cessi die neuesten künstlichen Tränen einträufeln konnte, die man ihr für ihren fortwährenden Kampf um ihr Augenlicht verschrieben hatte. Seit über einem Jahrzehnt litt Tricia nun schon unter qualvollen Beschwerden, für die die Ärzte zwar einen Namen hatten - Keratoconjunctivitis sicca -, für die bislang aber niemand ein Gegenmittel oder eine wirksame Behandlung gefunden hatte.

Kurz gesagt bestanden diese Beschwerden in einer zunehmenden Trockenheit ihrer Augen, die das Augenlicht beeinträchtigte und sogar in eine lebensgefährliche Krankheit münden konnte. Sie verurteilten Patricia Gladstone zu einem tagtäglichen Kampf gegen den Schmerz und einem ständigen Bemühen das Schlimmste abzuwenden. Es war ein Wunder, dass Tricia über genug Kraft verfügte ihre Wunschkarriere als Künstlerin weiterzuverfolgen und dass sie trotz ihrer Qualen nie diese gewisse Schärfe ihres Charakters einbüßte, die so sehr an Cessi erinnerte.

»Das war das eine Auge.« Cessi träufelte die künstlichen Tränen mit einem Geschick ein, das von langer Übung herrührte.

»Und das war das zweite.«

»Es wird nicht mehr lang dauern.« Tricia wollte sich nicht von dem Thema abbringen lassen, das ihr wichtig war. »Du musst zugeben, Mutter, dass bisher alles gut gelaufen ist. Chris kommt nächstes Wochenende heim. Und ein paar Tage danach werden Paul und seine Familie hier sein. Wenn Windswept House so funkelt, kann uns eigentlich nichts Schlimmeres passieren, als dass sie glauben, sie hätten das falsche Haus erreicht, und wieder umkehren!«

Cessi wünschte, sie könne ihr beipflichten. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, den ganzen Tag über war Cessi wie eine nervöse Katze aufgesprungen, sobald das Telefon läutete, immer in Erwartung einer Nachricht, die ihrer düsteren Ahnung Gestalt verlieh.

»Sehen wir der Sache doch ins Auge, Mutter!« Tricia stand auf und tauschte ihren Morgenmantel gegen ihren Malerkittel. »Vielleicht sind deine Vorahnungen dieses eine Mal nicht mehr als die Folge von Verdauungsstörungen.«

»Lass das bloß Beulah nicht hören!« Cessi musste bei dem Gedanken laut lachen.

Trotz ihres Lachens und ihrer gutmütigen Scherze über Beulah Thompson schwang in Cessis Stimme ein Unterton mit, der Tricia davon abhielt, ihre Stimmung mit ein paar tröstenden Worten abzutun. Schließlich konnte Tricia ihre Mutter dazu bewegen, ihr ihre Vorahnungen anzuvertrauen.

Zunächst einmal, erklärte Cessi ihrer Tochter, waren ihre Gefühle nicht mit denen zu vergleichen, die sie einst vor den unangenehmen Konsequenzen ihrer Heirat mit Evan Wilson gewarnt hatten. Aber sie hatte keinen Zweifel, dass, was immer ihr bevorstehen mochte, es ausschließlich mit ihrer Familie zu tun hatte. Und sie hatte das beharrliche Gefühl, dass ihre Ahnungen nicht nur von äußeren Ereignissen im Nachhinein bestätigt, sondern dass sie vielmehr von solchen Ereignissen auf irgendeine Weise angekündigt würden.

Alles in allem, gestand Cessi ihrer Tochter, fühle sie sich jetzt - nach über dreißig Jahren - fast genauso wie damals zu Beginn jener schrecklichen Ereignisse, die 1960 ihren Anfang genommen hatten.

 

Weil die berühmten Weissagungen von Fatima dem »Papst des Jahres 1960« befohlen hatten der Welt das Geheimnis um die dritte Prophezeiung von Fatima zu offenbaren und gemeinsam mit den Bischöfen der katholischen Kirche Russland der Heiligen Jungfrau im Namen der Unbefleckten Empfängnis zu weihen, erwartete jeder von dem guten Papst Johannes eben dies zu tun. Aber der Papst weigerte sich der Weisung zu entsprechen. Die Weihe Russlands fand nicht statt. Das berühmte dritte Geheimnis blieb Millionen erwartungsvoller römischer Katholiken verschlossen.

Cessi wurde von Vorahnungen heimgesucht. »Meinetwegen kann ihn jeder den guten Papst nennen«, hatte sie gewarnt. »Aber nicht einmal ein Papst kann sich weigern dem Wort der Königin des Himmels zu gehorchen und glauben, er könne damit davonkommen.« Von der beunruhigenden und unfassbaren Tatsache, dass der gute Papst trotzdem eine solche Entscheidung gefällt hatte, erfuhren Cessi und Declan, als sie in ihrer Eigenschaft als pivilegiati di Stato der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 im Petersdom beiwohnten.

Die beiden Gladstones hörten, wie der Pontifex den Bischöfen, die sich aus allen Diözesen versammelt hatten, der katholischen Kirche und der Welt ausführlich erklärte, welche Ziele dieses Konzil seiner Ansicht nach erreichen sollte. Er sprach von der Modernisierung seiner kirchlichen Organisation; von der Öffnung der Kirche gegenüber Nichtkatholiken und Nichtchristen; von der Notwendigkeit, die strengen Vorschriften zu lockern, die jeden Verstoß gegen das Kirchenrecht und die Ablehnung ihrer heiligen Doktrinen unter Strafe stellten.

Für Cessi und Declan klang all das wie eine Aufgabe des unnachgiebigen Standpunkts, den ihre Kirche immer eingenommen hatte. Schlimmer noch, es klang, als wolle der gute Papst sich dafür entschuldigen statt stolz darauf zu sein, was ihre j(irche geleistet hatte und was sie bislang gewesen war. Es klang, als sei dem guten Papst eingeredet worden, die Kirche habe sich heutzutage der Welt zuzuwenden um zu lernen, was eine wahre Kirche sei.

Cessi hatte die Neuerungen, die von den Bischöfen im Konzil eingeführt wurden, mit einem Misstrauen beobachtet, das ihr bis ins Mark ging. Zuerst gingen diese Neuerungen nur stückweise vonstatten. Doch bald steigerten sich die Reformen zu einem beständigen Tröpfeln, dann zu einer Flut. Ohne ein Nicken oder ein Wort des Papstes oder der Bischöfe des Konzils gingen ganze Armeen selbst ernannter »Liturgiker«, »Katecheten« und »Kirchen-Architekten« ans Werk. Alle Diözesen Amerikas, darunter Galveston, wurden von einem Geist durchdrungen, den Cessi und Declan als liberalistische Bewegung betrachteten, eine unkatholische Liturgie, die die Kirche bloßstellte und den Glauben unterhöhlte. Selbst die Messen in der Marienkathedrale, inzwischen auf Englisch gelesen, wurden häufig zu volkstümelnden Feiern lokaler oder politischer Anlässe statt zu Ausübungen und Feiern des zentralen Aktes des katholischen Glaubens. In Galveston, wie überall sonst, wurden die Gemeinden angehalten erst aufzustehen, sich dann wieder zu setzen und sich die Hände zu reichen. Nur selten kniete man noch im Angesicht Gottes nieder.

Cessi erkannte, dass die Veränderungen, die von Rom ausgingen, die Gesellschaft in einem solchen Maße zu überschwemmen drohten, dass auch ihre Kinder, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, davon stark beeinflusst würden.

Deshalb hatte sie geschickt und hingebungsvoll den Rhythmus «es häuslichen Lebens auf Windswept House geändert. Sie und Declan nahmen immer weniger Anteil am gesellschaftlichen Leben von Galveston. Cessis ganzes Leben drehte sich nun um die Erziehung ihrer Kinder, um die Verteidigung des katholischen Glaubens in ihrem Leben als die papsttreuen Gladstones die sie nun einmal waren, und um die Fortsetzung ihrer eigenen Karriere als Tanzlehrerin.

Als die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils immer deutlicher zu spüren waren, besuchten die Gladstones nur noch die Messen in der Turmkapelle von Windswept House. Private Religionsstunden für die drei Kinder traten an die Stelle des neumodischen »katechetischen Unterrichts«. Als es nicht länger praktikabel war, ihre drei Kinder weiter zu Hause zu unterrichten, sorgte Cessi dafür, dass die Mutter Oberin von Tricias Schule und die Ordensbrüder an der Schule, die sie für Christian und Paul ausgesucht hatte, sich darüber im Klaren waren, dass ihre großzügige finanzielle Unterstützung nur so lange andauern würde, wie sie der humanistischen Bildung und der unverbrüchlichen katholischen Lehre treu blieben.

Gegen Ende der Sechzigerjahre begann sich Cessis Einschätzung, dass sich ein grundlegender Wandel in der Welt ankündigte, zu bewahrheiten. Das private und öffentliche Leben der Gesellschaft löste sich von seinen moralischen Fundamenten und es gab keine Möglichkeit ihre Kinder davon abzuschirmen. Das Beste, was Cessi tun konnte, so erklärte sie Declan, bestand darin, Christian, Paul und Tricia ständig auf die Gefahren der neuen säkularistischen Konformität hinzuweisen, die sich ihrer Ansicht nach zu einer neuen Staatsreligion herausbildete; ihnen weiter zu einem deutlichen Verständnis ihres römischen, katholischen und apostolischen Glaubens zu verhelfen; und immer jene geistige Unabhängigkeit zu fördern, die grundlegendes Element ihrer aller Leben und Charakter war.

 

Bis ins Jahr 1969 hatten Cessi und Declan ihr Leben auf Windswept House so selbstgenügsam und mit sich zufrieden eingerichtet, dass es so schien, als könne es eigentlich durch nichts mehr beeinflusst werden. Es geschah aber ungefähr zu dieser Zeit, dass eine scheinbar routinemäßige Angelegenheit fast zu einer Lawine anschwoll, die Cessis Haltung gegenüber den weit reichenden Konsequenzen des Zweiten Vatikanischen Konzils jenes guten Papstes nur weiter verhärtete.

Cessi und Declan waren nach Washington, D.C., zu einer Sitzung mit Finanzbeamten eingeladen worden, um über einige Besitztümer der Gladstones in den damals krisengeschüttelten Gebieten Lateinamerikas zu sprechen. Obwohl sie zeitig eine Suite im Hay-Adams-Hotel gebucht hatten, stellten sie nach ihrer Ankunft fest, dass ihre Zimmer noch nicht fertig waren. Das Problem, so schien es, war eine gut besuchte Zusammenkunft von Priestern zur Unterstützung eines verheirateten Klerikers.

Ein verheirateter Kleriker war für Cessi und Declan ein ebenso schockierender und unmöglicher Widerspruch in sich wie Satan ohne Sünde. Declan war so außer sich vor Wut, dass er in dieser Nacht nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen fand Cessi ihren Vater, kalkweiß und zitternd, immer noch am Schreibtisch sitzend. Unverzügliche medizinische Untersuchungen in Washington blieben ohne Ergebnis. Dagegen stellten Spezialisten, die Cessi unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Galveston konsultierte, fest, dass Declan einen leichten Schlaganfall erlitten hatte.

Er erholte sich nie wieder davon. Er hielt noch acht Monate lang durch, doch die Sturzflut so genannter »Reformen«, die die Bürokratie im Anschluss an das Konzil entfesselte, war zu viel für ihn. Declan starb friedlich im Kreis seiner Familie. Francesca Gladstone war nun die Herrin auf Windswept House. Und so wie sie einst ihre Kinder vor der Gewalttätigkeit ihres Ehemannes beschützt hatte, verteidigte sie nun sich, ihre Kinder und alle, die Windswept House treu ergeben waren, gegen die Gewalt, die der aus Urzeiten überlieferten römisch-katholischen Messe angetan wurde. Der Novus Ordo würde in der Turmkapelle nie Einzug finden. Mehr denn je wurde Cessi zur Verkörperung ihres Familienwahlspruchs: Niemals würde sie in ihrem lebenslangen Kampf um den römischen Katholizismus ihrer papsttreuen Vorfahren den geringsten Pardon geben.

 

 

XXI

Ende der Sechzigerjahre hatte Cessi ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Insel noch weiter eingeschränkt als zu Declans Lebzeiten. Die Gästezimmer im dritten Geschoss genügten vollauf für die wenigen Freunde und Familienangehörigen, die zuweilen nach Windswept House eingeladen wurden. Die Zimmer im vierten Geschoss blieben abgeschlossen. Von Beulah Thompsen einmal abgesehen wurden Angehörige des Personals, die kündigten oder in den Ruhestand traten, kaum ersetzt. Am schlimmsten zu ertragen war dabei für Cessi die Tatsache, dass es um 1970 nahezu unmöglich geworden war, einen Priester zu finden, der in der Turmkapelle von Windswept House regelmäßig eine unverfälschte römisch-katholische Messe lesen konnte. »Es ist so schwierig geworden«, gestand Cessi ihrer Tochter, als vertraue sie ihr ein hässliches Geheimnis an, »dass ich angefangen habe unseren Herrn während meiner Gebete oben in der Kapelle an ein paar Tatsachen zu erinnern. Er hat uns einen Bärendienst damit erwiesen, sagte ich Ihm, dass der päpstliche Erlass es uns erlaubt, die gnädige Hingabe Seines Leibes und Seines Blutes auf Windswept House zu feiern, wenn Er gleichzeitig zulässt, dass diese Narren in Rom uns unsere gläubigen Priester wegnehmen und durch eine Bande wollüstiger Possenreißer mit runden Kragen ersetzen.«

»Ich hoffe, du hast es nicht so ausgedrückt!« Wie alle in der pairulie war Tricia immer fest davon überzeugt gewesen, dass Cessi mit den Bewohnern des Himmels einen besonders vertrauten Umgang pflegte.

»Aber natürlich, Liebling.« Cessi setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf, als sie die Kaffeetasse an ihre Lippen hob. »Und ich habe gut daran getan. Warum sonst, meinst du, ist unser brillanter Freund Traxler Le Voisin aus heiterem Himmel in unser Leben getreten?«

Tricia wusste keine Antwort darauf. Aber sie erinnerte sich natürlich an den Tag, als Traxler - »Jeder nennt mich Traxi« - Le Voisin nach Windswept House gekommen war. »Brillant« war nur ein passendes Wort um diesen Bildhauer und Vater von sieben Kindern zu beschreiben. »Aufregend« war ein anderes, das ihr in den Sinn kam. Fest davon überzeugt, dass weder der gute Papst noch sein unmittelbarer Nachfolger es verdienten, von ihm und seinesgleichen als »wahre Päpste« anerkannt zu werden, gehörte Traxi Le Voisin zu jenen römischen Katholiken, die sich als »Sedisvakantisten« einen Namen gemacht hatten. Sie vertraten mit anderen Worten die Überzeugung, dass der Stuhl Petri rechtlich gesehen seit den späten Fünfzigerjahren unbesetzt sei.

Als Papstanhängerin, die sie war, hatte Cessi in diesem Punkt Traxi nie zugestimmt. Als er Windswept House das erste Mal als Kopf einer Delegation betreten hatte, die gut sechzig gläubige katholische Familien aus der Umgebung vertrat, entsetzte er sie erst einmal mit seiner Behauptung, »dass der wahre Papst - nämlich Papst Pius XIII. - sich irgendwo in der Welt verstecken muss.« Traxi rettete sich allerdings mit einem weiteren Beispiel taktloser Aufrichtigkeit. Er und die anderen, sagte er, hätten um diese Zusammenkunft gebeten, »weil jeder weiß, dass die Herrin auf Windswept House die Nase voll hat von dieser neumodischen Liturgie, die dem gemeinen Volk von den Hochstaplern im Vatikan aufgeschwatzt wird«.

Es hatte weitreichendere Folgen für sie und ihre Kinder als jede andere Entscheidung, die sie je getroffen hatte, als Cessi sich auf der Stelle bereit erklärte am Aufbau einer neuen Gemeinde mitzuwirken und jegliche Unterstützung zusagte, die den Gladstones möglich war, damit bald wieder regelmäßig eine unverfälschte römische Messe von einem wirklichen römischkatholischen Priester zum Nutzen aller Gläubigen gelesen werden konnte.

Nachdem er erreicht hatte, weswegen er und seine kleine Abordnung gekommen waren, verließ Traxi Windswept House mit dem festen Entschluss die neue Gemeinde mit Leben zu füllen. Der erste Schritt - ein geeignetes und bezahlbares Kirchengebäude zu finden - war der einfachste. Eine kleine Kapelle wurde ihren methodistischen Eigentümern, die sie nicht mehr brauchten, abgekauft, renoviert und umbenannt. Sie hieß nun Kapelle des Erzengels Michael.

Mit demselben Eifer, der ihn zu Cessi Gladstone geführt hatte, ging Traxi unverzüglich daran, mit Erzbischof Marcel Lefebvre in der Schweiz Kontakt aufzunehmen. Berühmt - oder berüchtigt, was vom jeweiligen Standpunkt in der Kirchenpolitik abhing - als einer von nur vier Bischöfen in der Kirche seiner Zeit, die sich weigerten die neue Form der Messe anzuerkennen, war Lefebvre gegen die Neuerungen in der kirchlichen Liturgie und Doktrin eingetreten und hatte die Bruderschaft des heiligen Pius X. als eine Anlaufstelle und einen Prüfstein für alle traditionell gesinnten römischen Katholiken gegründet. In kürzester Zeit waren Lefebvre und seine Bruderschaft in den Mittelpunkt einer heftigen Kontroverse in einer tief gespaltenen Kirche gerückt. Weil er sich darüber im Klaren war, dass nicht einmal der Status der Gladstones in Rom ausreichte, um die kanonische Gültigkeit zu sichern, die für die neue Kapelle lebenswichtig war, oder um sie vor Vertretern der örtlichen Diözese zu schützen, die einer solchen traditionalistischen Gemeinde sicherlich Schwierigkeiten bereiten würden, wünschte Traxi sich von Erzbischof Lefebvre zweierlei: Er wollte die Michaelskapelle unter den Schirm der Bruderschaft Pius' X. stellen und hoffte, dass die Gesellschaft einen gültig ordinierten, strenggläubigen Priester für den regelmäßigen Gottesdienst in der Kapelle abstellen würde.

Lefebvre erfüllte Traxi zumindest einen der beiden Wünsche: Er nahm die neue Kapelle gern in seine Bruderschaft auf. Und obwohl es ihm nicht möglich gewesen war, Traxis zweiten Wunsch zu erfüllen, konnte er immerhin einen höchst bemerkenswerten Kleriker für diesen Posten empfehlen.

 

Trotz des Schocks, den alle beim ersten Anblick seines schwer vernarbten Gesichts empfanden, war das Erstaunlichste an Pater Angelo Gutmacher die Sicherheit, mit der er kirchliche Orthodoxie mit seiner priesterlichen Güte und Weisheit verband.

Als Flüchtling aus dem kommunistischen Ostdeutschland war Gutmacher der einzige Angehörige seiner Familie gewesen, der einen nächtlichen Brandanschlag auf ihr Haus in Leipzig überlebte. Ihr unerschütterlicher Katholizismus und ihr unversöhnlicher Widerstand gegen das kommunistische Regime hatten die Gutmachers zum Ziel eines Vergeltungsschlages durch die ostdeutsche Geheimpolizei gemacht. Dank der Fürsorge einiger weniger tapferer Freunde erholte der lunge sich von den schrecklichen Verbrennungen im Gesicht und am Körper und einige Zeit später gelang ihm die Flucht nach Westdeutschland. Nach einigen Jahren im Haus betagter Verwandter hatte er das Erwachsenenalter erreicht, woraufhin er einem Seminar beitrat das sich immer fest gegen den Strom bizarrer und unorthodoxer Curricula stellte, wie sie in vielen Seminaren rund um den Globus eingeführt worden waren.

Nach seiner Ordination schickte Gutmacher einen förmlichen Brief nach Rom und bat um einen Posten unter der Ägide der Klerikerkongregation; er rechnete fest damit, wahrscheinlich irgendwo nach Südamerika oder nach Indonesien geschickt zu werden. Er reiste nach Rom um seine Sache vorzubringen.

Als Gutmacher in Rom eintraf, war sein Dossier bereits dem Papst mit der Anmerkung vorgelegt worden, es könne lohnend sein, einen so loyalen Papstanhänger und orthodoxen Priester gewissermaßen auf Dauer nach Amerika zu entsenden. Es wäre zumindest eine Garantie dafür, dass der Pontifex und die Klerikerkongregation über die dortigen Entwicklungen auf dem Laufenden blieben.

Als/Pater Gutmacher seine seltsame Mission in Amerika antrat, sicherten ihm seine engen Kontakte zum Heiligen Stuhl eine gewisse Immunität gegenüber Scharen von unfreundlichen Diözesanbeamten. Es gelang ihm, sich durchs Land zu arbeiten, indem er für abwesende oder beurlaubte Priester in vielen unterbesetzten Gemeinden einsprang. Bis 1970, während seine Abenteuer ihn bis nach Houston führten, hatte Pater Angelo so die schlechtesten ebenso wie die besten Seiten des postkonziliaren Katholizismus, wie er in den Vereinigten Staaten praktiziert wurde, kennen gelernt. Auf seinem Weg und ohne dass er es beabsichtigt hatte, war er der Bruderschaft Pius' X. positiv aufgefallen. Es war daher ganz selbstverständlich, dass Erzbischof Lefebvre ihn an Traxi Le Voisin weiterempfohlen hatte.

Und so kam es, dass Pater Angelo der Michaelsgemeinde inzwischen seit nahezu zweiundzwanzig Jahren als Priester und Seelsorger diente. In dieser ganzen Zeit war er so freundlich, so weise, priesterlich und orthodox geblieben, dass er nicht nur Traxi Le Voisins Exzesse im Zaum hielt, sondern es außerdem fertig brachte, die Michaelsgemeinde aus den schlimmsten Kontroversen herauszuhalten, die sich wie eine liturgische Seuche in der ganzen Kirche ausbreiteten. Auch war es Pater Angelo in vielerlei Hinsicht gelungen, einen Teil der Lücke auszufüllen, die Declan Gladstones Tod im Leben seiner Tochter und seiner drei Enkel unbestreitbar hinterlassen hatte. Doch Pater Gutmacher blieb auch allen anderen einen Freund; und wie beständig er selbst als Persönlichkeit auch sein mochte, hatte er das unheimliche Talent in die Herzen von Menschen zu schauen, auch wenn sie sich grundlegend voneinander unterscheiden mochten.

Man nehme die drei Kinder der Gladstones. Die beiden Jungen hatten abwechselnd als Ministranten in Pater Angelos Messen gedient, sowohl in Danbury wie auf Windswept House. Doch Cessi und Tricia waren sich einig in ihrer Erinnerung, dass Christian spontan die größere Zuneigung zu Pater Angelo gefasst hatte. Aus Christians Sicht nahm Gutmacher bald eine besondere Stellung ein. Er kam aus einer völlig anderen Welt, nämlich aus dem »Reich des Bösen«, dem Einflussbereich der Sowjetunion. Er war sanftmütig, doch ohne Zweifel tapfer; und Gutmachers persönliche Hingabe, wenn er die Messe las, erfüllte Christian im tiefsten Innern mit Ehrfurcht.

Diese Wertschätzung war nicht ganz einseitig: Gutmacher glaubte in dem jungen Teenager eine besondere moralische Qualität zu erkennen. Zwar hatte niemand Anlass Christian für ein braves Muttersöhnchen zu halten; er stellte denselben kindlichen Unfug an wie seine Altersgenossen. Doch sein Verhalten blieb immer von gewissen moralischen Neigungen geprägt. Darauf, erkannt Gutmacher, ließ sich ein ehrfürchtiges Interesse am Priesteramt aufbauen. Und nach einiger Zeit erzählte Christian jedem, dass er für das Priesteramt studieren wolle.

Zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte der Kirche wäre Cessi außer sich vor Freude gewesen, dass einer ihrer Söhne sich für den Priesterberuf entschieden hatte. Unter den gegebenen Umständen musste sie Pater Angelo jedoch gestehen, dass sie befürchte, die Ausbildung zum Priester könne ihren ältesten Sohn in gefährlich engen Kontakt mit »diesen schwarzen Käfern« bringen, »die unsere Seminare durchwühlen, als seien es Misthaufen«. Aber Pater Angelos Antwort war immer dieselbe. Die einzige wahre Lösung für Cessis Problem, beharrte er, bestünde nicht darin, gute Männer wie Christian von einem Dienst an der Kirche abzuhalten, sondern einfach, wie es Gutmacher selbst getan hatte, nach dem richtigen Seminar zu suchen.

Zu Cessis Überraschung hatte Gutmacher sogar angedeutet, dass sie mehr Grund habe sich um Paul als um Christian Sorgen zu machen. Es hatte nicht lang gedauert, bis dieser ungewöhnliche Priester den unnachgiebigen, störrischen Zug in Pauls Charakter erkannte und befürchten musste, dass eine solche Eigenart seinen Glauben stärker unterhöhlen könnte, als es bei Christian möglich war. Im Moment stand allerdings Christians Entscheidung sich zum Priester ausbilden zu lassen im Vordergrund.

Als die Entscheidung ihres Sohnes erst einmal feststand, war es nicht mehr nötig, dass Pater Gutmacher Cessi den richtigen Weg wies. Sie bat alle um Hilfe, auf die sie zurückgreifen konnte, um jene Seminare auszusuchen, die gegen den anschwellenden Strom liturgischer und dogmatischer Neuerungen an der wahren Lehre festhielten. Am Ende stimmte Chris zu, dass Navarra im Norden Spaniens die beste Wahl unter einem spärlichen Rest sei, und freute sich, als seine Mutter sämtliche bürokratischen Hindernisse überwunden hatte, damit er dort als Kandidat für die Priesterausbildung angenommen wurde.

In den frühen Achtzigerjahren, als Chris vor der Priesterweihe stand, waren aber selbst die spanischen Bischöfe in Cessis Augen verdächtig geworden. Sie wollte sicher sein, dass Christians Ordination gültig war. Sie stattete daher einen aufschlussreichen Besuch in Ecöne in der Schweiz ab, woLrzbischof Lefebvre ihr den Namen des Bischofs von Santa Fe in Argentinien nannte. Sie vergewisserte sich persönlich, dass er ihr einen guten Rat gegeben hatte, und arrangierte mit dem Bischof von Santa Fe Christians Priesterweihe.

Cessi war sich unschlüssig über Christians Wunsch seine Doktorarbeit in Rom zu beenden. Sie befürchtete - damals wie heute -, dass Christian unter den Einfluss der dortigen klerikalen Bürokratie geraten und vom rechten Weg abkommen könnte. Andererseits kam sie beim besten Willen nicht gegen Christians Wunsch an, den Rector Magnificus der Dominikaneruniversität im Angelicum als seinen Doktorvater und Prüfer zu gewinnen. In der kirchlichen Wüste der frühen Achtzigerjahre genoss Pater Damien Slattery weit über die Grenzen des Vatikans hinaus einen Ruf als erstklassiger Theologe und seine Loyalität zum Heiligen Stuhl hatte ihm längst mehr Feinde als Freunde eingebracht.

Christian aber war allerdings noch nicht lange in Navarra, da begann sich Pater Angelos Sorge um Pauls spirituelles Wohlergehen zu bestätigen.

 

Unglücklicherweise entwickelten sich die Dinge für Paul Gladstone so, wie Pater Gutmacher befürchtet hatte. Zu Cessis endlichem Kummer war sein Fall weit typischer als der seines Bruders. In nur achtzehn Monaten - der Zeit, die er im Unterseminar von New Orleans verbrachte - wurde Paul zu dem, was in den Siebzigern aus vielen wohlmeinenden, doch führungslosen römischen Katholiken geworden war: ein Opfer von Umständen, auf die er keinen wirklichen Einfluss hatte.

Er war weitgehend vor den jähen und destruktiven Neuerungen in der Kirche beschützt worden. Der Sturm der Veränderung, so mächtig er auch war, traf nicht jeden auf der Stelle. Es war eine Entwicklung, die von der Gesamtheit des römisch-katholischen Systems getragen wurde - auf Gemeindeebene, auf Diözesenebene, auf nationaler und regionaler Ebene und letztlich auf römischer Ebene. Es war ein bewusst und willentlich herbeigeführter Vorgang, der die Liquidierung der traditionellen kirchlichen Struktur zum Ziel hatte. Und er hatte Erfolg.

Paul trat 1972 dem Unterseminar der Diözese von New Orleans bei. Während seines ersten Semesters wurden er und seine Studienkollegen aufgefordert ihre Priestersoutanen abzulegen und normale Straßenkleidung zu tragen. Sie brauchten für ihre Studien kein Latein mehr zu beherrschen. Sie wurden von der Mehrheit ihrer Professoren offen dazu ermuntert, sich ihre eigenen Gedanken über vormals sakrosankte und fundamentale Lehrinhalte zu machen: über die Existenz Gottes, über die Heiligkeit Jesu, über die Gegenwart Christi im Heiligen Sakrament, über die Autorität des Papstes, über das ganze Gebäude des römisch-katholischen Glaubens und Rechts.

Außerhalb des Hörsaals wurden die Seminaristen ermutigt, ihre Erfahrungen zu erweitern, indem sie sich mit Frauen verabredeten. Gleichzeitig fanden viele unter ihnen nichts dabei, homosexuelle Beziehungen miteinander einzugehen, weil man ihnen sagte, dass eine positive Einstellung zur Homosexualität sie »seelsorgerisch sensibler« mache.

Im Zuge der Umwandlung der alten Kirche in das Haus der ökumenischen Winde erlebte Paul, wie im Seminar alles Vertraute in Vergessenheit geriet. Seminaristen waren nicht mehr verpflichtet zum Morgengebet oder zur täglichen Messe zu erscheinen. Aber jene, die wie Paul nicht darauf verzichten wollten, mussten feststellen, dass selbst in der Seminarkapelle ein gemeinsamer Tisch den Altar ersetzt hatte. Statuen, Kreuzwegstationen, Bänke, Mosaiken - selbst der Tabernakel, Altareitter und Kruzifixe - waren nirgendwo zu finden. Beichtstühle, die man noch nicht abgebaut hatte, wurden selten mit einem Pfarrer besetzt, dienten eher dem Hausmeister zum Verstauen seiner Putzmittelvorräte. Natürlich wurden ständig die Sünden der Gesellschaft und der Menschheit beklagt; von persönlichen Sünden sprach niemand.

Seminaristen und die Öffentlichkeit wurden gleichermaßen zu den neuen Zeremonien von einem Priester in Jeans und T-Shirt - und vielleicht einer Stola oder einem Schultervelum - begrüßt, der die Veranstaltung mit einem herzlichen »Guten Morgen zusammen!« eröffnete.

Die Seminaristen wurden aufgefordert Vorbilder als freie Menschen und Kinder Gottes zu sein. Sie durften sitzen oder stehen, wie es ihnen beliebte, aber sie sollten nicht knien. »Liturgische« Tänzerinnen in ärmellosen Trikots wurden von Kirchenmusik begleitet, die man auf Gitarren, Banjos, Ukulelen, Tamburinen und Kastagnetten spielte.

Im Laufe der Monate wurde Paul Zeuge, wie sich die liturgischen Zusammenkünfte in etwas verwandelten, was an das »königliche Gelage« oder den Großen Potlach der Kawkiutl-Indianer im Nordwesten Amerikas erinnerte, bei dem der Häuptling einen Großteil seiner Reichtümer verschenkt um immer mehr Gäste anzuziehen und zu beeindrucken, bis ihm Mn Ende nichts mehr bleibt als sein Status und sein Ansehen als »der große Schenker«. In diesen Zusammenkünften waren beliebige Elemente aus anderen Religionen auf gleichberechtigter Grundlage zugelassen. Paul wurde mit einem Wirrwarr aus buddhistischer Meditation, taoistischem Dualismus, Sufi-Gebeten, tibetischen Gebetsmühlen, nordamerikanischer Indianermythologie, altgriechischen Göttern und Göttinnen, Hardrock- und Heavymetal-Musik, hinduistischen Anbetungen Shivas und Kalis und Kultriten für die alten Erdgöttinnen Gala und Sophia zugesetzt.

Paul Gladstone fand all das gemessen am wahren katholischen Glauben widersprüchlich, heuchlerisch und letztlich zerstörerisch. Soweit er feststellen konnte, nahmen die meisten Katholiken es als ein Bemühen um die völlige Demokratisierung der traditionellen römisch-katholischen Religion hin. Wohin er sich wandte, im Mittelpunkt der katholischen Kirchen standen nun der »Abendmahltisch« und »das Volk Gottes«, das sich um ihn versammelt hatte um seine Freiheit mit einem Gelage zu feiern.

Am Ende musste Paul Gladstone für seine kurze Berührung mit der »konziliaren Kirche« einen bitteren Preis zahlen. Nicht mehr imstande die unzüchtige, zügellose Atmosphäre in dem einst geordneten Seminar zu ertragen, erklärte er dem Rektor eines Morgens seinen Austritt mit solch offenen Worten, dass selbst Cessi Mühe gehabt hätte mitzuhalten. »Ich werde hier nicht im Entferntesten zu einem opferbereiten Priester ausgebildet, der den Sündern vergeben kann.« Pauls Augen glühten förmlich. »Wenn ich bleibe, werde ich zu einem abgerissenen Schenker nutzlosen Tands im großen Potlach der amerikanischen Katholiken.«

 

Cessi erfuhr vom Entschluss ihres Sohnes das Seminar zu verlassen erst an dem Tag, als Paul mit Sack und Pack vor den Toren von Windswept House stand. Erst da wurde sie drastisch und mit offenen Worten, wie sie sie schätzte, darüber aufgeklärt, in welche Jauchegrube von Verderbtheit und Unglauben ihr Sohn für anderthalb Jahre abgetaucht war. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus New Orleans entschied Paul, sich unverzüglich für den Rest des Semesters in der Universität von Austin einzuschreiben um im Folgesemester ein Studium in Harvard zu beginnen - was ihm gelang. Es war keine Frage, dass Paul in Harvard zum Akademiker wurde. Oder dass diese Universität alle in ihm verbliebenen Bande zur alten katholischen Kirche und viele der Bande - von seiner beständigen Liebe abgesehen - zu seiner Familie kappte. Er war reif für das grundlegende Prinzip jedes Harvard-Intellektuellen: den so genannten Kartesianismus. Nur klare Ideen entsprachen der Wahrheit.

Die klarste Idee an Pauls Horizont war die einer einigen Welt, einer internationalen Annäherung aller Nationen bis hin zu einem Superstaat. Er konzentrierte seine Karriere daher auf das Gebiet der internationalen Beziehungen und auf einen harten, zielstrebigen Studienverlauf, der ihn an die Spitze der Fachwelt führen sollte. Nach einer brillanten und kometenhaften Karriere an der juristischen Fakultät von Harvard erlangte Paul die Doktorwürde auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen und gleichzeitig einen Magistergrad in Betriebswirtschaft. Jede Sommerferien verbrachte er mit Studien der Sprachen, von denen er annahm, dass sie ihm für seine Wunschkarriere am nützlichsten sein würden. Er bewies ein geradezu unheimliches Talent sich neue Sprachen anzueignen. Als seine plastische Anpassungsfähigkeit von Ohr und Gaumen nachließen und seine erstaunliche Begabung sich auf ein Normalmaß reduzierte, hatte er bereits in Moskau Russisch und in Taiwan und Peking Mandarin-Chinesisch gelernt. Er hatte sein Deutsch, Französisch und Italienisch auf dem Kontinent vervollkommnet. Und er hatte in Kairo Arabisch gelernt.

Im relativ jungen Alter von sechsundzwanzig - ungefähr zur selben Zeit, als Christian ordiniert wurde und seinen ersten Posten im Angelicum in Rom antrat - hatte Paul nicht nur seine Studien abgeschlossen, sondern war als aufgehender Stern von Cyrus Benthoeks transnationaler Anwaltskanzlei verpflichtet worden. Von Anfang an für die Hauptgeschäftsstelle der Firma in London vorgesehen, kam er nur gelegentlich für einen kurzen Urlaub heim nach Galveston. Aber es fanden einfach zu viele komplizierte und manchmal heftige Diskussionen zwischen Mutter und Sohn statt; und beide waren geradezu brutal ehrlich zueinander.

Trotz seiner Fähigkeiten war Paul seiner Mutter nie gewachsen, wenn es zu Diskussionen über die klaren und genauen dogmatischen Positionen des Katholizismus kam. Die Unversöhnlichkeit erreichte jedoch erst dann auf beiden Seiten ihren Höhepunkt, als Paul aus besonderem Anlass von London herüberflog und Cessi über seine geplante Heirat mit einer chinesischen Konfuzianistin namens Yusai Kiang unterrichtete. Es stimmte durchaus, dass Paul alles gemäß der Heiligen Schrift arrangiert hatte. Er hatte einen außerordentlichen kirchlichen Dispens vom Vatikan erbeten und erhalten um seine geliebte Yusai in einem katholischen Zeremoniell ehelichen zu können. Und Yusai hatte sich mit Freuden bereit erklärt ihr Leben mit Paul in Übereinstimmung mit dem römisch-katholischen Eherecht zu führen.

Dennoch konnte Cessi sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr Sohn »eine chinesische Konfuzianistin mit buddhistischen Tendenzen« heiraten wollte. Der alte Leitspruch »Kein Pardon!« stand nun zwischen Mutter und Sohn. Paul hatte Yusai nicht aufgegeben. Und Cessi hatte der Trauung in Paris nicht beigewohnt.

Nach einem kurzen Gebet vor dem Tabernakel der Turmkapelle, wo das heilige Sakrament verwahrt wurde, küsste Cessi den Altarstein. Dann nahm sie ein kleines Silberdiadem von einem Seitentisch, setzte es auf den Kopf der Statue, die die Madonna von Fatima darstellte, und begann dann mit einem langsamen, von Gebeten erfüllten Rundgang durch die Kapelle. Den Rosenkranz um die Finger gewickelt wechselte sie ein paar offene Worte mit einigen von Gottes liebsten Geschöpfen. Weil ihre Vorahnungen sich diesmal auf ihre Familie richteten, richtete auch Cessi ihre Gebete auf ihre drei Kinder. Während der nächsten Stunde waren die einzigen Laute außer Cessis Gebeten - die einzigen Laute aus der äußeren Welt - das Sausen des Windes, der vom Golf herüberwehte.

 

So auf die Sekunde genau, dass man meinen konnte, der Himmel habe sie zu einer Fortsetzung ihres Gesprächs gebeten, rief Paul in dem Augenblick aus London an, als Cessi die Wendeltreppe aus der Kapelle herabgestiegen war. Doch die Neuigkeiten, die ihr mitgeteilt wurden, waren alles andere als himmlisch.

»Ich bin untröstlich.« Paul hörte sich nicht so an. »Yusai und ich haben uns so darauf gefreut, mit Declan mal wieder Windswept House zu besuchen. Und einige Tage mit dir und Chris und Tricia zu verbringen. Doch der Chef persönlich hat mich gebeten, in der Nähe der Hauptgeschäftsstelle zu bleiben ...«

»Der Chef?« Cessi wusste, wen Paul meinte. Aber sie musste ihn bremsen. Sie brauchte Zeit um zu begreifen, dass er nicht nach Hause kommen würde. Zeit um darin eine natürliche Folge des Jahres 1960 zu sehen - als das erwartete Ereignis, das nicht eintreten würde, als der Auslöser alles anderen - was immer das sein mochte.

»Cyrus Benthoek, Mutter. Es sieht so aus, als sei ich für den Posten eines Generalsekretärs bei der Europäischen Gemeinschaft in die engere Wahl gezogen worden. Kannst du das glauben?«

Cessi wünschte, sie könne Pauls Aufregung über die jüngste Trumpfkarte teilen, die er gezogen hatte. Wie sie doch wünschte, sie könne sich über sein Glück freuen. »Ja, Paul«, war alles, was sie hervorbrachte. »Ich kann es glauben.«

»Ich werd's wieder gutmachen, Mutter.« Paul hörte die Enttäuschung in der Stimme seiner Mutter.

»Natürlich, Liebling.« Cessi hob den Blick und sah Tricia durch ihre Ateliertür hereinlugen. »Sag mir, Liebling. Wie geht's meinem kleinen Declan?«

»Er ist ein fünfjähriger Wunderknabe! Ich kann's kaum abwarten, bis du ihn wieder siehst. Er und Yusai warten auf mich in unserem Haus in Irland. Ich selbst werde dort in einigen Stunden eintreffen. Ich werde beiden einen dicken Kuss von dir geben.«

Cessis Augen waren tränennass, aber sie sprach weiter mit klarer und fester Stimme. »Ja, mein Schatz. Gib ihnen beiden einen dicken Kuss von mir. Und behalte einen für dich.«

»Ich werd's wieder gutmachen, Mutter«, wiederholte Paul.

»Das weiß ich doch, Liebling«, sagte Cessi.

 

 

XXII

Inmitten der finstersten Nacht, an die er sich erinnern konnte, schritt Christian Gladstone auf den Petersdom zu. Pater Aldo Carnesecca, der ihn begleitete, deutete auf den schattigen Klotz des Papstpalastes. Auf den dritten Stock. Auf das letzte Fenster zur Rechten. Auf das bunte Glasfenster mit der Darstellung zweier weißer Säulen, die aus dunklen Wassern emporzuragen schienen, und dem Bug eines kleinen Bootes, welches hindurchzusteuern versuchte. Er hörte den Klang von Stimmen. Das Rauschen des starken Windes. Dann ein römisches Taxi, das von nirgendwo herannahte, seine Hupe heulen ließ und Cessi jyiit Pater Damien Slattery über die Via della Concilliazone trug. Chris jagte hinter dem Taxi her, fort vom Petersplatz, fort von Carnesecca. Aber auch Carnesecca lief, hielt Schritt, deutete weiter auf dieses bunte Fenster, wo Damien Slatterys cappa magna sich plötzlich wie ein Segel bauschte. Dann fing alles wieder von vorne an ... Christian, der durch die Dunkelheit auf den Petersdom zuging ... Carneseccas wortlose Geste ... das bunte Fenster ... das wie irre herausschießende Taxi ... Cessi und Slattery und der Klang der Hupe ...

In Schweiß gebadet fuhr Christian im Bett hoch. Im ersten Moment glaubte er, die irrsinnige Hupe habe ihn aus dem Traum geschreckt. Doch es war nur der raue Klang von »Oakey Paul«, der Standuhr des alten Glad, die durch die stillen Zimmer von Windswept House hallte.

Christian neigte sonst nicht dazu, seinen Träumen sonderliche Beachtung zu schenken. Doch in diesem Fall verblassten, trotz des Wirbelwinds von Aktivitäten und Feierlichkeiten, die Cessi arrangiert hatte, weder die Einzelheiten des Traums noch das intensive Gefühl der Belastung, das er nach dem ersten Erwachen verspürt hatte.

Er hatte damit gerechnet, dass er nach seiner Ankunft zu Hause zunächst eine ausgiebige Diskussion mit seiner Mutter über den römischen Vorschlag, den Kardinal O'Cleary in New Orleans vorgebracht hatte, zu erwarten habe.

Darauf hatte er sich sogar gefreut. Gerade jetzt konnte ihm eine ordentliche Dosis ihrer klaren Sprache und ihres kompromisslosen Glaubens helfen, seine Gedanken zu ordnen. Es war ja nicht so, dass Jay Jay ihm einen Befehl erteilt, ihn zu frommem Gehorsam gedrängt hatte, den ganzjährigen Posten in Rom anzutreten. In welche Schwierigkeiten Jay Jay sich auch hineinmanövriert haben mochte, das kanonische Recht verpflichtete einen Priester keineswegs seinem Kardinal aus der Klemme zu helfen.

Außerdem hatte Christian das deutliche Gefühl, er sei seiner Mutter etwas schuldig. Sie hatte ihren drei Kindern ihre ganze erstaunliche Energie und Begabung gewidmet. Deshalb waren die Rollen jetzt zweifellos vertauscht. Nun schuldeten die Kinder ihr etwas. Welche Gegenleistung hatte Christian zu erwarten, wenn er es zuließ, dass man ihn in eine vatikanische Karriere drängte?

Solchen Überlegungen standen allerdings einige ernsthafte Gründe entgegen, weshalb Chris Kardinal O'Clearys Vorschlag zumindest in Erwägung zog. Einer der wichtigsten war Aldo Carneseccas beharrliches Argument, dass Rom nicht aller guter Priester verlustig gehen durfte. Es war eine ernüchternde Tatsache, dass man ihn in die Stadt der Päpste berufen hatte. Vielleicht verdankte er diese Berufung dem unscheinbaren John O'Cleary; aber Jay Jay war immerhin ein Kardinal und Gott hatte Seinem Willen schon viele Male auf unterschiedliche Weise Ausdruck verliehen. In Anbetracht dessen musste Chris sogar seine vorgeblich edlen Motive für seine Heimkehr infrage stellen. War es nicht, wenn er bei der Wahrheit blieb, einfach nur angenehm, wieder in den Staaten zu sein?

Das Seltsame war nur, dass Cessi zwar bei der bloßen Erwähnung Roms förmlich explodiert war, als er aus New Orleans angerufen hatte, hier in Galveston aber nicht gleich nachhakte. Anfangs schrieb Christian das ungewöhnliche Schweigen seiner Mutter in einer so wichtigen Angelegenheit den unermüdlichen Vorbereitungen zu, die sie für das Familientreffen in Gang gesetzt hatte. Im Laufe der Zeit aber erkannte Christian, dass die Umstände viel nachdrücklicher für Cessis Einstellung sprachen, als es ihr selbst möglich gewesen wäre. Denn so sorgfältig sie auch alles geplant hatte, selbst Cessi Gladstone hätte die Dinge nicht perfekter arrangieren können, dass sie Chris die unendlich vielen Gründe vor Augen führten, warum er Rom besser für immer den Rücken kehrte und ein wirklich nützliches Apostolat dort annahm, wo er hingehörte.

 

Seit sich Anfang Mai herumgesprochen hatte, dass Francesca Gladstone eine besondere Willkommensfeier für ihre beiden Söhne vorbereitete, hatte eine seltsam neugierige Unruhe die Menschen von Galveston erfasst; eine Unruhe, die sich vor allem um die bevorstehende Rückkehr Pater Christian Gladstones nach Windswept House drehte. Eine Unruhe, die manchmal aufwallte, als würde sie von einer tiefen, unerkannten Strömung gespeist und emporgetrieben. So verbrachte Beulah Thompson von Christians erstem Tag zu Hause bis zum Tag vor seiner Abreise so viel Zeit damit, Telefongespräche entgegenzunehmen oder Besuchern die Tür zu öffnen, dass es einem Wunder gleichkam, wie sie ihre Arbeiten bewältigte.

Chris versuchte so vielen Bittstellern zur Verfügung zu stehen, wie es ihm überhaupt möglich war. Er verbrachte den Großteil jedes Morgens mit Beichten und Seelsorge. Einige Erdgeschosszimmer im hinteren Teil des Hauses mussten für die zahllosen Gäste hergerichtet werden, die vorher anriefen oder unangemeldet zur althergebrachten Beichte oder um einen profunden theologischen Rat erschienen. Doch selbst mit der Hilfe Angelo Gutmachers - denn Pater Angelo war für die Dauer von Christians Aufenthalt in Galveston der häufigste und beliebteste Gast auf Windswept House - war es Christian unmöglich, jeden zu empfangen, der ihn sehen wollte.

Bei all der Aufmerksamkeit, die ihm so urplötzlich abverlangt wurde, zeigte Chris sich nicht für eine Sekunde hochmütig. Das Ganze machte ihn eher traurig. Denn in jedem Fall, ob er nun mit Männern oder Frauen, Reichen oder Armen, Arbeitern Anwälten oder Taxifahrern, Müttern oder Vätern oder den Fischern zu tun hatte, die sich bei schlechtem Wetter zuweilen an den Lichtern der Turmkapelle von Windswept House orientierten, war es dasselbe. Sie alle hungerten nach Führung, Klarheit, Glaube und Hoffnung.

Die Misere dieser Menschen verhalf Christian unvermittelt zu einer neuen Einsicht. Er begriff so deutlich wie nie zuvor, dass die Leere, die diese Menschen in ihrem alltäglichen Leben empfanden, von Millionen Menschen überall auf der Welt empfunden wurde. Wenn sie die Kirchen aufsuchten - falls sie sie noch aufsuchten -, wurde ihnen eine Kost aus Freud für ihren persönlichen Kummer, Piaget für ihre Probleme mit ihren Kindern, Marx für ihre soziale Unzufriedenheit und der heimtückisch subjektiven und zunehmend populäreren Gruppentherapie als die neue Religion aufgetischt, die sie in Berührung mit ihrem »inneren Selbst« bringen sollte.

Mitte der zweiten Woche seines Heimaturlaubs veranstaltete Cessi ein Festessen als Krönung von Christians Aufenthalt. Seine Eminenz Kardinal O'Cleary machte sich durch seine Abwesenheit verdächtig. Chris beeindruckte am meisten, wie entspannt sich die vielen Kleriker gaben, die Cessi eingeladen hatte um ihren Sohn kennen zu lernen und wieder zu sehen. Sie alle waren über die Maßen neugierig, »wie Rom die großen Themen anpacken« würde, wie es ein junger Hilfsbischof ausdrückte. Und weil Christian sich häufig in Rom, also gewissermaßen in Reichweite des Papstes aufhielt, rückte er in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.

Doch weil er die Stimmung spürte, die hinter den Fragen stand, beschloss er die offenbar latente Abneigung gegen den Pontifex herauszufordern. »Sie alle sind Seelsorger.« Er sah in die Runde am Tisch. »Sie stehen an der Front. Ich arbeite in einem Elfenbeinturm. Also sagen Sie mir eines. Was könnte dieser Heilige Vater zum Wohl der Kirche unternehmen?«

Mit Rücksicht auf Cessi Gladstones Anwesenheit wurde die fülle von Vorschlägen mit frömmelnder Besorgnis vorgetragen. Aber die Stoßrichtung war klar. Der Pontifex hatte ein furchtbares Durcheinander angerichtet. Es bestand Bedarf nach einem Papst, der vernünftig denken konnte; einem Papst, der eine positivere Haltung zu solchen Fragen wie Ehelosigkeit der Priester, einer ausschließlich männlichen Priesterschaft, Verhütung und Abtreibung einnehmen würde; einem Papst, der mit dem Strom schwimmen konnte. Vielleicht war die Zeit sogar reif, dass dieser Papvst zurücktrat um einem fähigeren Nachfolger Platz zu machen.

Als die Aufregung sich legte, hatte Christian selbst einen ernsten Vorschlag zu machen. »Ich stehe nicht direkt mit dem Heiligen Vater in Kontakt; ich habe keine Möglichkeit ihm Ihre Vorschläge zu überbringen. Aber da Sie offensichtlich Probleme haben, warum nehmen Sie sich der Sache nicht selbst an? Warum schreiben Sie ihm nicht? Einzeln oder als Gruppe, warum nicht ...«

»Ganz unter uns und dem Heiligen Geist, Pater Chris«, meldete der junge Hilfsbischof sich wieder zu Wort, »es gibt drüben einige geschickte und intelligente Kirchenleute, denen der Heilige Vater sein Ohr leiht. Sie werden ihn dazu bewegen, das Richtige zu tun. Wir müssen einfach nur seinen Rücktritt abwarten.«

Christian sah in Cessis grünen Augen Zorn aufblitzen. Aber sie sagte noch nichts. Zu seiner völligen Verblüffung hielt sie den Mund.

 

Am Tag vor seiner Abreise stand Christian schon um vier Uhr morgens auf. Eine Viertelstunde später begab er sich, geduscht, rasiert und angekleidet, durch den Korridor im dritten Geschoss und über die Wendeltreppe in Glads Turmkapelle. Gegen halb sechs würde Pater Gutmacher nachkommen, wie er es an jedem Morgen seines Besuchs getan hatte, um ihm bei der Messe zu assistieren; auch Cessi und Tricia würden kommen. Aber wie seine Mutter regelmäßig zu einer bestimmten Zeit in die Kapelle kam, die jeder als »Cessis Stunde« kannte, hatte diese stille Zeit sich zu Christians Stunde entwickelt. Eine Zeit, in der er sein Brevier, seinen Rosenkranz und seine Morgengebete sprechen konnte. Eine Zeit, in der er erneut alle Argumente abwägen konnte, die einerseits für ein Verlassen Roms und andererseits für eine endgültige Rückkehr nach Rom sprachen.

Und während dieser Morgenstunden in der Kapelle schien sich auch die herzliche Zuneigung, die Christian schon immer für seinen Lieblingsahnen empfunden hatte, zu erneuern. Er konnte gar nicht anders, als immer wieder aufs Neue Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit für jenen Mann zu empfinden, der dieses Haus und damit die Zuflucht, die es heute darstellte, geschaffen hatte.

Und als erwidere er einen Segen, schien der Geist dieses alten Patriarchen die süßen Augenblicke zu erfüllen, die Chris allein, in seine Erinnerungen vertieft, in der Kapelle zubrachte: Windswept House schien dann fast wieder das Haus zu sein, an das er sich aus seiner Kindheit erinnerte.

 

»Verzeihen Sie mir, alter Freund.«

Aufgeschreckt von den sanften Worten blickte Christian von seinen Gebeten auf und in die schrecklichen Narben in Angelo Gutmachers Gesicht.

»Verzeihen Sie mir. Ich weiß, ich bin zu früh. Aber ich dachte mir, wir könnten vor der Messe etwas Zeit miteinander verbringen. Bevor Sie nach Rom zurückkehren ...«

Nun war Chris so verwirrt, dass er den älteren Priester mitten im Satz unterbrach und sich aus seiner knienden Haltung aufrichtete. »Sie können mich gar nicht stören, Pater.« Der Satz war nicht nur eine höfliche Floskel. Christian betrachtete diesen Mann im buchstäblichsten Sinne als von Gott gesandt, als einen seltsamen und wunderbaren Freund, den Gott selbst zu beschützen und dessen Schritte Er im priesterlichen Dienst zu lenken schien. Christian deutete auf eine kleine Gruppe von Schemeln unweit der Tür und mit einem Lächeln, so sanft wie seine Stimme, setzte Gutmacher sich neben seinen langbeinigen jungen Protegé.

»Ich nehme an, Mutter hat Ihnen von meinem Anruf erzählt. Aber sie muss Ihnen auch gesagt haben, dass noch nichts entschieden ist. Ob ich nach Rom gehe, meine ich.« Chris klang wie ein Mann, der seine Unabhängigkeit verteidigte. »Ich habe versucht, das klarzustellen. Ich will die ganze Sache erst einmal mit ihr besprechen. Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Sie hat es nicht genau so ausgedrückt.« Gutmacher schien seine Worte vorsichtig abzuwägen. »Sie hatte nur eine aufrichtige Frage. Sie wollte wissen, ob es Gottes Wille sein kann, dass Sie Ihr Leben in der Gesellschaft von Menschen verbringen, die ihre Fundamente vergessen haben.«

Christian überraschte es, dass Cessi sich immerhin so weit der Möglichkeit seines dauerhaften Umzugs nach Rom geöffnet hatte. Trotzdem war es noch ein gewaltiger Schritt von einer solchen Frage hin zur offenen Annahme, dass Chris dem Plan Kardinal O'Clearys zustimmen würde. Wenn er sich nicht irrte, hatte Pater Angelo aber genau das im Sinn. »Sagen Sie mir, I ater Angelo, was haben Sie meiner Mutter geantwortet?«

»Dasselbe, was Sie an meiner Stelle geantwortet hätten, mein Freund.« Gutmachers Lächeln verwirrte ihn. »So aufrichtig und so vollständig wie ich konnte. Ich habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass man diesen Augenblick schon lange Zeit kommen sehen konnte und dass er eine Zeit wichtiger Entscheidungen über die Zukunft - und nicht nur Ihre Zukunft - für uns alle sei.« Man habe diesen Augenblick schon lange Zeit kommen sehen können? Eine seltsame Bemerkung, dachte Christian. Die ganze Haltung seiner Freundes kam ihm merkwürdig vor. »Sonst noch etwas?«

»Ich sagte ihr, ich teile ihre Sorge um jeden guten Priester, der in diesen Tagen nach Rom berufen wird. Aber ich sagte Cessi auch, dass sie so wenig wie ich wissen könne, was Gottes Gnade zu bewirken vermag.«

In den vielen Jahren, die sie sich schon kannten, war es nie Angelos Art gewesen, sich um eine klare Aussage zu drücken. Aber Chris hatte keinen Zweifel, dass er noch nicht alles gehört habe. Als habe er die Gedanken des jungen Mannes gelesen, zog Gutmacher einen Brief aus seiner Innentasche und hielt ihn Christian hin.

Chris erkannte die Vatikanstempel auf dem Umschlag, aber das überraschte ihn nicht im Mindesten. Pater Angelos Beziehungen zur Klerikerkongregation und zum päpstlichen Haushalt waren kaum ein Geheimnis. Die Adresse des Absenders war allerdings eine andere Sache. »Kloster Santa Sabina«, las Gladstone laut die Adresse des dominikanischen Hauptsitzes vor.

»Roma 00921, Italia.«

»Lesen Sie ihn.«

Chris erkannte die Handschrift im selben Augenblick, als er das einzige Blatt aus dem Umschlag zog. Doch um sich zu vergewissern warf er einen Blick auf die großen, mit schwungvollen Strichen verzierten Initialen, die ihm so vertraut waren. DDS, OP. »Damien Slattery ?« Es war mehr ein Ausruf als eine Frage.

Weil von Gutmacher keine Antwort kam, gab Christian den Brief zurück. Ein einziger Absatz, gerade einmal zwei Sätze: »Eine neue Initiative Seiner Heiligkeit erfordert Ihre Anwesenheit hier Mitte Herbst. Wenn ich nicht binnen zehn Tagen nach Absenden dieses Briefes persönlich von Ihnen gehört habe, gehe ich davon aus, dass Sie keine Einwände haben.«

Weder ärgerte noch wunderte sich Christian über den gebieterischen Ton von Pater Slatterys Notiz, denn so wurden derartige Dinge in Rom nun einmal geregelt. Die Aufforderungen fielen stets deutlich und meist knapp aus und glänzten selten mit Erklärungen oder Ermunterungen. Eine Antwort blieb dem Empfänger selbst überlassen; sie erfolgte auf freiwilliger Basis. Was Christian aber empfand, waren ungewöhnlich heftige Gewissensbisse. Diesmal hatte er Grund sich zu entschuldigen. Wie hatte er nur so selbstversessen sein können? Wie hatte er nur annehmen können, dass nur seine persönliche Situation zählte? Dass Gutmacher nur gekommen war um über Christian zu reden? Dass seine Bemerkungen zur möglichen Versetzung nach Rom nur mit Christian zu tun haben konnten?

Pater Angelo nahm Christians viel sagende Antwort mit einem ebenso viel sagenden kleinen Achselzucken zur Kenntnis.

»Sie werden also gehen, Pater?« Die Frage kam Christian nur als ein Flüstern über die Lippen.

»An dem Tag, als Cessi mich aufsuchte« - Gutmacher nickte -»habe ich auch diesen Brief erhalten. Und am selben Tag habe ich meine Antwort abgeschickt. Ich werde gehen.«

Dieser Morgen nahm überraschende Wendungen. »Weiß Mutter davon? Haben Sie es ihr noch am selben Tag gesagt?«

»Sie weiß es.«

»Dann waren Ihre offenen Ratschläge, die Sie ihr in diesem Moment gegeben haben - was Sie über den Augenblick sagten, aen man so lange kommen sehen konnte, dass dies eine Zeit wichtiger Entscheidungen sei und was Gottes Gnade bewirken könne -, also eigentlich auf Sie bezogen?«

»Auch auf Sie.« Gutmacher hatte nicht vor Christian so leicht wieder vom Haken zu lassen.

Chris drückte ihm den Brief wieder in die Hand, als wolle er nichts mehr damit zu tun haben. »Für Sie sieht die Sache anders aus. Bis eben war ich, trotz all meiner Bedenken, schon halb entschlossen Kardinal O'Clearys Angebot anzunehmen.«

»Und jetzt?«

Christian versuchte sein Bestes, damit seine Antwort nicht zu brutal klang. Angelo war fast ein Mitglied der Familie, aber er verfügte nicht über dieselben Blutbande wie Christian. Er war Cessi und Tricia nicht im selben Maße verpflichtet. Er konnte ohne weiteres gehen, wenn er es für das Beste hielt. Aber von Christian konnte man kaum erwarten, dass er seiner Mutter und Tricia einen Schlag versetzte, indem er O'Clearys Angebot annahm. »Und außerdem« - Christian suchte nach einer Möglichkeit ein seinem Empfinden nach unabweisbares Argument nicht so hart klingen zu lassen - »sind Sie von einem guten Mann nach Rom berufen worden. Es gibt im Vatikan - oder vielleicht in der ganzen Welt - keinen solideren Papstanhänger mehr als Damien Slattery. Aber wenn ich Kardinal O'Clearys Hinweisen glauben darf, die er mir in New Orleans anvertraute, hat Seine Eminenz Cosimo Maestroianni etwas mit Roms plötzlichem Interesse an meiner Existenz zu schaffen. Und das ist etwas ganz anderes.«

»Tatsächlich?« Pater Angelos Stimme hatte die Wirkung eines heißen Schürhakens.

»Aber natürlich, Gutmacher! Sie erinnern sich doch gewiss an den Brief, den ich Ihnen schrieb, nachdem Kardinal Maestroianni mich letzten Mai ins Sekretariat bestellte. Dieser Mann ist aalglatt. Aber er ist kein Damien Slattery. Und kein Freund des Papstes. Ein Mann wie er verspeist wahrscheinlich jeden Tag ein Dutzend Männer wie mich zum Frühstück.« Pater Angelo stand lächelnd auf, blieb aber wachsam. »Ich widerspreche Ihnen in keinem Punkt.«

»Dann sind wir ja einer Meinung.« Christian entspannte sich etwas. »Damien Slatterys Stimme ist die Stimme Roms.«

»Ganz genau!« Pater Angelo griff diesen Gedanken dankbar auf. »Generalmeister Slattery ist die Stimme Roms. Die Stimme Roms, die um Hilfe ruft. Können Sie zögern ... ?«

»Das ist nicht dasselbe!« erwiderte Chris. »Sie können doch nicht behaupten, von einem so guten Mann wie Pater Slattery nach Rom berufen zu werden sei in irgendeiner Weise vergleichbar mit ...«

»Doch, Christian. Das behaupte ich. Ganz gleich, von wem sie kommt oder wer sie ausspricht, die Berufung ist immer gleich wichtig. Die Frage ist nicht, ob Pater Slattery oder Kardinal Maestroianni loyale Papstanhänger sind oder nicht. Die Frage ist, ob Sie es sind. Und ich kann Ihnen versichern, dass es Glauben erfordert - priesterlichen Glauben, Chris - um in dieser Berufung zu sehen, was sie ist.«

Mit einer ganz und gar unpriesterlichen Geste - die aber zu einer vollkommen ehrlichen Antwort aufforderte - trat Gutmacher einen Schritt vor und legte seine Hände auf Christians Schultern. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Pater Christian. Können Sie wirklich zögern diesem Ruf zu folgen?«

Auf einmal erinnerte sich Christian an Pater Aldo Carneseccas Prophezeiung, dass er in seiner Karriere ein Stadium erreichen würde, in dem die Entscheidungen, die er als Priester fällte, seinen weiteren Lebensweg vorzeichnen würden. »Die bürokratische Vetternwirtschaft, von der Sie sich einen Eindruck machen konnten«, hatte Pater Aldo gesagt, »bestimmt die allgemeine Strategie und jegliche Taktik in dieser globalen Schlacht des Geistes. Doch eines sollten Sie nicht übersehen: Im Mittelpunkt der Schlacht steht Rom.«

Pater Angelo verstärkte seinen Griff um die Schultern des jungen Mannes und holte ihn mit Gewalt in die Gegenwart zurück, zwang ihn zu der Entscheidung, die seine Priesterschaft in diese oder jene Richtung lenken würde. »Sagen Sie es mir.« Gutmacher sprach es langsam und bedächtig aus. »Können Sie wirklich zögern diesem Ruf zu folgen?«

 

»... es erfordert Glauben - priesterlichen Glauben, Chris - um in dieser Berufung zu sehen, was sie ist.« Cessi blieb so abrupt an der Tür zur Turmkapelle stehen, dass Tricia, die ihr folgte, fast auf sie geprallt wäre. Sie schloss die Augen vor dem Anblick von Gutmachers Gesicht und dem Klang seiner Stimme; schloss sie vor den hervorquellenden Tränen; spürte Tricias warme Hand in der plötzlichen Eisigkeit ihrer eigenen.

»Sagen Sie es mir.« Es traf Cessi wie eine kalte Dusche, als sie hörte, wie Pater Angelo ihren Sohn herausforderte. »Können Sie wirklich zögern diesem Ruf zu folgen?«

Bis jetzt hatte Cessi geglaubt, sie sei diesem Augenblick gewachsen. An dem Tag, als Chris aus New Orleans anrief, hatte sie sich um Rat und Trost an Pater Gutmacher gewandt nur um zu erfahren, dass auch er mitten in diese klerikale Verwahrlosung nach Rom abberufen worden war. An diesem Tag hatte sie die Gründe erfahren, warum er die Michaelskapelle verlassen würde. Und seitdem hatte sie gewusst, dass auch Christian diese Gründe erfahren und so darauf reagieren würde wie sie.

Mehr als eine Nacht hatte Cessi in ihrem Bett wachgelegen und sich gefragt, aus welcher Tiefe sie die Kraft zutage fördern musste, die sie brauchte, um loszulassen; ob sie wirklich eine gute Mutter, ob sie jemals mehr als eine verrückte Töpferin gewesen war, die nicht aufhören konnte ihre Kinder zu formen.

 

»Mutter!«

Cessi riss die Augen auf und sah Christian auf sich zukommen, sein Gesicht ein Ausdruck derselben Anspannung und Qual, die ihr zu schaffen machten.

»Chris.« Sie befreite ihre Hand sanft aus Tricias Griff und trat mit solcher Grazie und Beherrschung in die Kapelle, dass ihre Bewegung einem schlichten Ausruf gleichkam. Gutmacher hatte die einzige Frage gestellt, auf die es ankam. Nur Christian konnte die Antwort geben. Cessi wusste, dass sie in wenigen Minuten beim Heiligen Opfer der Messe Christi Leib und Blut aus den gesegneten Händen ihres Priestersohns empfangen würde. Bis dahin wusste sie nicht, wie weit er bereit war sich von der stillen und großen alten Bastion namens Windswept House zu entfernen.

Auch Tricias Gedanken drehten sich um Christian. Aber ebenso um Pater Angelo. Unter allen Experten, die sie kannte, hatte nur dieser Priester ihr gezeigt, wie sie mit ihrem Leiden einen nützlichen Zweck erfüllen könne. Mit seinem außerordentlichen Einfühlungsvermögen und seiner liebevollen Strenge hatte er sie die Regeln der traditionellen Askese gelehrt. Würde sie nun ihr Leiden noch weiter Gott dem Vater in Einklang mit dem Leiden Christi des Sohnes widmen können? Würde sie weiter dem Satan entgegentreten und Vergebung für die vielen Sünden erwirken können? Würde sie weiter zu den Auserwählten gehören, die sich durch alle Zeiten hindurch als Opfer dargeboten hatten, Hand in Hand mit dem erhabenen Opfer, das unter großen körperlichen Schmerzen am Kreuz zur Vergebung der Sünden der Menschheit erbracht worden ist?

Und auf einmal war Christian wieder von den dunklen Bildern jenes Traumes umfangen, aus dem er in seiner ersten Nacht zu Hause schweißgebadet erwacht war. Nur war es nicht mehr Pater Aldo Carnesecca, der neben ihm ging und auf den päpstlichen Palast deutete. Es war Angelo Gutmacher, der ihn zu priesterlicher Selbstverleugnung und zu dem Vertrauen anhielt, das solche Selbstverleugnung voraussetzte. Chris überlegte, wie es eigentlich um ihn bestellt sei, wenn Gutmacher ihn daran überhaupt erinnern musste. Es war der Anblick seiner Mutter, die so kühl auf seine Antwort wartete; und es waren all die Lektionen, die er von ihr über die Tiefe und den Atem und die Majestät und die Freiheit seines Glaubens gelernt hatte. Es war die allzu lebhafte Erinnerung an all die Menschen, die in ihrer Wehrlosigkeit gegen die Zumutungen durch Rom nach Windswept House gekommen waren.

Und es war das Erbe des alten Thomas Gladstone, das an diesem Ort weiterlebte. Und sicher wog dieses Erbe mehr als eine aus netten alten Erinnerungen gewobene Decke. Hatte das nicht auch Carnesecca gesagt?

Es war seltsam, dachte Chris, wie ihm immer wieder Pater Aldo in den Sinn kam. Aber so waren wohl Propheten nun einmal. Ohne je einen Fuß in dieses Haus gesetzt zu haben hatte Carnesecca begriffen, dass der alte Glad und sein Windswept House immer Christians Bindeglieder zu Rom gewesen waren. Zum Vatikan. Zum Papsttum.

 

Dann also Rom.

Cessi war die Erste, die Christians Entscheidung seinen Augen ansah und sie aussprach. »Es wird Zeit, dass wieder ein Gladstone zur Rettung des Papstes eilt.« Sie sah ihrem Sohn ins Gesicht und ihre eigenen Augen waren nicht grün. »Vergiss nur nicht, junger Mann, dass dies nicht mehr das neunzehnte Jahrhundert ist und dass du nicht der alte Glad bist. Eine Million kalter amerikanischer Dollars wird diesmal nicht helfen. \Vas Rom braucht, ist ein reinigendes Gewitter.«

Hätte Cessi sich nicht plötzlich in der unvergleichlich süßen Umarmung ihres Sohnes wieder gefunden, hätte sie wohl endgültig die Fassung verloren.

»Nur der lebt wirklich im Exil« - mit diesen Worten Joseph Conrads flüsterte Christian seiner Mutter seinen Dank für ihren »Kein Pardon!«-Segen ins Ohr - »nur der lebt wirklich im Exil, der nicht wieder heimkehren kann, sei es in eine Hütte oder in einen Palast.«

Den Kopf an Christians Schulter hob Francesca Gladstone den Blick zum Tabernakel. Nur der Himmel hörte das Flüstern ihres Herzens. Der Himmel und all die Engel, die sich, die ganzen siebzig Jahre ihres Lebens schon, am Fuß der Jakobsleiter versammelt hatten, die in die Turmkapelle des alten Glad herabreichte. »Siehst du, Herr! Ich habe es Dir doch gesagt!«



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Von Mäusen und Menschen

 

 

XXIII

Am zweiten Freitag im September 1992, während Michail Sergejewitsch Gorbatschow vor dem sowjetischen Präsidium in Moskau um alles kämpfte, was er je zu erreichen gehofft hatte, spazierte Gibson Appleyard ohne Eile zum Sitz der Europäischen Kommission, in das vierzigstöckige Berlaymont-Gebäude im Osten Brüssels zwischen dem Boulevard Charlemagne und der Rue Archimede. Mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, als er mit dem Fahrstuhl in den neunundzwanzigsten Stock fuhr. Ihm blieb noch reichlich Zeit, bis der .Besetzungsausschuss mit seiner morgendlichen Sitzung begann, in der über die Besetzung der Generalsekretärsposten entschieden werden sollte.

»Die ganze Idee ist absolut lächerlich und unannehmbar!« Nicole Cressons schrille Stimme fuhr Gib Appleyard wie ein Messer ins Ohr, als er in den Konferenzsaal schlüpfte. Cresson gehörte zu den wenigen Frühankömmlingen unter den zwölf Dele gierten, die sich bereits in kleinen Gruppen versammelt hatten. »Der Gedanke, diesen Amerikaner ... diesen ... wie hieß er doch gleich ...« Nicole Cresson fuchtelte vor ihren Kollegen aus den Niederlanden und Spanien mit dem Gladstone-Dossier herum wie ein Staatsanwalt, der einen Kriminellen vor den Geschworenen niedermacht.

»Paul Thomas Gladstone.« Der geduldige Holländer Robert Albers nannte den Namen, der der Französin nicht einfiel.

»N’est-ce pas!«, schnaubte Madame Cresson. »Diese Amerikaner und ihre kostbaren Mittelnamen! Das Ganze ist einfach lachhaft!«

Appleyard beschloss der Französin aus dem Weg zu gehen. Nicole Cresson wusste wahrscheinlich ebenso gut wie er, dass bei einem Gespräch zwischen ihnen nichts herauskommen konnte. Es war wohl lohnender und mit weit weniger Stress verbunden, sich abseits zu halten und zu beobachten, wie sich Gruppen bildeten und veränderten.

Im Laufe der letzten Monate, während er den bisherigen Sitzungen dieses Besetzungsausschusses beiwohnte, hatte Appleyard über die zwölf Wahlmänner und -frauen in etwa das erfahren, was sie selbst voneinander wussten. Natürlich kannte er sie dem Namen nach; aber er kannte auch ihre Spitznamen, die sie untereinander freimütig benutzten und die ebenso viel über ihre Qualitäten wie über ihre Eigentümlichkeiten aussagten. Und warum man Nicole Cresson »Vinaigre« nannte, wurde an diesem Morgen nur allzu offensichtlich.

»Ah, mein lieber Appleyard. Na, sind Sie gekommen um den Geschmack des Sieges zu kosten?« Der belgische Delegierte - Jan Borliuth sein eigentlicher Name, »Stropelaars« sein Spitzname - hieß Gib auf seine eigentümliche Art willkommen. »Sie dürfen nicht viel um Vinaigres Wutausbrüche geben. Sie kommt gerade aus dem Urlaub und musste heute Morgen feststellen, dass die Kandidaten, für die wir uns in den vorherigen Sitzungen entschieden hatten, ihre Bewerbungen zurückgezogen haben. Ich bezweifle, dass schon einmal etwas Vergleichbares vorgekommen ist. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen haben die Kommissare uns einen völlig neuen Kandidaten für den Posten Jes Generalsekretärs präsentiert. So etwas hat es noch nie gegeben.«

Gib hob die Augenbrauen und hoffte, dass Borliuth ihm das lakonische Erstaunen eines Amerikaners abnehmen würde. Aber bevor er die Gelegenheit bekam auch nur ein Wort zu sagen, gesellte sich der Italiener Corrado Del Iudice zu ihnen - ein so attraktiver Mann, dass er natürlich nur »II Bello« heißen konnte. »Aber Madame Cresson hat nicht Unrecht, wissen Sie.« II Bello sah, anders als Borliuth, keinen Anlass das Verhalten der Französin zu entschuldigen. »Die Ernennung eines neuen Generalsekretärs erfolgt zu einem heiklen Zeitpunkt. Die Ereignisse dieses Jahres haben ohnehin schon die Türen zu völlig neuem Terrain geöffnet. Angesichts aller Verwicklungen und Feinheiten habe ich meine Zweifel, dass ein Amerikaner damit fertig wird.«

»Das ist noch behutsam ausgedrückt!« Als der wahrscheinlich einzige praktizierende Katholik in dieser Runde trug der Portugiese Francisco Dos Santos seinen Spitznamen »Capläo« - der »Kaplan« - mit wahrhaft christlicher Geduld. »Wenn unser neuer Generalsekretär erst ins Amt eingeführt ist und seine Administration reibungslos läuft, werden die EG-Kommissare und der Ministerrat vor sehr schwierigen neuen Entscheidungen stehen. Und die Arbeit des Generalsekretärs wird um ein Vielfaches umfangreicher sein.«

»Sagen Sie, Appleyard.« Dos Santos wandte sich dem hoch gewachsenen Amerikaner zu. »Können Sie uns Näheres über diesen Paul Gladstone verraten? Natürlich haben wir alle sein Dossier gelesen. Aber diese Entwicklung kommt so unerwartet, dass wir keine Gelegenheit hatten eigene Nachforschungen anzustellen.«

Gib überlegte einen Moment. Für einen so gestandenen Dip_ lomaten hatte Dos Santos eine reichlich unbeholfene Frage gestellt. Eine Frage, die offensichtlich andeuten sollte, dass Appleyard die Fliege in der Suppe dieses Gremiums war. »Ich weiß, was ich in dieser Akte gelesen habe«, antwortete Appleyard wahrheitsgemäß. »Ich habe diesen Mann noch nicht persönlich kennen gelernt. Aber nach allem, was ich sagen kann, haben Sie es bei diesem Gladstone mit keinem geopolitischen Einfaltspinsel zu tun. Er hat sich seine Sporen verdient.«

»Also sollten wir uns keine Sorgen machen?« Jan Borliuth schien entschlossen die Sache weiterzuverfolgen, da mischte sich Deutschland unter die Gruppe.

Emil Schenker - der »Pfennig«, wie ihn seine Kollegen in Anspielung auf die Währung seines Landes nannten - war vom Temperament her Nicole Cressons genaues Gegenteil. Außerdem empfand er ihre Auffassung von einem Europa ausschließlich für Europäer als höchst anstößig. »Entschuldigen Sie! Ich habe ungewollt Ihre anregende Diskussion mitgehört, meine Freunde. Und ich muss sagen, dass Sie sich meiner Meinung nach viel zu viele Gedanken machen. Die Welt ändert sich eben, und das ist alles, worum es hier geht. Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen.«

Pfennigs Kollegen konnten nur zusammenzucken, denn es gab keinen Zweifel, wie dieser Satz zu verstehen war. Dreh- und Angelpunkt der europäischen Industrie und des europäischen Finanzwesens war Westdeutschland. Natürlich würde die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten - eine Vernunftehe, wie Schenker im Privaten zugestand - Westdeutschland in naher Zukunft finanziell und sozial auslaugen. Aber für Pfennig waren die großen neuen Realitäten nur wieder aufgewärmte alte Realitäten. »Wir Deutschen haben einen uns innewohnenden Drang nach Osten«, betonte er seit einiger Zeit bei jeder Gelegenheit. »Wir sind ostwärts orientiert. Menschen können nicht aus ihrer Haut und Nationen nicht aus ihrer Geschichte. Die historische Rolle des deutschen Volkes als eine europäische Macht stand immer in Zusammenhang mit unseren mächtigen Nachbarn im Osten.«

Schenkers entschlossenes Eintreten für diesen natürlichen Drang der Deutschen nach Osten war durchaus nicht unvereinbar mit der offiziellen Politik der meisten der elf Staaten, deren Vertreter als Wahlmänner und -frauen an der heutigen Sitzung teilnahmen.

Dennoch glaubte Appleyard, dass er Pfennig und seine Regierung in dieser Hinsicht recht gut verstand. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erklärte Schenker, was es für ihn als Deutschen bedeutete, mit Russland konfrontiert zu werden. Nach Gibs Einschätzung hatte die Zehnerkommission des Präsidenten allerdings gut daran getan, die Gefahr für die Vereinigten Staaten einzuschätzen. Das einzig Gute an Pfennigs nebulösem »Drang nach Osten« war der Umstand, dass er offensichtlich |dem Lager innerhalb der EG angehörte, das für eine Politik intensiver und dauerhafter Beziehungen zwischen Europa und außereuropäischen Ländern eintrat. Im geopolitischen Jargon der EG galt Schenker als ein Euro-Atlantiker.

Bezogen auf die heutige Tagesordnung lief seine Einstellung jeweils auf eine sichere Stimme zugunsten Paul Thomas Gladstones hinaus.

»... und deshalb, geschätzte Freunde«, schloss Schenker seine nicht unerwartete Rede an die anderen Delegierten, »machen Sie sich zu viele Sorgen. Was könnte dieser Gladstone im schlimmsten Fall schon anrichten? Schließlich gibt es nicht wenige, die den Generalsekretär nur für einen überschätzten Strohmann der allmächtigen EG-Kommissare halten ...«

»Pah!« Del Iudice aus Italien hatte genug gehört. Es bereitete ihm körperliche Schmerzen, wenn er daran dachte, welchen Schaden Gladstone anrichten konnte. »Die Kommissare - und zwar alle siebzehn - verfügen über wirkliche Macht. Eine enorme Macht. Und der Generalsekretär hat Anteil an dieser Macht und an allem, was sie bewirken kann.«

Es geschah nicht oft, dass Schenker sich unversehens in einer Minderheitenrolle wiederfand. Aber genau das war nun geschehen, als er sich dieser kleinen Diskussionsrunde anschloss.

»Ich kann II Beilos Standpunkt nur beipflichten, mein lieber Pfennig«, ergriff Jan Borliuth aus Belgien wieder das Wort. »Die EG ist nicht mehr das Flaggschiff Westeuropas. Sie ist nicht mehr das Europa der sechs. Heutzutage erweist sich doch jeder als Europäer! In sehr naher Zukunft sollten wir in der EG uns mit dem Gedanken befassen den Nationen der Europäischen Freihandelszone eine engere Beziehung mit unserer Organisation zuzugestehen. Norwegen, Schweden, Finnland, die Schweiz, Liechtenstein und Österreich decken einen beträchtlichen Marktanteil ab, den wir nicht ignorieren können. Aber sie stellen die EG auch vor enorme politische Komplikationen.

Und da Sie schon den Osten ins Gespräch gebracht haben, Emil« - der Belgier warf einen scharfen Blick auf Pfennig -, »Gorbatschow klopft schon ziemlich laut an die Tür unseres neuen Europa. Ja, er hat sogar seine Forderungen im Namen Europas gestellt!«

»Stimmt, Stropelaars. Aber ...«, versuchte Schenker sich zu verteidigen, doch Borliuth blieb hart.

»Diesmal kein Aber, alter Freund. Jeder hier hat Grund sich an Gorbatschows eigenes Europa zu erinnern. >Ihr neues Europa wird unmöglich sein<, hatte er die Stirn zu behaupten, >ohne enge Bande zur Sowjetunions Und jeder hier hat Grund zur Annahme, dass Gorbatschow damit nicht nur eine enge Zusammenarbeit mit seiner neuen sowjetischen Föderation, sondern mit all ihren Bündnisstaaten in Osteuropa gemeint hat, die ohne ihre eigenen engen Bande zur Sowjetunion nicht überleben können. In praktischer Hinsicht kommt es nicht darauf an, dass Gorbatschow in Moskau zurzeit selbst in den Seilen hängt. Denn in praktischer Hinsicht hat er zu uns über einen riesigen neuen Markt von über zweihundert Millionen Menschen gesprochen.

Was immer also mit Gorbatschow geschieht, seine Behauptung, dass es kein Europa ohne die UdSSR - oder die GUS oder wie immer sie am Ende heißen wird - geben kann, ist gleichermaßen eine Feststellung wie eine Drohung. Er hat die Gussform Europas geändert, ob er will oder nicht.«

Aber inzwischen hatte die Diskussion, die um Gibson Appleyard wogte, so heftige Züge angenommen und ein so entscheidendes Thema für die Zukunft der EG angeschnitten, dass einige andere Mitglieder des Besetzungsausschusses sich ihr anschlossen. Denn schlussendlich waren ihre Karrieren vom Wohlergehen dieser Institution abhängig.

»Stropelaars hat Recht, Pfennig.« Die neue Stimme gehörte zu Fernan de Marais aus Luxemburg. Seine Mitstreiter nannten ihn »den Grafen« aus dem einfachen Grund, dass er tatsächlich einer war. »Wir erinnern uns alle an die ersten Jahre. Nach der Gründung der EG war die Lage eine ganze Zeit lang sehr übersichtlich. Damals gehörten nur sechs Nationen dem europäischen Kernland an. Aber nun muss die EG Rücksicht auf die Wünsche der KSZE, der Nationen der Europäischen Freihandelszone, der Westeuropäischen Union, der G-7, der Brügge-Gruppe und etlicher anderer nehmen, deren Namen und Abkürzungen jeder von uns hier in einem Atemzug herunterbeten kann ...«

Als er sich die Ausführungen des Grafen über das haarige Thema des geopolitischen Wettbewerbs anhörte, überlegte Appleyard, dass das haarigste Thema die ernst zu nehmende Rivalität war, die sich zwischen der Europäischen Gemeinschaft auf der einen und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf der anderen Seite herausgebildet hatte. Aus der Sicht »europäischer Europäer« - wie etwa Italiens Del Iudice, des Belgiers Borliuth, des Portugiesen Dos Santos, der Französin Cresson und der Spanierin Dolores »Viva« Urrutia - konnte die KSZE mit der langen Ahnenreihe der EG nicht mithalten. In ihren Augen war die KSZE eine Missgeburt, die aus der Verbindung US-amerikanischer mit sowjetischen Interessen in Westeuropa gezeugt worden war.

Die geopolitische Stoßrichtung der KSZE war daher voraussagbar euro-atlantisch, voraussagbar an einer Politik orientiert, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufrechterhielt und pflegte. Und das bedeutete, dass die EG und die KSZE nicht dieselbe Blutgruppe hatten.

Es war eine schlichte Tatsache, dass die geopolitischen Entwicklungen die EG überrascht hatten, und jeder hier wusste das. Bei den stetigen Versuchen ein neues Europa zu errichten konnte niemand vorhersagen, welche von beiden Institutionen - die EG oder die KSZE - dominieren, welche tatsächlich die Regierung dieses neuen Europa stellen würde.

»Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, meine Freunde.« Marais sah jeden außer Appleyard nacheinander an und sprach aus, was alle dachten. »Aber diese seltsamen Umstände, die die plötzliche und alleinige Kandidatur dieses Amerikaners Paul Gladstone begleiten, erwecken bei mir den Eindruck, dass diese illustren Kommissare unserer EG ihre Ansichten nicht mehr den zwölf Mitgliedstaaten anvertrauen ...«

»Der entscheidende Punkt ist«, warf der Ire Pierce Wall ein, »dass das Europa, das wir kennen, in dem wir zurzeit leben, bereits ein Relikt ist. Wir müssen mit dem Europa Schritt halten, wie es bald sein wird - wie es gerade im Entstehen begriffen ist.«

Beinahe jeder in der Gruppe stimmte dem Iren mit einem Nicken zu. Aber Gibson Appleyard sah in allen Gesichtern Spuren des Bedauerns.

 

Kaum zehn Minuten blieben bis zur Eröffnung der morgendlichen Sitzung. Doch der Mann, der den Hammer schwingen sollte, der Engländer Herbert Featherstone-Haugh, war als einziger Delegierter noch nicht eingetroffen.

Das war schon merkwürdig, grübelte Gib. Featherstone-Haugh - in gut britischer Tradition wurde der Name Fan-Shaw ausgesprochen, also nannten ihn alle selbstverständlich »Fanny« - sondierte gern die Lage im Voraus, wenn eine wichtige Sitzung anstand. Die manchmal übertriebene Aktivität dieses verdienten Aristokraten und Parlamentariers im Vorfeld von Sitzungen hatte schon so manche EG-Initiative davor bewahrt, Schiffbruch zu erleiden. Gib konnte sich deshalb kaum etwas vorstellen, was wichtig genug wäre um ihn von seiner heutigen Aufgabe abzuhalten.

Als wolle er Appleyards Neugier zuvorkommen, platzte Featherstone-Haugh in ebendiesem Augenblick in den Konferenzraum, einen mit Papieren voll gestopften Lederordner an die Brust gedrückt und einen Ausdruck offensichtlicher Anspannung im Gesicht. Er grüßte verschiedene Delegierte auf dem Weg zu dem langen Konferenztisch und hielt kurz inne um ein paar Worte mit dem Dänen Henrik Borcht zu wechseln - »Ost«, wie er wegen des köstlichen Käses genannt wurde, den er stets von den Reisen in sein Heimatland mitbrachte. Und dann blieb er ein zweites Mal stehen um die reizbare Französin Nicole Cresson in ein etwas längeres Geplauder zu verwickeln,

Als die Wahlmänner und -frauen, die sich um Appleyard versammelt hatten, allmählich ihren Plätzen zustrebten, warf der Engländer dem Amerikaner einen flüchtigen, harten Blick zu. Gib starrte ihn an ohne zu blinzeln und nickte, als hätten sie zu einer unausgesprochenen Übereinkunft gefunden.

»Commander Appleyard!« Der erste der beiden Nachzügler, die in Fannys Kielwasser den Konferenzraum betreten hatten, kam mit zum Gruß ausgestreckter Hand auf Gib zu. »Serjoscha Gafin«, stellte sich der Russe mit einem breiten Lächeln auf vollen Lippen vor.

»Ja.« Appleyard schüttelte dem jungen Gafin kräftig die Hand. »Ich erinnere mich an unser interessantes Gespräch während der Sitzungspause in Straßburg.«

Gafin zwinkerte mit den Augen. »Gespräche sind immer farbiger, wenn sie von so wundervollem Foie gras und Wein begleitet werden.«

Gafins Begleiter unterbrach das Gespräch mit einer Verbeugung und knallte, ganz Preuße, die Hacken zusammen. Der glänzende Kahlkopf und der straffe Torso ließen keine Missverständnisse zu. Trotzdem stellte sich der zweite Mann vor. »Otto Sekuler, Herr Appleyard. Außerordentlicher Delegierter der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.«

Als er in die starren schwarzen Augen hinter der stahlgefassten Brille blickte, war Gib versucht Sekulers Begrüßung zu parodieren, indem er seinerseits die Hacken zusammenschlug. Doch er beherrschte sich und antwortete mit einem schlichten: »Herr Sekuler.«

Featherstone-Haugh rief die Sitzung bereits zur Ordnung und so begaben sich Appleyard, Gafin und Sekuler zu den Stühlen, die für sie bereitstanden. Weil sie nicht stimmberechtigt waren - oder vielleicht auch, weil es Wahlberechtigte gab, die Einflüsse der euro-atlantischen Positionen zu vermeiden suchten, die sie repräsentierten -, saßen die drei Besucher einige Meter abseits vom Konferenztisch an der Wand. Bevor Fanny gich dem ersten Punkt der Tagesordnung zuwenden konnte, brachte der schöne Italiener Corrado Del Iudice eine Beschwerde vor. Warum hatte das Ausschussmandat eine so plötzliche und drastische Änderung erfahren? Warum gab es nur einen Kandidaten? Und schließlich, wer steckte überhaupt hinter diesem Paul Gladstone?

»Auf all das werden wir noch beizeiten zu sprechen kommen, mein lieber Kollege.« Fanny rief den unwilligen Del Iudice mit einigen energischen Hammerschlägen zur Ordnung. »Aber wir sollten unsere gute Kinderstube nicht vergessen.«

»N'est-ce pas!«

Nicole Cressons bühnenreifes Flüstern ließ den Vorsitzenden die Stirn runzeln.

»Wie es die Statuten vorschreiben, sind heute einige außerordentliche Delegierte bei uns. Alle nehmen auf Veranlassung ihrer jeweiligen Heimatbüros teil. Und, wie ich hinzufügen darf, auf Veranlassung unserer geschätzten Kommissare persönlich. Wir freuen uns alle Commander Gibson Appleyard aus Washington wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Ich bin mir sicher ...«

»N'est-ce pas!«

Ein weiteres Stirnrunzeln in Richtung Vinaigre; aber der Vorsitzende war entschlossen keine Unterbrechung zu dulden. »Lassen Sie uns unsere beiden neuen Gäste begrüßen. Möchten Sie sich bitte vorstellen, meine Herren?«

Der Russe war der Erste, der sich auf Fannys Aufforderung hin erhob. »Serjoscha Gafin. Sonderattache für soziokulturelle Beziehungen mit der europäischen Gemeinschaft. Ich überbringe Ihnen Grüße von Präsident Michail Sergej ewitsch Gorbatschow. Die Sowjetunion und ihre Bruderstaaten waren immer ein Teil Europas. Nun, da wir eine neue demokratische Föderation aller Russen errichten, halten wir es für an der Zeit, uns wieder auf unsere tiefe, uns angeborene europäische Natur zu besinnen.«

Als Gafin wieder Platz nahm, war es diesmal Jan Borliuth aus Belgien, der ein derbes »N'est-ce pas!« von sich gab. Dann warf er Appleyard einen scharfen Blick zu, als betrachte er Gafin als einen lebenden Beweis für die Bedrohung, die Gorbatschow darstellte.

Mit einem weiteren kurzen Klopfen wandte Fanny sich Sekuler zu.

»Otto Sekuler!« Der deutsche Besucher stand seinerseits auf und knallte noch einmal die Hacken zusammen. »Sonderdelegierter der KSZE, zu Ihren Diensten!«

Aus Appleyards Sicht schienen sich die Wahlmänner und -frauen irgendwo in einem seltsamen Niemandsland zwischen milder Belustigung über den leibhaftigen Anblick eines alten Preußen und scharfer Ablehnung gegen Sekulers Beziehung zur konkurrierenden KSZE zu bewegen.

»Sehr gut.« Fanny richtete sich in seinem Stuhl auf. »Noch eins, bevor wir unsere verantwortungsvolle Aufgabe in Angriff nehmen. Seit unserer letzten Sitzung sind die extraterritorialen Empfehlungen eingetroffen. Aus der Republik China. Und aus dem Sekretariat der Arabischen Liga. Hat jemand etwas dazu anzumerken?«

Schweigen.

»Gut.« Featherstone-Haugh begann die Papiere in seinem Lederkoffer zu durchwühlen. »Aber wir haben zwei weitere interessante Briefe erhalten. Das war auch der Grund, warum ich mich heute Morgen verspätet habe ... Ah! Da sind sie ja!« Der Vorsitzende hielt zwei Umschläge hoch und drehte sie so, dass jeder sie sehen konnte.

Selbst aus der Ferne erkannten alle den karminroten Stempel mit der päpstlichen Tiara und den Schlüsseln in der linken oberen Ecke beider Umschläge und ebenso deutlich erkannten sie den subtilen Unterschied zwischen beiden. Den ersten hatten sie hunderte Male auf förmlichen Einladungskarten, Umschlägen und Dokumenten gesehen und kannten ihn als Zeichen des Heiligen Stuhles. Der zweite allerdings war eine Variante dieses Stempels, die nur die persönliche Korrespondenz des Heiligen Vaters zierte.

Gibson Appleyard war ebenso überrascht wie alle anderen, dass der Vatikan diesem Gremium nicht ein, sondern zwei Empfehlungsschreiben geschickt hatte. Doch im Moment - jedenfalls bis er gehört hatte, was in diesen Briefen stand - interessierten ihn zuallererst die Reaktionen der Anwesenden. Er hörte den einen oder anderen erstaunt durchatmen. Otto Sekuler erstarrte sichtlich auf seinem Stuhl und ballte die Hände zu Fäusten. Serjoscha Gafin bewahrte dagegen seine undurchsichtige Miene.

Featherstone-Haugh zog zunächst ein einzelnes Blatt aus dem Umschlag mit dem persönlichen Papstsiegel. »Nun, natürlich.« Der Vorsitzende hielt es für ausreichend, einen Großteil des Inhalts zusammenzufassen. »Natürlich empfiehlt der Heilige Vater, dessen humanitäre und religiöse Größe wir alle schätzen und bewundern, dass wir uns für einen Kandidaten entscheiden, der am besten geeignet ist den Ministern und Kommissaren bei ihrer herkulischen Aufgabe beizustehen unser altes Europa als unsere gemeinsame Heimat neu zu gestalten ...« Fanny überflog mit Blicken die Seite und las einige Brocken wörtlich vor. »>Stets eingedenk der langen christlichen Geschichte Europas und inspiriert von der sicheren Aussicht auf Wohlstand und Heil, die nur der Erlöser der Menschheit garantieren kann .. .<«

Featherstone-Haughs Brauen begannen auf und ab zu hüpfen, doch er fuhr tapfer fort. »Der Heilige Vater sagt, dass ihm >das Herz blute für das arme, arme Europa, das zunehmend von seinem Erbe und seiner festgelegten Bestimmung entfremdet wird, während seine edle Tradition sich in etwas verwandelt, das .. .< Er warnt uns und den neuen Generalsekretär, den Ministerrat und die Kommissare vor den überhand nehmenden Gefahren des Materialismus und des Hedonismus. Danach endet sein Brief mit folgenden Worten: >Europa muss eine Zukunft der Einheit zum Nutzen der ganzen menschlichen Familie suchen, indem es zu seinen christlichen Wurzeln zurückkehrte Und natürlich« - Fanny faltete das päpstliche Dokument bereits wieder zusammen - »erteilt der Heilige Vater gern und mit Freuden diesem Gremium seinen apostolischen Segen et cetera und so weiter.«

Der Holländer Robert Albers unterbrach das momentane Schweigen unter den Delegierten. Er sei normalerweise ein geduldiger Mensch, brummte er. Aber er sehe keinen Grund, warum die Wahlmänner und -frauen eine Einmischung des Papstes in die Arbeit der EG dulden sollten.

Appleyard nahm Albers' Einwand und auch den der anderen Wahlberechtigten, die seiner Entrüstung mit einem Klopfen auf den Tisch oder einem obligatorischen »Hört, hört!« beipflichteten, zur Kenntnis. Gib dagegen beunruhigte ein einziger Absatz in dem ansonsten vorhersehbaren Brief des Pontifex. Der Abschnitt, in dem es um das »arme, arme Europa« ging. Hatte Appleyard selbst sich nicht vor kurzer Zeit genauso geäußert? Ganz offensichtlich hatte die allgemeine Euphorie über das neue Europa diesen Papst nicht angesteckt, ebenso wenig wie Gib. Das wies den Pontifex als einen unabhängigen Denker aus - als einen Mann, der sich seine eigenen Meinungen bildete.

Doch wie weit reichten die Bedenken des Papstes? Teilte der Heilige Vater Appleyards Ansicht, dass Europa zum Spielball geworden war? Hatte das Denken des Papstes überhaupt eine realistische geopolitische Grundlage? Oder interpretierte Gib zu viel in diese kurze Passage hinein? Wie lautete doch diese andere Phrase, die Fanny vorgelesen hatte? Etwas in der Art, dass Europa zu seinen christlichen Wurzeln zurückkehren solle. Blutete das Herz des Papstes vielleicht nur aus Sehnsucht nach früherem Ruhm? Das waren die Fragen, die Appleyard gern einmal mit dem Heiligen Vater erörtert hätte, wenn er je die Gelegenheit dazu bekäme. Aber zumindest gab es jetzt einen Grund dem polnischen Papst verstärktes Interesse zu widmen.

An dieser Stelle wurde Appleyard von Featherstone-Haughs Stimme aus seinen Grübeleien gerissen, der seine Kollegen darüber informierte, dass die beiden Dokumente aus dem Vatikan in allen Einzelheiten miteinander übereinstimmten. »Mit der Ausnahme ...« Fanny zog den zweiten Brief aus seinem festen Papierumschlag. »Mit der Ausnahme, dass dieser zweite Brief, der angeblich aus dem Staatssekretariat stammt, die Unterschrift des Kardinalstaatssekretärs, Seiner Eminenz Cosimo Maestroiannis, trägt. Außerdem enthält er einen zusätzlichen Absatz, den ich vollständig vorlesen möchte ...

>Der Ministerrat und die Kommissare der großen Europäischen Gemeinschaft müssen dahin kommen, dass sie ihre Mitgliedstaaten in die Lage versetzen können sich dem großen Weg der Geschichte nicht nur in Europa, sondern auf allen Kontinenten der Welt anzuschließen. Daher ist der Heilige Stuhl nach gründlicher Kenntnisnahme der Referenzen und Einschätzung der Perspektiven des neuen Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs beim Ministerrat - Referenzen und dokumentarische Belege, die der Rat dem Heiligen Stuhl freundlicherweise zur Information vorgelegt hat - zu dem Schluss gekommen, dass Herr Paul Thomas Gladstone bewundernswerte Voraussetzungen für den Posten mitbringt, der in einem für die Europäische Gemeinschaft so kritischen Moment vakant geworden ist. Der Heilige Stuhl empfiehlt aus ganzem Herzen Kandidaten, überlässt die Entscheidung aber selbstverständlich dem besten Wissen und Gewissen der ernannten Wahlmänner und -frauen.<«

In der Stille, die der Lesung dieses Abschnitts folgte, war eine ganz eigentümliche Spannung spürbar, die Spannung geopolitischer Interessen. Die Delegierten hatten natürlich die Gerüchte über eine Spaltung in der vatikanischen Hierarchie gehört. Aber sie waren noch nie mit einer so offenen und eklatanten Opposition gegen den Heiligen Vater auf höchster Ebene seiner Administration konfrontiert worden.

Es gab keinen Zweifel, dass die Geringschätzung und Respektlosigkeit, die der Holländer Robert Albers eben noch gegenüber dem Vatikan zum Ausdruck gebracht hatte, mit Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fragen zu tun hatte. Aber sie hatten nichts mit jener rohen und entschieden weltlichen Macht zu tun, die der Heilige Stuhl noch innehatte, wenn er sie auch nicht immer ausübte. In dieser Hinsicht sollte man das Papstbüro ernstlich im Auge behalten. Für die Gruppe, die diese Ansicht vertrat, warf Maestroiannis Brief ein Licht auf interne Zustände in den obersten Diensträngen des Vatikans. Auf dieser Ebene - was immer auch hinter seinem Einsatz für Gladstones Ernennung stecken mochte - war die Tatsache, dass der Kardinal einen Brief geschickt hatte, der über den Inhalt des Papstbriefes hinausging, so viel sagend, weil sie von einem Schisma im eigenen Hause zeugte. Sehr entlarvend; und sehr ermutigend.

Appleyard war nach eigenem Abwägen weder überrascht noch erfreut über Kardinal Maestroiannis Brief. Genauso wenig, nahm er an, wie Serjoscha Gafin und Otto Sekuler. Jene Sitzung, an der sie letzten Mai in Straßburg teilgenommen hatten, war eine lebhafte Demonstration der Auseinandersetzung gewesen, die im Vatikan tobte. Appleyard hatte nicht nur erfahren, wie weit Seine Eminenz bereits gegangen war im Namen der Einheit konzertierte Aktionen gegen den Papst zu organisieren. Er hatte außerdem feststellen können, wie eng Maestroianni mit Cyrus Benthoek verbündet war. Und Gib hatte auch nicht vergessen, dass Benthoeks überschwängliche Empfehlung Teil von Paul Gladstones offiziellem Dossier war. Wie war das noch einmal mit den Rädchen, die ineinander greifen? »Herr Vorsitzender!« Der Deutsche Emil Schenker stand auf um den vatikanischen Standpunkt zu verteidigen. Zunächst einmal, betonte Pfennig ein wenig legalistisch, verfügte der Heilige Stuhl als ein souveräner Staat in Europa über das formale Recht diesem Ausschuss seine Empfehlungen vorzulegen oder, falls gewünscht, seine eigenen außerordentlichen Delegierten zu entsenden. Aber weit wichtiger waren aus Schenkers Sicht die beiden Mahnungen, die diese Briefe enthielten. »Worin sie sich auch unterscheiden mögen, der Papst erinnert uns an die lange europäische Geschichte. Und der Staatssekretär erinnert uns daran, dass die EG, ob es ihr gefällt oder nicht, imstande sein muss mit und auf allen Kontinenten der Erde effektiv zu handeln ...«

»Wäre mein geschätzter Kollege aus Deutschland bitte so freundlich ...?«

Mit einem Nicken überließ Pfennig dem Italiener II Bello das Wort.

»Über eine breitere Akzeptanz des neuen Europa zu reden ist schön und gut.« Del Iudice sprach mit offenkundiger Erregung. »Aber ich mache mir immer noch sehr viel mehr Gedanken über die Fragen, die ich zu Beginn dieser Sitzung gestellt habe. Alle Kandidaten, die wir so sorgfältig unter die Lupe nehmen konnten, haben aus unerfindlichen Gründen ihre Bewerbung zurückgezogen. Mit einem Mal steht nur noch dieser Paul Gladstone als möglicher neuer Generalsekretär zur Verfügung. Wenn Sie mich fragen, ist diese ganze Wahlprozedur geschoben.«

»Nein, nein, mein lieber Corrado.« Das kam aus dem Munde Featherstone-Haughs fast schon einer offenen Konfrontation gleich. »Nein, überhaupt nicht. Die Kommissare haben uns einfach nur einen einstimmig verabschiedeten Wahlvorschlag zur Prüfung vorgelegt. Die Entscheidung liegt bei uns, mein Junge.«

»Nun denn.« Der Italiener hielt es für sinnvoll, Fanny die Stirn zu bieten. »Können wir unsere Entscheidung wenigstens vertagen?«

Zum zweiten Mal an diesem Morgen war von den verschiedenen Wahlmännern und -frauen ein deutliches Aufstöhnen zu hören. Aber es lag an Fanny, ihre Reaktion in Worte zu fassen.

»Mein lieber Del ludice.« Er wirkte nun wie die Nachsicht in Person. »Wir stehen vor folgender Schwierigkeit. Falls wir der Fürsprache der Kommissare für Paul Gladstone nicht entsprechen wollen und falls wir keine vernünftigen Gründe für eine solche Ablehnung anführen können, die auf Gladstones moralischen oder beruflichen Qualifikationen basieren, und falls wir unsere Entscheidung über den Termin in dieser Woche hinauszögern« - Fanny warf allen Anwesenden im Allgemeinen und Del ludice im Besonderen einen langen, warnenden Blick zu - »dann können die Kommissare gemäß dem EG-Recht die Entscheidung an unserer Stelle fällen.«

Featherstone hatte alles Wesentliche gesagt. Schließlich hing das Vertrauen, das jeder Angehörige dieses Gremiums allen anderen entgegenbrachte, von ihrem gemeinsamen und allgemein anerkannten Status als Architekten hinter den Kulissen ab, als Funktionäre und Berufskollegen in der wuchernden Bürokratie ihres neuen Europa. Sie kannten nicht nur die komplexen Wechselbeziehungen und Rivalitäten unter den verschiedenen Gliedern der EG-Organisation, dem Ministerrat, der Kommission und dem europäischen Parlament selbst, sie waren selbst Teil davon.

Angesichts solcher Rivalitäten - und im Hinblick darauf, dass sie in Zukunft in anderen Ausschüssen sitzen wollten - würden < diese Wahlmänner und -frauen wohl kaum einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und zulassen, dass ihre heutige Wahlentscheidung in die Hände der Kommissare überging. Verglichen mit einem möglichen Machtverlust innerhalb der EG waren alle anderen Unannehmlichkeiten - selbst die Beförderung eines Amerikaners auf den Posten des Generalsekretärs - von untergeordneter Bedeutung.

Fanny lächelte Corrado Del ludice an, dann in die Runde seiner Kollegen und warf schließlich einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sollen wir dann eine inoffizielle Abstimmung durchführen nur um zu wissen, wie die Dinge stehen ? Wie ich sehe, sind wir schon spät dran. Ich schlage vor, wir schenken uns die schriftliche Abstimmung und geben unsere Stimme per Handzeichen ab.« Jeder hätte das Ergebnis der ersten und inoffiziellen Sondierung der Stimmung voraussagen können. Fünf Stimmen zugunsten Gladstones, alle aus den Reihen der euro-atlantischen Ausschussmitglieder - Holland, Deutschland, Dänemark, Luxemburg und Irland. Zusammen mit Fannys Stimme in Vertretung Englands ergaben das sechs Befürworter.

Wie erwartet stammten die Gegenstimmen durchweg von Eurozentristen - Vinaigre aus Frankreich, Stropelaars aus Belgien, HBello aus Italien, Viva aus Spanien, Capeläo aus Portugal und Eugenia Louverdos aus Griechenland.

Fanny seufzte. In gewisser Weise entsprach die Spaltung, die diese provisorische Abstimmung zum Vorschein brachte, einer Spaltung, die mitten durch die so genannte EG ging. Norden gegen Süden, Euro-Atlantiker gegen Eurozentristen. Die offenkundig verfahrene Lage erübrigte jeden Kommentar außer einem leichten Schulterzucken von Featherstone-Haugh. »Gibt es vielleicht eine gut eurozentrische Stimme, die sich für Mr. Gladstones Kandidatur ausspricht?«

»Noch eine inoffizielle Abstimmung, Fanny?« Diese praktische Frage kam von dem Iren Pierce Wall.

»Nein, Paddy. Ich brauche eine Entscheidung.«

»Ich schlage Mr. Paul Thomas Gladstone vor.« Zur völligen Verblüffung aller kam diese Nominierung von Nicole Cresson, deren lautstarke Empörung über den bloßen Gedanken einen Amerikaner zum Generalsekretär zu wählen noch vor wenigen Minuten den ganzen Konferenzsaal ausgefüllt hatte.

»Ich schließe mich an.« Obwohl der Däne Borcht ein bekennender Euro-Atlantiker war, zog er eine Grimasse, als habe er in eine Zitrone gebissen.

Hätte Gibson Appleyard einen Hut getragen, dann hätte er ihn jetzt vor Bewunderung über Fannys parlamentarische Darbietung an diesem Morgen gezogen. »Also, was ist denn?«, fragte der Engländer theatralisch. »Ich will Ihre Hände sehen. Jetzt fürs Protokoll bitte.« Während alle noch die Hände in die Luft hielten - bevor jemand seine Meinung ändern oder rechtliche Einwände erheben, bevor auch nur jemand n'est-ce pas sagen konnte -, beeilte Fanny sich die Abstimmung zu beenden. »Ich stelle hiermit fest, dass Mr. Gladstones Kandidatur einstimmig angenommen ist.« Mit einem weiteren Hammerschlag erklärte Featherstone-Haugh die letzte Sitzung dieses Gremiums für geschlossen.

 

Gib Appleyard hatte seine Trittstufen und Haltegriffe gefunden, ganz wie er es Admiral Vance versprochen hatte. Und er würde sie geschickt nutzen. Nachdem er seine Mission erfolgreich beendet hatte, blieb er noch eine Weile um diesem oder jenem Kollegen die Hand zu schütteln, als sie wieder lockere Gruppen bildeten oder aufbrachen. Wie Featherstone-Haugh litt Appleyard selbst unter einer inneren Spaltung. Und das Wort des Papstes vom »armen, armen Europa« hatte diese Spaltung offenkundig gemacht.

Gib erinnerte sich an seine Geschichte. Und deshalb beschäftigten diese drei Worte - »armes, armes Europa« - seine Gedanken noch immer wie ein Rätsel, für das er keine Lösung wusste. Oder vielleicht eher wie ein Klagelied, das aus unerwarteter Richtung ertönte.

Als mystischer Rosenkreuzer, der er im Grunde seines Herzens war, hatte Gib Appleyard nichts übrig für ein mächtiges Papsttum und wünschte es sich gewiss nicht zurück. Aber als leidenschaftsloser Vollzugsbeamter des präsidialen Zehnerkomitees wünschte er Antworten auf die Fragen nach dem Geisteszustand des Papstes, den diese drei Worte aufgeworfen hatten. Es war keinesfalls nur eine Frage bloßer Neugier. Der Heilige Stuhl hatte Zugriff auf Kenntnisse, für die jede Nation ein Drittel ihres Vermögens hergegeben hätte. Und ob sein Haus nun gespalten war oder nicht, dieser Papst hatte sich fähig gezeigt seine Kenntnisse in geopolitischen Schachzügen der höchsten Kategorie auszuspielen.

Allein diese Tatsachen - diese Tatsachen und Thomas Jeffersons berühmte Warnung, dass jeder, der davon träumt, einfältig und frei zu sein, von etwas träumt, das es nie gab und nie geben wird - ließen erwarten, dass Appleyard noch lange darüber nachgrübeln würde, welche Kenntnisse sich hinter dem e'egischen Abgesang des Papstes auf das »arme, arme Europa« verbergen mochten.

 

 

XXIV

»DECKEL! ... Deckel! ... Deckel!«

Mit halb geschlossenen Augen wandte Paul Thomas Gladstone den Kopf in die Richtung, aus der das aufgeregte Geschrei kam, und er lächelte vor schierer Freude. Sein Sohn tanzte fröhlich herum und schrie so ausgelassen, wie es nur ein Fünfjähriger kann, als sein Name von den Ruinen O'Connor Castles widerhallte, dessen Festungsmauern sich etwa vierzig Meter vom Ufer aus dem Shannon River erhoben.

Als Paul an diesem dritten Montag des Septembers am Flussufer lag - am Rand seines abgelegenen Privatgrundstücks rund um Liselton Manor im Südwesten der irischen Grafschaft Kerry, dem westlichsten Zipfel Europas an der Atlantikküste -, hatte er nicht die leisesten Zweifel, dass das Leben - das Leben, wie er es mochte - für ihn jetzt erst begann. Declans fröhliches Geschrei in den Ohren, in der warmen Umarmung der frühen Nachmittagssonne und in dem Wissen, dass seine Frau Yusai im Herrenhaus gespannt auf das Fax wartete, das über ihre Zukunft entscheiden würde, war es Paul Gladstone, als sei das Füllhorn des Lebens bis zum Rand mit Freude gefüllt.

»Deckel!... Deckel!« Declan vollführte die erstaunlichsten Luftsprünge, als das Schloss seinen Namen mit einer Stimme zurückwarf, die auf wundersame Weise wie seine eigene klang. Natürlich kannte er seinen richtigen Namen; und er wusste, dass man ihn nach Großvater Declan getauft hatte. Aber für ein Kleinkind wie ihn war »Deckel« so viel leichter auszusprechen, dass das Wort zu seinem Spitznamen geworden war.

Paul hob den Kopf und sah, dass sich sein Sohn weit über das Flussufer hinausbeugte. »Declan!« Gladstone sprang auf und stand mit ein paar Riesenschritten hinter ihm. »Was ist los?

Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich nicht übers Wasser beugen sollst?« Er schloss den Jungen in die Arme. »Wird Zeit, dass wir wieder ins Haus gehen, Sohnemann.«

»Da war ein Fisch, Vater«, protestierte Deckel. »Ein grüner Fisch. Er hat mich angeguckt!«

»Er hat dich nicht angesehen, mein Sohn.« Trotzdem zitterte Paul unwillkürlich, als er sich an einen in der Gegend verbreiteten Aberglauben erinnerte, wonach ein Fisch, der jemanden anschaut, nur bedeuten könne, dass einer sich bald zu ihm gesellen werde. »Fische schlafen in der Sonne mit offenen Augen.« »Aber Vater!« Declan bewies, dass er etwas von der Dickköpfigkeit seines Vaters geerbt hatte, indem er ein zweites Mal protestierte. »Als ich mich bewegte, hat der Fisch mit dem Schwanz gewedelt.«

Paul zauste dem Jungen das schwarze Haar und drückte ihn an sich. »Kleine Fische tun das um an einer Stelle zu bleiben. Wenn nicht, würde das Wasser, das zum Meer fließt, sie von dort wegtragen, wo sie schlafen wollen. Verstehst du ?« Er drehte Declan so, dass er aus seiner sicheren Umarmung in den Shannon blicken konnte. »Diese flachen Steine da werden in der Sonne warm und die kleinen Fische schlafen gern an einem warmen Ort.«

Das galt wohl auch für kleine Jungen. Paul spürte bereits, wie Deckel sich entspannte, als er sein Gesicht an die Schulter seines v aters lehnen konnte. Paul wandte sich um und ging zum Herrenhaus hinauf. Als er die Carraig Road erreichte, erblickte er Yusai, die gerade die steile Auffahrt entlangeilte und mit einer Hand voll Papier winkte. Auf ihrem Gesicht lag dieselbe freudige Erregung wie in Declans Stimme, als er dem Schloss im Shannon seinen Namen entgegengerufen hatte.

»Paul! Liebling!«, rief Yusai in ihrem wohlklingenden Englisch. »Sie verlangen schon nach dir! Die Bonzen aus Brüssel! Sie wollen, dass du in der vierten Woche dieses Monats dort erscheinst!« Jetzt, als sie ihm näher war, versetzte der seltsame Ausdruck in Pauls Gesicht Yusai einen plötzlichen Schreck. Stimmte etwas nicht? War dem kleinen Deckel vielleicht etwas passiert?

»Alles in Ordnung, Liebling.« Paul warf einen Seitenblick auf seinen Sohn. »Nur etwas erschöpft nach all der Sonne und Aufregung, nehme ich an. Er konnte nicht aufhören, sich mit Mr. Echo zu unterhalten!«

»Hier.« Mit offensichtlicher Erleichterung übergab Yusai ihrem Mann das Fax und streckte die Arme nach ihrem Sohn aus. »Gib mir meinen müden kleinen Jungen.«

Deckel schlug ziemlich schläfrig die Augen auf. »Ich habe einen Fisch gesehen, Mami ...« Mit kindlichem Ernst schaute er zum Fluss zurück.

Pauls Furcht erfasste ihr eigenes Herz. »Was ist da unten passiert, Paul?«

»Überhaupt nichts.« Wieder ganz bei sich überflog Paul bereits das Fax, das seine Frau in solche Aufregung versetzt hatte. »Na also! Jetzt werden wir die Gladstones von Brüssel! Und hast du das gesehen? Die Nachricht ist von Cyrus Benthoek persönlich unterzeichnet.« Paul war außer sich vor Begeisterung. »Der Bonze aller Bonzen! Höher geht's gar nicht mehr!«

 

»Kommen kleine Fische in den Himmel, Mami? Mag der liebe Gott sie auch?«

Yusai zog die Decke über ihren schläfrigen Jungen. »Natürlich, mein Kleiner. Natürlich mag er sie.«

»Genau derselbe Himmel, wo die Engel und der kleine Hänfling sind?« Der kleine Hänfling, Deckels Kanarienvogel, war im letzten Winter gestorben.

»Ja, Liebling. Genau derselbe.« Yusai sprach langsam und beruhigend, doch ohne sonderliche Überzeugung. Sie hätte genauso gut ein Schlaflied singen können. »Alle Engel Gottes passen auf die kleinen Fische und Vögel auf ...«

Yusais Stimme verstummte. Erschöpft von seinen heutigen Abenteuern war Declan schon fast eingeschlafen. Sie streichelte dem Kind, das seinem Vater so ähnlich war, noch einmal sanft und liebevoll über die Wangen.

Yusai musste lächeln. Aus Liebe zu ihrem Mann hatte sie sich seiner Entscheidung gefügt, dass ihr Kind in katholischem Glauben und Gebet erzogen werden sollte. Deshalb kannte sie zumindest Bruchstücke des katholischen Katechismus; und deshalb konnte sie Deckels Fragen über Gott und kleine Fische beantworten. Sie selbst aber blieb das Kind konfuzianischer Kultur und Weltanschauung, einmal abgesehen von jenen so bildhaften, aber unsichtbaren Kräften, die noch immer das Denken einfacher Chinesen bestimmten.

 

Yusai Kiang hatte schon Mitte der Achtzigerjahre ein Auge auf Paul Thomas Gladstone geworfen. Als fünfundzwanzigjährige graduierte Studentin an der Pariser Sorbonne war sie Gast der belgischen Regierung bei einer internationalen Konferenz über chinesisch-europäische Beziehungen in Brüssel gewesen. Sie hatte sich fast auf den ersten Blick in ihn verliebt. Er war ihr wie eine Art Gott in Menschengestalt vorgekommen oder, wie sie ihm in einem späteren zärtlichen Moment gestand, wie einer jener »Himmelsboten« in der traditionellen chinesischen Mythologie, von denen man sagte, sie stiegen zu den Sterblichen herab, um ihre Mühsal zu teilen und ihnen Glück zu bringen.

Jedenfalls hatte die Zeit nicht einmal ihren romantischen ersten Eindruck von Paul trüben können. Das Mandarin-Chinesisch, das er in Peking gelernt hatte, ging ihm so glatt, verständlich und fehlerlos über die Lippen wie sein Französisch. Sie amüsierte sich über die Spur texanischen Akzents, die sein Ostküstenenglisch färbte. Er betrachtete die Gemeinschaft der Nationen aus einem wahrhaft globalen Blickwinkel und sie sah in Paul eine Dimension, die ganz ihrer eigenen Familientradition entsprach. Eine Dimension, welche man nur bei Menschen antraf, die seit Generationen einer aller menschlichen Existenz innewohnenden Not ihren anhaltenden Erfolg und Wohlstand entgegenstellten.

Yusai war außerstande sich von dem Fenster vor Declans Zimmer abzuwenden. Es war, als sei sie wie verzaubert von der Verwundbarkeit, die Paul heute für einen kurzen Augenblick gezeigt hatte. Und es war, als habe diese Verwundbarkeit etwas mit den Geheimnissen dieses isolierten Zufluchtsorts zu tun. Es war dumm, einfach hier zu sitzen, sagte sie sich, als könne sie urplötzlich die Dinge in einem neuen Licht sehen, sie begreifen und sich ihnen stellen. Mit einem weiteren Blick über die Carraig Road und die Flussmündung beschloss Yusai sich mit diesem unbehaglichen Gefühl abzufinden. Es geschah ja nicht zum ersten Mal und es würde wohl auch kaum das letzte Mal sein.

 

Paul ging in sein Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses. Cyrus Benthoek hatte darauf bestanden, dass Gladstone sich direkt bei ihm in London melden würde, bevor er zu seinem neuen Posten als Generalsekretär - und zu seinem neuen Leben - nach Brüssel abreiste.

Während er seine Antwort aufsetzte, hatte er Deckels Begegnung mit dem »grünen Fisch« schon fast vergessen. Stattdessen überlegte er, zu Recht mit sich zufrieden, wie weit er in so kurzer Zeit mit seiner geplanten Karriere vorangekommen war. Und als er an sein bevorstehendes Zusammentreffen mit dem unverwüstlichen Cyrus Benthoek dachte, ging ihm auch durch den Kopf, mit welcher Sorgfalt der alte Knabe ihn von Anfang an auf emen politisch korrekten und ideologisch sauberen Lebensweg in einer transnationalen Welt dirigiert hatte. Natürlich hatte Paul damals auf solche Anleitung nicht viel Wert gelegt. Genauso wenig übrigens wie heute.

Nachdem er seine Antwort an Cyrus Benthoeks Büro in London gefaxt hatte, war Paul reif für eine Dusche und freute sich auf einen Drink mit Yusai vor dem Abendessen. Der erste Schauer warmen Wassers auf seinem Körper erinnerte ihn wieder daran, wie gefährlich weit sich Deckel über diesen flachen Felsen im Shannon hinausgebeugt hatte um seinen »grünen Fisch« zu untersuchen. Unsinn, entschied er und spülte sich die Seife ab, als könne er so den Vorfall den Abfluss hinunterspülen. Yusai hatte die richtige Einstellung zu solchen Dingen, sagte er sich. Ihre konfuzianische Weltanschauung - ihre Vorstellung von Ordnung und Ruhe, ihre entschiedene Ablehnung von Rätseln und Aberglauben -, das war es, was er an ihr schätzte.

Natürlich schätzte er mehr als nur das. Sie hatte ihn immer fasziniert. Yusai hatte jedes Stereotyp über chinesische Frauen infrage gestellt, das Paul noch mit sich herumgeschleppt haben mochte. Sie war eleganter und geschliffener als alle jungen Frauen, die er vor ihr kennen gelernt hatte. Sie war außerordentlich gebildet, sprach drei westliche Sprachen ebenso flüssig wie Japanisch, Russisch und natürlich ihre Muttersprache Mandarin. Sie schien keinerlei Vorurteile zu hegen und sich doch den meisten überlegen zu fühlen und dies auch zu sein. Und wie Cessi und Tricia war Yusai alles Geschmacklose und Kitschige ein Gräuel. Als Paul Yusai kennen lernte, war die transnationale Idee und Lebensweise bereits zu seinem höchsten Ideal geworden. Für Paul war Yusai deshalb nicht einfach nur elegant und geschliffen, schön, witzig und wundervoll provokativ. Im buchstäblichen Sinne war sein Traum in Fleisch und Blut in sein Leben spaziert. Yusai war sein Ideal.

Das galt aber nicht für andere - insbesondere nicht für Cessi. Die schreckliche Szene in Windswept House, als Paul nach Hause geflogen war um seine Mutter über die geplante Hochzeit zu unterrichten, hatte ihm dies schmerzhaft klar gemacht. Überraschenderweise hatten auch einige enge Kollegen Pauls Bedenken gegen Yusai Kiang als die zukünftige Mrs. Paul Gladstone gehabt. Besonders ein Seniorpartner hatte rundheraus behauptet, dass die Kiangs wahrscheinlich »internationale Betrüger seien«. Wie sonst, hatte er gefragt, hätte der alte Kiang mit Mao Tsetung und mit Tschou Enlai und mit Deng Xiao-ping auf gutem Fuße stehen können?

Cyrus Benthoek hatte sich aus den Auseinandersetzungen um Pauls geplante Heirat mit Yusai herausgehalten.

Aber Nicholas Clatterbuck, Benthoeks Verwaltungschef, hatte Gladstone seine Unterstützung zugesichert, und das war fast genauso wichtig. Wie jeder andere in der Firma hatte er Clatterbuck als eine Art Großvaterfigur in Tweed betrachtet. Aber niemand in der Firma hatte Zweifel an Cyrus Benthoeks Wertschätzung für Clatterbuck. Und niemand stellte seine Autorität infrage oder seine Fähigkeit jede Situation im Großen wie im Kleinen zu bewältigen. Und so hatte Paul auch auf seinen Wink hin und mit seinem stillen Einverständnis alle Partner der Firma noch vor der Hochzeit zu einem Essen eingeladen. An diesem Abend hatte Yusai sie bis zum letzten Mann mit ihrem Charme für sich gewinnen können.

 

»Guter Auftritt, Gladstone! Oder soll ich sagen, Herr Generalsekretär?«

Paul hatte kaum sein Eckbüro im dreiunddreißigsten Stock des Londoner Firmensitzes betreten, da stand auch schon Nicholas Clatterbuck vor ihm.

»Danke, Nicholas.« Paul nahm die Gratulation mit einem breiten Lächeln entgegen. »Ist Benthoek schon hier?« Es war kaum acht Uhr.

»Er ist bereits da und hat mich gebeten Sie persönlich zu ihm hinaufzubringen, wenn Sie eingetroffen sind.« Die beiden Männer begaben sich zum Privataufzug, der sie in Cyrus Benthoeks Penthouse-Büro bringen sollte. »Nachdem Sie mit Benthoek alles besprochen haben, werden wir Sie ein paar Tage hier in London brauchen. Es gibt einiges zu erledigen. Danach werden Sie in erster Linie über Benthoek persönlich mit uns in Verbindung stehen. Er hat einen ausschließlichen Anspruch auf Sie, solange Sie für diese Europäerbande arbeiten.«

Die Aufzugtüren glitten im Penthouse-Geschoss lautlos auseinander. Cyrus Benthoeks Privatsekretärin steckte, als sie ihre Stimmen hörte, den Kopf in den Korridor und rief die beiden ins innere Heiligtum hinein.

In den zehn Jahren seit Pauls erstem Gespräch hatte sich in Benthoeks Büro nicht das Geringste geändert. Immer noch stand dort dieser riesige Schreibtisch mit seiner eigentümlichen Einlegearbeit, die das Großsiegel der Vereinigten Staaten darstellte. Wie immer lagen einige Stöße von Dokumenten sorgfältig auf der übergroßen Tischplatte aufgestapelt. Und immer noch überwachte das Porträt von Elihu Root die Szene wie ein Mahner, der nie alterte. Und vor allem hatte Cyrus Benthoek selbst sich nicht verändert. Er war immer noch groß und von aufrechter Haltung und der Blick seiner blauen Augen so unerschütterlich ruhig wie seine kräftigen Hände.

»Ich habe Sie kommen lassen, junger Mann ...« Von Benthoek waren offenbar keine Gratulationen zu erwarten. »Ich habe Sie kommen lassen um Sie darüber zu unterrichten, dass Sie durch das Zusammentreffen einiger unerwarteter Umstände, auf die keiner Ihrer Vorgesetzten einen direkten Einfluss hatte, auf eine Position von außerordentlicher Bedeutung befördert worden sind. Und das erste wichtige Datum in Ihrem Terminkalender wird der 10. Dezember sein.« Er fixierte Paul mit einem Blick wie eine Eule eine Maus. »Sie wissen Bescheid über die Sitzung in Maastricht, ja?«

»Nur das Wichtigste, Sir.« Wie jeder, der sich für transnationale Angelegenheiten interessierte, wusste Paul, dass die EG-Ratsminister sich am 10. Dezember im holländischen Maastricht treffen würden um ihre Planungen für die endgültige politische und finanzielle Einigung der Staaten der Europäischen Gemeinschaft abzuschließen.

»Gut!« Benthoek lächelte seinen jungen Protege gönnerhaft an. »Sie wissen also, was Sie nicht wissen. Und das ist aus meiner Sicht der erste Schritt zur Weisheit. In diesem kritischen Stadium - nachdem Sie sich mit Ihren Amtspflichten in Brüssel vertraut gemacht und ihre persönlichen Assistenten ernannt haben - besteht Ihre dringlichste Aufgabe zwischen dem heutigen Tag und dem 10. Dezember darin, sich gründlich über jeden Einzelnen der zwölf Minister im Rat zu informieren. Und ebenso gründlich über die siebzehn EG-Kommissare.«

Benthoek stand hinter seinem Schreibtisch auf und stellte sich unter das Porträt Elihu Roots. »Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das ist, Mr. Gladstone. Sie müssen jeden Einzelnen dieser neunundzwanzig Männer individuell kennen lernen. Im Detail. Persönlich. Politisch. Finanziell. Lernen Sie sie kennen - ihre Bundesgenossen, ihre Gehilfen, ihre Freunde, ihre Feinde, ihre Vorlieben und ihre Abneigungen, ihre Schwächen und ihre Stärken. Und vor allem im Fall der Minister: ihre Beziehungen zu den Regierungen in ihrer Heimat, und zwar in allen Einzelheiten. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

Zufrieden, dass seine wichtigste Warnung angekommen war, entspannte Benthoek sich ein wenig und ging die wenigen Schritte zu seinem Schreibtisch zurück, um näher darzulegen, was ihn sorgte. Er fuhr damit fort, die entscheidende Spaltung innerhalb der EG zu schildern - die Tatsache, dass die eine Hälfte der Mitgliedstaaten für eine enge Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg eintrat, während die andere dagegen opponierte. »Und natürlich« - Cyrus klang jetzt fast verschwörerisch -»gibt es noch die Konkurrenzorganisation zur EG. Unserer Meinung nach, Mr. Gladstone, ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unter allen heute tätigen Organen dasjenige, dem in Zukunft am ehesten eine Führungsrolle in Großeuropa zuzutrauen ist. Wir dürfen unser Heimatland nicht ganz vergessen, nicht wahr? Die Vereinigten Staaten sind ein voll berechtigtes Mitglied der KSZE. Und sie sind der größte Geldgeber hinter der Europäischen Bank für Aufbau und Entwicklung.

Worauf ich Sie aufmerksam machen möchte, Mr. Gladstone, ist der Umstand, dass wir in dieser Anwaltskanzlei überzeugte Euro-Atlantiker sind. Wir widmen uns dem Aufbau einer voll entwickelten globalen Ökonomie, die auf einem globalisierten Bankwesen aufbaut. Natürlich müssen Sie den EG-Kommissaren und dem Ministerrat dienen. Aber Sie dürfen die Position Ihrer Firma nicht vergessen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie weiter eng mit uns zusammenarbeiten - und zwar ausschließlich über mein Büro. Natürlich ...« Benthoek lächelte wie ein Professor, der sich freut einen begabten Schüler unterrichten zu dürfen. »Es gibt keinen Zweifel, wem Sie offiziell zur Loyalität verpflichtet sind.«

»Offiziell, Sir?«

»Offiziell, genau, Mr. Gladstone. Wenn Sie aus dem Tal auf den Berg hinaufsteigen, haben Sie eine Sicht auf die Talbewohner, die sich von Ihrer eigenen sehr unterscheidet. Vom Gipfel aus, Mr. Gladstone, haben Sie ein vollständiges Bild.« Der Alte beäugte Paul mit einem gleichermaßen eindringlichen wie befangenen Blick. »Ich nehme an, Sie wissen, wie ich das meine.«

Gladstone verfügte nicht über genug Erfahrung, um alles zu verstehen, was Benthoek mit diesen Worten anzudeuten versuchte. Zumindest nicht mit seinem Verstand. Doch es war eine natürliche Gabe von Cyrus Benthoeks eigentümlichem Charakter und Temperament, dass es ihm mit so einfachen Worten und in einem solch kurzen Augenblick gelungen war, in Pauls private Gefühlswelt einzubrechen. Mit diesem Blick hatte er es geschafft, in Pauls Herz zu dringen, jenen Teil von ihm, den jeder von uns vor den unvermeidlichen Verheerungen zu bewahren versucht, die gewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen uns allen zufügen.

In diesem Augenblick und nach diesen wenigen Worten hatte Paul den Eindruck, als habe er eine plötzliche innere Veränderung durchgemacht, gegen die er hier und jetzt nichts ausrichten konnte. Es war, als sei ihm der vertraute Boden - die vertraute und geliebte Szenerie seines familiären Umfelds, seine Yusai, sein Declan, sein Liselton, sein Windswept House, seine Familie - unter den Füßen weggezogen worden und vor seinen Augen verschwunden.

Pauls unerwartete und unfreiwillige Reaktion war teils Panik, teils Belustigung. Das Gefühl der Belustigung sagte ihm: Ohne persönliches Gepäck kann man höher und höher fliegen. Das Gefühl der Panik sagte ihm: Du wirst zu niemandem gehören; niemanden wird es kümmern, was mit dir geschieht. Und eine leise Stimme flüsterte traurige Selbstvorwürfe: Dieser Dämon des lieblosen Höhenflugs hat dich immer begleitet, war immer Teil von dir.

Cyrus Benthoek bemerkte offensichtlich den verwirrten Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes. »Es kostet Zeit, Mr. Gladstone.« Er klang jetzt fast väterlich, fürsorglich und verständnisvoll. »Es kostet Zeit, sich daran zu gewöhnen. Machen Sie einen Schritt nach dem anderen.« Er schob die schon sorgfältig aufgestapelten Dokumente auf seinem Schreibtisch zurecht. »Lassen Sie's mich Ihnen auf eine andere Art nahe bringen. Inzwischen haben Sie doch sicher schon bemerkt, dass die Dinge nie ganz das sind, was sie auf dem ersten Blick zu sein scheinen, nicht wahr? Zumindest nicht in diesem Leben. Stimmen Sie da mit mir überein?«

Obwohl er die Worte hörte und dem kühlen Blick begegnete, den Benthoek auf ihn richtete, war dies hier aus Pauls Sicht kein Gespräch mehr zwischen ihm selbst und dem Präsidenten dieser renommierten und mächtigen transnationalen Anwaltskanzlei. In diesem Augenblick wirkte Cyrus Benthoek eher wie ein ehrwürdiges, Mensch gewordenes Museum spröder Wahrheiten über die menschliche Befindlichkeit. Wie jemand, der an einem Ort lebt, wo man nicht über die Blindheiten dieser Befindlichkeit urteilt oder ihre schwächlichen Züge bemitleidet. Gladstone versuchte sich zu räuspern, versuchte etwas zu sagen. Aber sein Mund war völlig trocken geworden.

Benthoek fuhr ungerührt fort. »Sie und ich und unser Mr. Clatterbuck - wir alle, die wir auf so hoher Ebene agieren - sind nicht mehr bloß ehrgeizige und fähige Kollegen in einer wichtigen transnationalen Firma. Und wir reagieren nicht mehr nur nach bestem Vermögen auf zufällige Ereignisse im tagtäglichen internationalen Wettbewerb.

Wenn es so wäre, Mr. Gladstone, säßen Sie nicht dort, wo Sie jetzt sitzen. Noch säße ich da, wo ich jetzt sitze. Instinktiv wissen Sie das. Oder nicht, Mr. Gladstone?« Es war weniger eine Frage als ein Befehl; jedenfalls fasste Paul den Satz als eine rhetorische Frage auf.

»Nun.« Unausweichlich war der Augenblick gekommen, da Cyrus Benthoek die Hände zu seiner typischen Oranten-Geste hob. »Damit schließt sich der Kreis. Sie wissen sicher noch, dass ich unser kleines Gespräch mit einem Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung Ihres neuen Postens begonnen habe. Ich bin mir außerdem sicher, dass Sie nicht glauben nur wegen ihrer schönen blauen Augen, wie man so sagt, zum EG-Generalsekretär ernannt worden zu sein. Und nicht einmal wegen Ihrer Talente, die zugegebenermaßen bewundernswert sind.

Es ist einfach nur so, dass Ihr Hintergrund - die Person, die Sie durch Familie, Ausbildung, Karriere und Ehe geworden sind - Sie zufällig zum geeigneten Mann für einen Posten macht, der von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der gesamten menschlichen Entwicklung ist. Wie er sagen würde, Mr. Gladstone« - Benthoek stand langsam auf und lächelte erst das Porträt von Elihu Root hinter und dann Paul vor sich an -»bewahren Sie Ihren Glauben und folgen Sie den Fußstapfen unser aller Herrin Geschichte durch den Sand der menschlichen Zeiten. Wenn Sie das weiterhin tun, habe ich nicht den leisesten Zweifel, dass Ihnen noch die ganze Bedeutung dessen aufgehen wird, was ich Ihnen heute Morgen gesagt habe.

Viel Glück, Mr. Gladstone. Und Gott segne Sie.«

 

 

XXV

Am ersten Montag im Oktober, nachdem er sich in seinem neuen Eckbüro im zweiten Stock des päpstlichen Palastes bequem eingerichtet hatte, war Seine Eminenz so weit sich dem ersten Punkt seines dreistufigen Plans zuzuwenden, den er vor kaum fünf Monaten Cyrus Benthoek und Dr. Ralph Channing beschrieben hatte. Jegliches Heimweh nach seinem früheren Amt, dem der kleine Kardinal vielleicht noch nachgehangen haben mochte, wurde gründlich hinweggefegt von der Größe seiner Aufgabe eine neue Form von Einheit in seine kirchliche Organisation einzuführen und dieser Organisation zu einer neuen Form von Einheit mit der Gemeinschaft der Nationen zu verhelfen.

Es war deshalb keine übertriebene Behauptung, dass sein Rücktritt von den zehrenden Pflichten eines vatikanischen Staatssekretärs, der die inneren und äußeren Angelegenheiten des Heiligen Stuhles zu dirigieren hatte, kaum zu einem günstigeren Zeitpunkt hätte erfolgen können. Noch hätte sein Übergang zu einer höheren Ebene der Aktivität, wie er es empfand, kaum müheloser und vielversprechender vonstatten gehen können. Paul Gladstone befand sich in Brüssel und leistete als neu eingesetzter EG-Generalsekretär bereits gute Arbeit. Von Kardinal John Jay O'Cleary hatte er erfahren, dass Pater Christian Gladstone das Angebot eines ganzjährigen Postens in Rom angenommen hatte. Und am meisten freute ihn, dass er auf seinen letzten offiziellen Brief als Staatssekretär an die diplomatischen Vertreter des Heiligen Stuhles in zweiundachtzig Ländern überall auf der Welt genau die gewünschten Antworten erhalten hatte.

Dieser behutsam formulierte Brief hatte sich als eine der reifsten Arbeiten herausgestellt, die er je geleistet hatte. Ja, er hätte gar nicht erfolgreicher seinen Zweck erfüllen können die zentrale Frage des ganzen Plans zu beantworten. Und diese Frage lautete: Wie sehr fühlten sich die viertausend Bischöfe der katholischen Kirche tatsächlich eins mit dem Papst?

Wie Maestroianni erwartet hatte, betonte die formlose Umfrage/ die die diplomatischen Vertreter auf seine Bitte hin durchgeführt hatten, nicht nur die mangelnde Einheit zwischen dem Papst und seinen Bischöfen.

Sie verhalf Kardinal Maestroianni außerdem zu einer Liste jener Bischöfe, deren Einstellung zu diesem Thema noch ein gründliches Überdenken erforderte. Ebenso deutlich wurde die mangelnde Einigkeit unter den Bischöfen selber, welche Form von Einheit zwischen ihnen und dem Heiligen Stuhl am wünschenswertesten sei.

Antworten, die zusammengenommen von einem so völligen Mangel an Übereinkunft zeugten, hätten auf bloßes Chaos schließen lassen können. Doch dem kleinen Kardinal lieferten sie eine nützliche Karte, nach welcher er den Kurs, auf den man sich in Straßburg geeinigt hatte, ausrichten konnte. Schon Anfang Oktober hatte Kardinal Maestroianni die beiden hauptsächlichen Marschrichtungen der Arbeit abgesteckt, die vor ihm lag.

Die erste und leichtere Initiative umfasste nichts Aufwendigeres als ein wenig altmodische Feldforschung. Mit Pater Christian Gladstone in Rom und seinem Bruder Paul als Generalsekretär der Europäischen Gemeinschaft hatte Maestroianni jetzt die Möglichkeit die Bedürfnisse und die Schwächen jedes wichtigen Bischofs einzuschätzen. Und mit entsprechenden politischen Zuwendungen wäre es ihm möglich, sich gleichermaßen ihrer Bedürfnisse und ihrer Schwächen zu bedienen.

Mit anderen Worten der Kardinal hatte, wie Channing und Benthoek gegenüber angekündigt, einen Prozess angestoßen, durch den er selbst die konservativsten Bischöfen zu einem tiefen Verständnis dessen hinlenken konnte, wie die Zuwendungen und Rücksichtnahmen, die sie von weltlichen Autoritäten erwarteten, konkret von einem neuartigen Brückenschlag zur äußeren Welt abhingen und somit auch von einer neuen Form der Kirchenleitung.

Die zweite Initiative Kardinal Maestroiannis war komplizierter. Dabei handelte es sich um das bürokratische Vorhaben, das er Channing und Benthoek so offen dargelegt hatte. Der Plan, die vielschichtigen Bischofskonferenzen überall auf der Welt zu einem Sprachrohr der »Gemeinsamen Gedanken der Bischöfe« umzufunktionieren. Obwohl die Einzelheiten des Prozesses nach wie vor erste Beachtung erforderten, verfügte Seine Eminenz über einen fein abgestimmten Instinkt für die perfekte bürokratische Maschinerie.

Der letzte Schritt - die Umgestaltung der »Gemeinsamen Gedanken der Bischöfe« zu einem kanonisch gültigen Instrument, mit dem man ein Ende des gegenwärtigen Pontifikats herbeiführen konnte und damit ein Ende des Papsttums, wie man es bisher kannte - würde sich dagegen auf einige zusätzliche bürokratische Eingriffe reduzieren, wenn das Verfahren erst einmal in Gang gesetzt war. Das Vorgehen, wie Maestroianni es umrissen hatte, würde alle Aufmerksamkeit benötigen. Es in der relativ kurzen Zeitspanne durchzuführen, auf der Dr. Channing bestanden hatte, würde selbst Cosimo Maestroiannis Talente und Erfahrung auf eine harte Belastungsprobe stellen. Der Kardinal würde die Zügel persönlich fest in der Hand halten müssen. Alles musste umgehend erledigt werden, aber mit Methode und professioneller Sorgfalt.

Der Terminkalender Seiner Eminenz war daher schon randvoll mit wichtigen Konferenzen, Planungssitzungen und privaten Terminen. Natürlich würde er dem gesellschaftlich gewandten, aber politisch naiven Christian Gladstone seine Anweisungen geben müssen. Aber in dieser Hinsicht rechnete Maestroianni mit keinerlei Komplikationen. Zuerst würde er ihn damit beauftragen, sich über die Bedürfnisse wichtiger europäischer Bischöfe, dann der amerikanischen Bischöfe zu unterrichten. Und mit ein wenig Hilfe von Cyrus Benthoek hinter den Kulissen würde er sich die Unterstützung seines Bruders sichern um diese Bedürfnisse durch die bedeutenden Kontakte zur EG, die der Posten des Generalsekretärs mit sich brachte, zu befriedigen.

Die revolutionäre Arbeit innerhalb der Bischofskonferenzen - insbesondere die Arbeit, die ersten überzeugenden Vorreiter im Lager der Bischöfe auszuwählen und einzuweisen - würde einige heikle Urteile erfordern. Die Strategie musste immer darin bestehen, auf Stärke zu bauen. In der gegebenen Situation bedeutete das sich zunächst auf jene Konferenzen zu konzentrieren, die von solchen Bischöfen geleitet wurden, deren Namen weit über ihren Amtsbereich hinaus Autorität genossen. Bischöfe wie jener bemerkenswerte Kardinal von Centurycity in den Vereinigten Staaten zum Beispiel. Ein Jammer, dass es nicht mehr von seiner Sorte in den Weinbergen der Kirche gab. Weiter verkompliziert wurde Maestroiannis Plan durch den Umstand, dass die nicht klerikale Seite der ganzen Angelegenheit beachtet und ausbalanciert werden musste. Cyrus Benthoek war ebenso Teil dieses brillanten Plans wie Maestroianni selbst und schließlich galt es, die potenziell mächtige neue Allianz mit Dr. Ralph Channing zu fördern.

So wichtig all das auch war, so wusste doch niemand besser als Kardinal Maestroianni, dass es selbstmörderisch wäre, in den weltweiten Weinbergen der Kirche zu arbeiten ohne den Kardinalstaatssekretär einigermaßen auf dem Laufenden zu halten. Natürlich stand es nicht zu Debatte, Seine Eminenz Graziani in die näheren Einzelheiten des Plans einzuweihen. Das wäre zu viel verlangt von einem politisch so zurückhaltenden Mann wie dem neuen Staatssekretär. Nichtsdestotrotz war Graziani inzwischen der zweitmächtigste Mann im Vatikan - zumindest dem Titel nach. Die politische Realität verlangte es daher, dass er informiert blieb. Praktische Notwendigkeiten erforderten seine Kooperation in einigen peripheren Details. Und weise Voraussicht verlieh einem persönlichen Gespräch mit dem Staatssekretär höchste Priorität.

 

»Äußerst wichtige Nachrichten, Euer Eminenz!« Am frühen Morgen dieses ersten Montags im Oktober betrat Kardinal Maestroianni mit einer Selbstverständlichkeit, als gehöre es noch ihm, sein altes Büro.

Der neue und unerfahrene Staatssekretär nahm diesen frühmorgendlichen Enthusiasmus souverän auf. Schon vor seiner Beförderung hatte Giacomo Graziani begonnen sich der Last seines neuen Amtes entsprechend zu verhalten. Jetzt, mit dem roten Kardinalshut versehen und seines neuen Amtes sicher, ähnelte seine Erscheinung auf positive Weise der einer Buddhastatue. Die Hände über dem massigen Bauch verschränkt reagierte er auf Kardinal Maestroiannis gehobene Stimmung mit einem freundlichen Lächeln, einem langsamen, doch unverbindlichen Blinzeln und einem Nicken zur Begrüßung in Richtung des Besuchersessels auf der anderen Seite jenes Schreibtisches, der nun ihm gehörte.

Trotz seines ungewohnten Verhaltens machte sich Kardinal Maestroianni keine Illusionen über Giacomo Graziani. Um sich in seinem Verhältnis zum polnischen Papst nicht in eine Sackgasse zu manövrieren, hatte er Grazianis Beförderung zum Staatssekretär unterstützt, aber er betrachtete ihn nicht als seine Schöpfung. Graziani war keine Marionette. Er war ein ruhiger und konservativer Mann. Ein Diplomat durch und durch, ohne Neigung zu Extremen in seinem Denken oder seiner Arbeit; niemals Günstling, doch zugänglich und lernwillig. Seine größte Stärke bestand darin, dass er keiner anderen Ideologie anhing als der, am Ende immer auf der Gewinnerseite zu stehen.

»Äußerst wichtige Nachrichten«, wiederholte Maestroianni und zog seine Aufstellungen aus einem Ordner, den er mitgebracht hatte. »Ich bin sicher, Euer Eminenz erinnern sich an den Brief, den ich letzten Mai an unsere diplomatischen Vertreter überall auf der Welt geschickt habe.«

Graziani betätigte es mit einem einzigen langsamen Blinzeln. Er erinnerte sich gut an Maestroiannis Absicht hinter blumigen Worten brutale Fragen zu verbergen.

Lässig wie ein Pokerspieler, der vier Asse auf der Hand hat, legte Maestroianni die maschinengeschriebenen Seiten auf den florentinischen Schreibtisch aus dem achtzehnten Jahrhundert. Graziani beugte sich kaum vor um mit einer Hand die Seiten umzudrehen, während er sie überflog. »Diese Aufstellungen sind hochinteressant, Eminenz. Chaotisch, aber interessant, daran habe ich keinen Zweifel. >Äußerst wichtig< waren Ihre Worte, glaube ich. Was wollen Sie Sinnvolles mit diesen Daten anfangen?«

»Die Absicht ist die, Eminenz«, erklärte der ältere Kardinal, »auf Grundlage dieser Daten in nächster Zukunft genau zu ermitteln, was die Bischöfe als Gesamtkollegium für die Einheit der Kirche als notwendig erachten.«

Buddha blinzelte. So viel hatte er immerhin zur Kenntnis genommen. »Und nach welchen Maßgaben soll dies vonstatten gehen?«

Maestroianni hatte alles durchdacht und er wollte, dass der Staatssekretär dies wusste. »Wenn Euer Eminenz nach dem Ziel fragen, auf das wir hinarbeiten, dann lautet die Antwort, dass wir die Bischöfe fördern wollen. Wir wollen es ihnen leichter machen. Wir wollen ihnen helfen alle möglicherweise vorhandenen Bedenken abzulegen um ihre eigenen Meinungen und Gedanken zu dieser alles entscheidenden Frage zu klären. Aber vielleicht möchten Euer Eminenz verstehen, wie wir diese Erhebung durchzuführen gedenken. Unser wichtigstes Instrument wird das riesige weltumspannende Netzwerk der regionalen und nationalen Bischofskonferenzen sein, das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil herangewachsen ist. Ich neige dazu, jede Bischofskonferenz als eine Wesenheit für sich zu betrachten. Wir werden auf dieser Ebene der Gliederung arbeiten. Mit jeder einzelnen Konferenz wird diese Sache als gewöhnliche interne Angelegenheit abgehandelt. Wie immer werden wir Ausschüsse einberufen - Ausschüsse für innere Angelegenheiten. Unser Ziel ist ein Ausschuss für jede Konferenz.«

Graziani sah noch einmal die von zweiundachtzig vatikanischen Diplomaten gesammelten Daten durch. »Aha.« Der Staatssekretär hob eine Braue. »Wir haben es also bald mit einer ganzen Reihe von Ausschüssen für innere Angelegenheiten zu tun? Mit einem weltweiten Netzwerk solcher Ausschüsse?«

Kardinal Grazianis Wertschätzung für die enorme Komplexität eines solchen Vorhabens sei begrüßenswert, sagte Maestroianni. Sehr erfreulich sogar. Im selben Atemzug jedoch und mit einer Spur von Schärfe in der Stimme versicherte er Graziani, dass das gute dutzend Jahre, die er selbst die Leitung des Staatssekretariats innehatte, seine Fähigkeiten bestätigt und ihm vertrauliche Kenntnisse über das Personal verschafft hatten.

»Glücklicherweise« - Maestroiannis Lächeln milderte die Bemerkung ein wenig - »haben wir bereits eine Anzahl guter Männer an den richtigen Stellen, die ihren Bischofskollegen sicher gern nahe legen werden die Frage der Einheit zu durchdenken. Gute Männer in europäischen Schlüsselgebieten natürlich. Und in den Vereinigten Staaten können wir sicher auf Seine Eminenz von Centurycity zählen. Ich wünschte nur, wir hätten mehr solche wie ihn.«

»Ah ja. Seine Eminenz.« Eine dunkle Wolke der Nachdenklichkeit überflog Grazianis Stirn wie die eines Buddhas. Der Kardinalstaatssekretär schien nun nicht mehr nur Interesse, sondern auch Verständnis für die Maschinerie aufzubringen, durch die Maestroianni die Bischöfe, was die Frage der episkopalen Einheit mit dem slawischen Papst anging, auf eine gemeinsame Linie zwingen wollte. Es gab aber noch einen anderen Bereich, der ihn interessierte: ein Bereich, der über die Frage der Amtsdauer des polnischen Papstes hinausging und das Amt selbst und die Rechtshoheit jedes Papstes als Vikar Christi auf Erden, die päpstliche Autorität als eine religiöse und soziale Kraft betraf.

»Einige Korrespondenten Euer Eminenz - nicht alle aus angelsächsischen Ländern - sprechen vom Papst als dem Vikar Petri.« Graziani blätterte mit den Fingerspitzen durch Maestroiannis Bericht. »Natürlich erinnere ich mich, dass auf der Sitzung in Straßburg, zu der mich Euer Eminenz im letzten Mai so großzügig eingeladen haben, dieser Begriff vom Jesuitengeneral, Pater Michael Coutinho, in seinen Ausführungen beiläufig erwähnt worden ist. Aber ist es nicht beunruhigend, dass er unter so vielen unserer Bischöfe kursiert?«

Ah Giacomo, dachte Maestroianni, wie scharfsinnig du doch bist. »Beunruhigend, Eminenz? Nicht im Mindesten. Aufschlussreich und anregend, ja. Aber nicht beunruhigend. Das ist nun einmal die entscheidende Frage.«

Unnötig zu erklären, dass für den Fall, wenn der Papst in Rom nur Vikar des Apostels Petrus als des ersten Bischofs von Rom war, die Logik zu dem Schluss zwang, dass kein individueller Bischof über oder unter ihm stand. Schließlich reichten die Wurzeln jedes Bischofs bis zu den Aposteln zurück; jeder Einzelne war der Vikar eines apostolischen Vorgängers. Wenn eine solche Betrachtungsweise in die offizielle Lehre Eingang fände, würde sie das Fundament für eine neue Autoritätsstruktur der Kirche bilden. Die zentralisierende Rolle des Papstes – darunter seine Rolle als offizieller, letzter und unfehlbarer Richter in Fragen des Glaubens und der Moral - wäre dann hinfällig. Die Macht würde von Rom auf die Gesamtheit der Bischöfe übergehen.

per Blick, den die beiden Kardinäle jetzt wechselten, war berechnend. Beide begriffen, was auf dem Spiel stand. Wie üblich schätzte Graziani die Chancen ab. Und wie üblich war Maestroianni sich seiner Sache sicher.

»Euer Eminenz.« Kardinal Graziani war nun mit jedem Zoll ein vatikanischer Diplomat. »Die Kirche - die Stimme der Kirche - muss sich in diesem Punkt eindeutig äußern.«

Maestroianni war ruhig, aber wachsam. Für den Augenblick war es nicht erforderlich, dass der Staatssekretär in dieser zentralen Frage mehr als eine neutrale Position bezog. »Genau das, Euer Eminenz, ist der Zweck dieses völlig neuen Vorhabens. Die Kirche wird entscheiden! Und übrigens«, fügte Kardinal Maestroianni wie eine Koda hinzu, »spricht das neue Messbuch, das zurzeit überall in der Kirche eingeführt wird, vom Bischof von Rom als dem Vikar Petri.«

»Das ist mir auch aufgefallen. Aber wir wissen alle, dass dieses neue Messbuch von Rom noch nicht offiziell abgesegnet ist. Wenn ich mich recht entsinne, wurde es von der Internationalen Kommission für die englische Sprache in der Liturgie ausgewählt. Oder zumindest von ihrem Anhängsel, den Beratern für englischsprachige Liturgie. Aber der Status der IKESL als eine päpstliche Vertretung steht noch zur Debatte.«

»Das ist der springende Punkt«, stimmte Maestroianni prompt zu. »Die Daten, die ich Euer Eminenz vorhin vorgelegt habe, deuten daraufhin, dass viele Bischöfe im Bischof von Rom nicht den alleinigen Vikar Christi auf Erden sehen, sondern lediglich den Vikar Petri. Das neue Messbuch entspricht diesem Glauben. Wenn nun der Bischof von Rom den Anspruch erhebt diese Frage entscheiden zu können, weil er der alleinige Vikar Christi zu sein glaubt, haben wir dann nicht den alten logischen Zirkelschluss einer Frage vor uns, die sich selbst beantwortet? Ist dies nicht die petitio principii des Thomas von Aquin oder des Aristoteles?«

»Vielleicht.« Graziani musste dem Kardinal Recht geben. Der war nicht einmal rot geworden, als er sich auf den heiligen Thomas von Aquin berief. »Dennoch, Eminenz, um es endgültig zu entscheiden, müssen wir die Meinung der Kirche erfahren.«

»Ganz sicher, Eminenz!« Maestroianni entschied, dass es an der Zeit sei, den Kreis ihrer Diskussion zu schließen. »Und wie sonst sollten wir diese Meinung erfahren, wenn nicht von den Bischöfen der Kirche? Von den Nachfolgern der Apostel?«

Die Andeutung eines Lächelns umspielte Grazianis Augen. »Und das aktuelle Vorhaben Euer Eminenz hat dies zum Ziel?«

»Genau das, Eminenz, und nur das! Bis es so weit ist, werden wir natürlich in der Lage sein den gegenwärtig angeschlagenen Zustand der kirchlichen Einheit einschätzen und verbessern zu können.«

Ein weiteres Mal zog Graziani sich hinter ein vorübergehendes Schweigen zurück. »Sagen Sie, Eminenz. Wie ist dieses Dokument eingestuft, das Sie mir heute Morgen vorgelegt haben?« »Im Moment >himmlisch<. Abteilungsinterne Vertraulichkeit genießt zurzeit höchste Priorität.«

Als »himmlisch« eingestufte Schriftstücke waren nur auf Kardinalsebene, wenn Bedarf danach bestand und nach dem letztlichen Gutdünken von Papst und Staatssekretär zugänglich. Abteilungsinterne Geheimhaltung war, wenn auch keine Eigenheit des Vatikans, so doch von ihm als ältester politischer Organisation der Welt zu höchster Vollendung entwickelt worden.

»Also unterliegen auch Folgemaßnahmen dieser Sicherheitsstufe und die Richtlinien abteilungsinterner Geheimhaltung sind streng einzuhalten?« Graziani wollte eine eindeutige mündliche Bestätigung. .

»Ja. Strengstens.« Als wolle er seine Bestätigung unterstreichen, nahm Maestroianni den Bericht zurück, der den Stoff für ihre Diskussion geliefert hatte. »Und aus offenkundigen Gründen. Wir reden hier über das Papsttum und letztendlich über die Kandidatur zum Papstamt. Gemäß kanonischem Recht ist dies ausschließlich und. spezifisch eine Sache des Kardinalskollegiums.«

»In welchem Stadium werden die Dinge nach Meinung Euer Eminenz auf päpstlicher Ebene eingreifen?« Maestroianni wusste nur zu gut, dass dies in der Sprache der romanitä so viel bedeutete wie: »Wann werden Sie den Pontifex mit dem Aufstand im eigenen Haus konfrontieren?«

»Wenn wir über genaue Anhaltspunkte verfügen, was die Bischöfe als Gesamtkollegium für die Einheit der Kirche als notwendig erachten.« Nach Grazianis Verständnis sagte Maestroianni damit nach Art der romanitä: »Wenn wir den Alten in die Enge gedrängt haben und ihm keine Wahl mehr bleibt als die totale Kapitulation in seiner Politik oder der Rücktritt vom Papstamt.«

Staatssekretär Kardinal Graziani blieb kühl. »Ich nehme an«, sagte er fast so, als sei er in Gedanken versunken, »dass Euer Eminenz wie üblich mit Kardinal Aureatini arbeiten?«

Maestroianni füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug. Graziani hatte keinen Zweifel gelassen, dass er wusste, was hier vor sich ging. Seine unvermittelte Frage lief auf eine vorläufige Übereinkunft hinaus, bis sich geklärt hatte, wie die Chancen stünden. »Aureatini steht zur Verfügung und er weiß, wie ich arbeite. Aber ich werde mich auch stark auf Kardinal Pensabene stützen. In einer Stunde treffe ich mich mit beiden in meinem Büro.«

Weil er von seinem Wesen und seiner Erfahrung her zu denen gehörte, die über Chancen entschieden, hatte Maestroianni den Namen Pensabenes nicht umsonst genannt. Denn wie jeder andere wusste Graziani, dass der leichenblasse, knochenfingrige Kardinal Pensabene sich wirklich bis an die Spitze emporgearbeitet hatte. Inzwischen war er so weit, dass in der Kanzlei des Vatikans nicht mehr viel ohne seinen Segen ging. Mehr noch, seine Stimmung würde jede Diskussion dominieren und er galt als aussichtsreichster Kandidat für ein zukünftiges Pontifikat.

Nachdem er diese Karte geschickt ausgespielt und alles angesprochen hatte, was ihm nötig schien, drängte es Maestroianni wieder an die Arbeit.

Es hatte allerdings den Eindruck, als sei der flügge gewordene Staatssekretär noch nicht ganz zufrieden. »Noch ein Letztes, Eminenz. Ich habe gestern aus dem Büro Euer Eminenz einen Passantrag für einen jungen Amerikaner erhalten. Pater Christian Thomas Gladstone.«

»Si, si. Infatti.« Von Maestroiannis Lippen bedeutete dieser Ausdruck, dass er verlegen war. Und dass er in dieser Beziehung mit Schwierigkeiten rechnete. Niemand wusste besser als er, dass das Privileg eines vatikanischen Passes nur sehr wenigen Individuen gewährt wurde, die nicht für das Staatssekretariat arbeiteten. Aber er hielt eine detaillierte Diskussion für unnötig.

»Ich war nur neugierig«, hakte Graziani vorsichtig nach, »warum dieser junge Mann auf der Stelle einen vatikanischen Pass braucht...«

»Der Pater wird unser Verbindungsmann zu vielen Bischöfen in der Europäischen Gemeinschaft und zu bestimmten Regierungsbereichen. Er braucht den Status, der ihm durch einen offiziellen Pass verliehen wird. Und es könnte gute Gründe für ihn geben, sich einen Pass der Europäischen Gemeinschaft ausstellen zu lassen. Wir müssen allen erdenklichen Eventualitäten vorbeugen. Mit einem vatikanischen Pass in der Tasche wird er leicht an einen EG-Pass kommen.«

»Bene! Bene!« Vorläufig gab Graziani sich mit den sachlichen Erklärungen des Kardinals zufrieden. Vielleicht war es besser, nicht zu viele Einzelheiten über diese düstere Angelegenheit zu wissen. Dennoch, die Tatsache, dass dieser Gladstone wichtig genug war um Maestroiannis Protektion zu genießen, machte ihn interessant.

Schließlich erhob sich der Staatssekretär aus seinem Stuhl. »Schicken Sie Pater Gladstone vorbei um seine Papiere abzuholen. Ich würde diesen Neuling unter den Mitarbeitern Euer Eminenz gern kennen lernen. Was den Rest angeht, halten mich Euer Eminenz natürlich au courant.«

»Natürlich.« Weil er seine Ungeduld endlich zu gehen kaum noch beherrschen konnte, war Maestroianni aufgesprungen. »Euer Eminenz waren sehr großzügig mit Ihrer Zeit.«

 

Maestroianni dankte dem Himmel, dass ihm Kardinal Silvio Aureatinis ausdauernde Arbeitskraft und Kardinal Leo Pensabenes Wissen über die ekklesiastische Maschinerie und ihr Personal zur Verfügung standen. Beide Kollegen teilten Maestroiannis Enthusiasmus und seine Interessen. Aber es war Pensabene, der über die meisten Quellen verfügte. Und als es um den verwickelten Plan ging, besondere Ausschüsse für innere Angelegenheiten - AIA - innerhalb der verschiedenen nationalen und regionalen Bischofskonferenzen einzurichten, brachte Pensabene den Schlüsselfaktor zur Sprache.

»Agenten des Wandels!<« Kardinal Pensabene tadelte Maestroianni und Aureatini zu Beginn ihrer ersten Arbeitssitzung mit einem knochigen Zeigefinger. »Wenn es uns gelänge >Agenten des Wandels< und >hochrangige Förderen in jeden AIA in jeder Bischofskonferenz einzuführen, könnten wir unseren knappen Zeitplan einhalten. Ohne sie können wir nur beten - wenn Sie mir die Formulierung verzeihen.«

Pensabene bemerkte, dass noch einiges zu erklären war, bevor seine beiden Kollegen seine Erkenntnis zu teilen vermochten. Er war zu dem Schluss gekommen, dass ein Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme in verschiedensten Erscheinungsformen jenes abstrakten Zweiges der Philosophie namens Phänomenologie zu finden war.

»Als ein leidenschaftlicher Student der Geschichte wissen Euer Eminenz sicher noch, dass diese Phänomenologie sich unter den Intellektuellen Mittel- und Osteuropas während der Zwanziger- und Dreißigerjahre großer Beliebtheit erfreute.«

»Allerdings, Eminenz.« Maestroianni behagte der Gedanke sehr, die Lösung für sein bürokratisches Problem könne unmittelbar aus dem Prozess der Geschichte hervorgehen. »Fahren Sie fort.«

Pensabene kam seinem Wunsch nach. »Es ist eigentlich ganz einfach. Die Lösung, zu der politische Bewegungen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren bei ähnlichen Problemen wie unserem gegriffen haben, bestand in den schon erwähnten >Agenten des Wandels< oder >Förderern<. Ein >Agent des Wandels< kann vielerlei sein: eine Institution, eine Organisation, ein einzelnes Individuum. Er kann aus dem öffentlichen oder privaten Bereich stammen - oder manchmal aus beiden. Es ist sogar denkbar« - Pensabene konnte ein seltenes Lächeln nicht unterdrücken -, »dass unser Netzwerk von Ausschüssen für innere Angelegenheiten, welches wir innerhalb der Bischofskonferenzen aufbauen, als ein solcher >Agent des Wandels< agiert. Ein derartiger Agent hat die Aufgabe, >alte< Werte und Verhaltensweisen durch >neue< zu ersetzen. Und dazu soll er psychologisch fundierte Techniken einsetzen, die speziell zur Überwindung gewohnheitsmäßigen Widerstands entwickelt wurden.

Der >Agent des Wandels< versucht eine Gruppe von Individuen oder Organisationen zu rekrutieren, die am ehesten für die gewünschte und stets attraktiv verpackte neue Geisteshaltung empfänglich scheinen. Wenn der Agent geschickt vorgeht, werden nur wenige diese neue Geisteshaltung als eine Pervertierung des Denkens betrachten. Solche Abweichler werden nicht weiter beachtet. Die erfolgreichen Schüler indessen, die aus der Vormundschaft des Agenten in völliger Hinnahme des neuen Denkens hervorgegangen, die mit anderen Worten >gefördert< worden sind, können nun ihrerseits zu Recht als >Förderer< betrachtet werden. In seiner Rolle als hochrangiger Förderen beauftragt der >Agent des Wandels< die neu Bekehrten damit, den Prozess zu wiederholen, also in die Welt hinauszugehen und ihren neuen Glauben zu verbreiten, so viele Menschen wie möglich vom >Alten< abzubringen und vom >Neuen< zu überzeugen. Während immer breitere Fundamente die Pyramide des Wandels aufstocken, so formt das gewünschte >neue< Denken Werte, Glauben, Einstellungen und Verhalten um.«

An diesem Punkt hielt es Maestroianni für angebracht, die Diskussion zu beenden. Er hatte betont, dass die Zeit ein entscheidender Faktor sei; und es traf wohl zu, dass kein anderes praktikables Handlungsmodell als das von Pensabene vorgeschlagene zur Verfügung stand. Aber was ihn eigentlich drängte die Debatte zu beenden und mit der praktischen Planung und Ausführung fortzufahren, war die Erkenntnis, wie nahtlos seine jüngst gesammelten Daten über die Bischöfe mit der ganzen Struktur und dem Prozess der »Förderung« zusammenpassten.

»Sie haben beide die Ergebnisse der inoffiziellen Umfrage studiert, die von Vertretern des Heiligen Stuhles durchgeführt worden ist.« Maestroianni breitete die maschinengeschriebenen Seiten vor sich aus. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, Eminenz. Aber es scheint mir, als sei der erste Schritt dieser >Förderung< - die Bestimmung unseres ideologischen Ziels - bereits vollzogen.«

Ein zufriedener Pensabene stimmte zu. »Unser Ziel ist es, dass der Papst freiwillig zurücktritt, damit unsere Kirche einen Papst bekommt, der die kostbare Einheit der Bischöfe mit dem Papsttum stützt - und nicht gefährdet.«

»Genau.« Maestroianni drängte jetzt energisch vorwärts. »Wir benutzen eine leicht unterschiedliche Terminologie. Was Euer Eminenz als >die neue Geisteshaltung< bezeichnen, habe ich in der Vergangenheit die >Wünschenswerte Einigheit< unter den Bischöfen genannt. Dank der Daten aus dieser inoffiziellen Umfrage können wir bereits eine Einteilung vornehmen, in welch unterschiedlichem Maße unsere Bischöfe von der Einheit überzeugt sind. Ohne Ausnahme sind sie weiterhin der Ansicht, dass die Einheit zwischen ihnen als Bischöfen und dem Papsttum von lebenswichtiger Bedeutung sei. Das ist der niedrigste Grad der Überzeugung, die unterste Ebene der Übereinstimmung. Aber die Daten beweisen, dass wir in einigen Bereichen bereits vier höhere Ebenen der Überzeugung unterscheiden können.

Auf der zweiten Ebene ist es vielen Bischöfen aufgefallen, dass die gewünschte Einheit zurzeit nicht besteht und dass etwas unternommen werden muss um eine derartige Einheit wiederherzustellen.

Auf der dritten Ebene ist eine geringere, doch immer noch nennenswerte Anzahl von Bischöfen der Ansicht, dass die gewünschte Einheit nicht als eine Beziehung zwischen dem Papst und individuellen Bischöfen, sondern zwischen dem Papst und den regionalen und nationalen Bischofskonferenzen betrachtet werden sollte. Das kommt uns sehr entgegen, denn innerhalb dieser Gruppe kann jedes Scheitern dieser Beziehung auf eine Frage bürokratischer Komplikationen reduziert werden.

Ebenso viel versprechend ist eine kleinere Gruppe von Bischöfen, die ein Versagen der Einheit einem persönlichen Versagen zuschreiben. Einfach ausgedrückt glauben diese Bischöfe, dass die Persönlichkeit des Papstes der ersehnten Einheit entgegensteht.

Und das führt uns zur höchsten Ebene der Einsicht, die bisher nur eine verschwindende Minderheit der Bischöfe erreicht hat. Die rare Überzeugung, dass der polnische Papst zum Segen der Einheit und mit gutem päpstlichen Gewissen zurücktreten und dem Heiligen Geist erlauben sollte einen Papst zu erwählen, der diese Einheit gewährleisten und stärken kann.«

Kardinal Pensabene hob den Blick von den Datenreihen. »Gute Arbeit, Eminenz! Sie haben Ordnung in eine oberflächlich betrachtet chaotische Situation unter den Bischöfen gebracht. Und Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass eine erhebliche Anzahl von Bischöfen das Scheitern der episkopalen Einheit mit dem Papsttum als eine Frage bürokratischer Komplikationen betrachten. Ihr ursprünglicher AIA-Plan ist offensichtlich machbar. Wir wissen, wo wir anfangen müssen um unsere Ausschüsse für innere Angelegenheiten innerhalb der bürokratischen Maschinerie der Bischofskonferenzen einzurichten.«

»Mein Gedanke, Eminenz.« Maestroianni lächelte.

»Wir werden uns auch nicht lange auf jene Bischöfe beschränken müssen, die das Einheitsproblem bereits in bürokratischen Begriffen sehen. Im Moment können die leitenden Ausschüsse jeder dieser regionalen und nationalen Konferenzen im Verein mit den zentralen Ausschüssen jedem Bischof das Leben schwer machen, der aus der Reihe tanzt. Mit anderen Worten, der einzelne Bischof ist heute weit weniger frei autonom zu handeln.«

Maestroianni war offensichtlich zufrieden mit sich. Er erklärte die Einrichtung der ersten und einflussreichsten AIAs zur dringendsten Aufgabe seines Teams. Aber schon jetzt gratulierte er sich laut für seine weise Voraussicht, als er Paul und Christian Gladstone - »den amerikanischen Doppelpfeil«, wie er sie beschrieb - auf den Bogen der episkopalen Überzeugungsarbeit gelegt hatte. Wenn Pater Gladstone die Bedürfnisse und Schwächen der Bischöfe ermittelte und sein Bruder sich in einer Position befand um aus diesen Informationen mit Unterstützung der EG konkreten Nutzen zu ziehen, konnte eine beliebige Anzahl ansonsten widerwilliger Bischöfe zur Zusammenarbeit bewegt werden.

 

In den nächsten Wochen spornte Kardinal Maestroianni sein kleines Team zentraler Mitarbeiter zu unermüdlicher Arbeit an.

Mit abteilungsinterner Geheimhaltung als Richtlinie, mit Pensabenes intimen Kenntnissen der verschiedenen Bischofskonferenzen und mit seiner eigenen langen Erfahrung als Staatssekretär bestand Maestroiannis erste Aufgabe darin, eine Liste potenzieller »Agenten des Wandels« zusammenzustellen. Es bestand Bedarf nach Prälaten - Kirchenleuten vom Rang eines Bischofs und darüber -, die leicht beeinflusst und dann selbst als verlässliche »Förderer« und als Sekretäre der ersten Ausschüsse für innere Angelegenheiten in Schlüsselbereichen eingesetzt werden konnten.

Noch während die Liste entstand, wurde durch einen Zeitplan bestimmt, wann die Auserwählten - für den Anfang etwa fünfzehn Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle - angesprochen und nach Rom zu einer vorgeblich »theologischen Konsultation« eingeladen werden sollten. Man einigte sich auf Ende Oktober pis Anfang November als Zieldatum für diese Sitzung. Nach einer Woche intensiver Überzeugungsarbeit konnte davon abgegangen werden, dass die Angehörigen dieses Stammkaders nach der Rückkehr in ihre jeweiligen Diözesen bereit wären, das erste Netzwerk von AIAs aufzubauen und mit ihrer Hilfe die Pyramide des neuen Denkens auf ein breites Fundament zu stellen.

Unvermeidlich entbrannten hitzige Diskussionen über einige der Namen, die für den Anfang vorgesehen waren. Ein Name rief allerdings prompte und enthusiastische Zustimmung hervor. Die Kardinäle Maestroianni, Pensabene und Aureatini hatten überhaupt keinen Zweifel, dass Seine Eminenz der Kardinal von Centurycity der hervorragendste »Agent des Wandels« wäre.

Nur wenige kirchliche Persönlichkeiten Amerikas hatten je die Machtposition erreicht, in die der Kardinal von Centurycity sich in einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren selbst »befördert« hatte. Dabei fanden es viele seiner Zeitgenossen bemerkenswert, wie mühelos Seine Eminenz den Aufstieg bewältigt hatte. Es war umso bemerkenswerter, weil ihm nichts dergleichen in die Wiege gelegt worden war. Er genoss keine besondere Rückendeckung durch seine Familie und konnte auf kein ererbtes Vermögen zurückgreifen. Er konnte keine überdurchschnittlichen intellektuellen Leistungen als Theologe vorweisen; auch war er kaum als rechtgläubiger Katholik aufgefallen. Noch hatte er sich in seinen ersten Jahren nennenswerter Beziehungen zu Rom erfreut.

In den Worten einer seiner Kollegen in der amerikanischen Hierarchie war Seine Eminenz von Centurycity ein »ekklesiastisches Phänomen vom Range eines Flamingos, den gewöhnliche, aufgescheuchte Haushühner ausgebrütet haben«.

Maestroianni, Pensabene und Aureatini kannten ihren amerikanischen Vorzeigekandidaten. Er hatte seinen kometenhaften Aufstieg tatsächlich in einer unbedeutenden südlichen Diözese begonnen. Nach einer Versetzung an einen wichtigeren Bischofssitz an der Ostküste war Seine Eminenz unversehens zum Kardinalerzbischof von Centurycity befördert worden - einer Erzdiözese, die einst für ihre soliden Finanzen, ihre Papsttreue und ihren überwältigenden, wenn auch gelegentlich halsstarrigen römischen Katholizismus berühmt gewesen war. Binnen kürzester Zeit hatte er seine amerikanischen Kardinalskollegen überflügelt und in diesem kritischen Moment nahm er die Rolle des Spötters in der seltsamsten aller ekklesiastischen Schöpfungen ein: der Nationalen Katholischen Bischofskonferenz - der NKBK - und in ihrem, auch wenn niemand viel Aufhebens darum machte, linksgerichteten politischen Flügel, der Katholischen Konferenz der Vereinigten Staaten - der KKVS. Niemand gab viel auf die geistreiche Bemerkung eines Kommentators, dass im Verhältnis dieser beiden Zweige des amerikanischen Episkopats die rechte Hand nicht immer wusste, was die linke tat. Der Kardinal wusste immer, was beide Hände taten. Seine Eminenz von Centurycity hatte die ganze Maschinerie zur Verfügung. Seine Eminenz war diese Maschinerie.

Auch wenn die Persönlichkeit dieses Mannes vielen, die ihn kaum kannten, gewöhnlich und sogar banal erschien, stachen drei Charakterzüge besonders hervor. Seine Eminenz schien stets von kirchlichen Autoritäten, die in der Hierarchie einen Rang über ihm standen, akzeptiert worden zu sein. Offensichtlich hatte er Freunde mit einflussreichen Freunden. Dennoch war der Grund für seine einzigartige Akzeptanz für einen uneingeweihten Beobachter mehr als rätselhaft.

Eine zweite Eigenart war seine Autorität innerhalb des episkopalen Establishments Amerikas; eine Autorität, die niemand infrage stellte und wohl auch niemand infrage stellen konnte. Kardinal O'Cleary von New Orleans war dafür bekannt, dass er seine Taktiken bewunderte, ihnen aber nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte. Die Kardinäle der Ostküste fürchteten seine Beziehungen zu Kirche und Staat. Die Kardinäle der Westküste hielten es für ratsam, an seinem Rockzipfel zu hängen. Ob innerhalb oder außerhalb von Centurycity, mit allen Sanktionen und internen Disziplinarmaßnahmen der Maschinerie in Reichweite seiner samtenen Fingerspitzen konnte Seine Eminenz einen widerspenstigen Kleriker ohne weiteres kaltstellen und ihn damit von aller wirklichen Macht innerhalb des Establishments isolieren.

Das dritte Merkmal des amerikanischen Kardinals war eine Umkehrung des zweiten. Denn so tödlich er selbst sich für die Karriere anderer Kleriker erweisen konnte, so genoss er selbst doch eine unangreifbare Immunität gegen jeden Versuch sein eigenes Ansehen bei den vatikanischen Autoritäten und seinen kirchlichen Kollegen in Amerika zu erschüttern. Ganz gleich wie viele Beschwerden in Rom von der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten eingingen - und ganz gleich ob diese Beschwerden von einem Kardinalskollegen, einem Gemeindepriester oder Laien stammten -, irgendwie endeten sie alle unter einem Stapel unerledigter Korrespondenz oder in einer von Tausenden »inaktiven« vatikanischen Akten. Offenbar hatte der Kardinal auf allen Rängen bis hin zum Papstthron Freunde sitzen.

Daher war es verständlich, dass der amerikanische Kardinal den Standard bildete, an dem Maestroianni alle Namen auf seiner kritischen Liste maß.

 

 

XXVI

Christian Gladstone fühlte sich in Rom wie ein Emporkömmling. Wie ein Fußball, der plötzlich in einen reißenden Fluss geschossen wurde und nun hilflos herumhüpfte, ohne dass er eine Möglichkeit hatte sich aus eigener Kraft über Wasser zu halten. Er hatte gehofft von Pater Damien Slattery einige einführende Ratschläge zu erhalten. Aber der portiere an der Pforte des Angelicums hatte diese Hoffnung zerschlagen. »Der Pater General ist erst heute Abend wieder da, Reverendo.« Er kam also nicht darum herum. Die nachdrücklichen Vorladungen, die ganz oben auf dem kleinen Stapel von Nachrichten und Briefen lagen, die bei seiner Ankunft auf ihn warteten, bedeuteten ihm, dass er sich heute zuerst mit Seiner Eminenz Kardinal Maestroianni zu treffen hatte.

Auch wenn Christian sich auf ein so frühes Zusammentreffen mit Maestroianni nicht gerade freute, überraschte es ihn nicht. »Auf Sie ist kein Geringerer als Seine Eminenz Cosimo Maestroianni persönlich aufmerksam geworden«, hatte O'Cleary gesagt. Dennoch half ihm sein Termin bei Kardinal Maestroianni am frühen Nachmittag nicht, seine Orientierung zu finden.

Im Gegenteil: In dem Moment, als er im zweiten Geschoss des päpstlichen Palastes aus dem Fahrstuhl trat und in die neue Bürosuite Seiner Eminenz gewiesen wurde, kam ihm die ganze Atmosphäre dieser Räumlichkeiten seltsam verändert vor. Selbst der kleine Kardinal wirkte irgendwie anders. Wie bei ihrer ersten Begegnung im Mai erwies Seine Eminenz sich als ein Meister herablassenden Entgegenkommens und arroganter Überheblichkeit.

Aber da war etwas Neues. Chris hatte erwartet, dass Maestroiannis Aura der Macht außerhalb des Staatssekretariats an Wirkung einbüßen würde. Was er allerdings feststellte, war genau das Gegenteil. Nicht eine Aura gewachsener faktischer Macht, sondern eine schiere Ausstrahlung von Macht ohne die einschränkenden Fesseln eines Amtes.

Nachdem er dem Amerikaner seinen Ring zum Kuss geboten hatte, versuchte Maestroianni sich an einer herzlichen Begrüßung; aber sie traf Gladstone wie ein Stachel. »Wie schön Sie so schnell wieder in Rom zu sehen, Pater.«

Und als er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt und seinem neuen Protege bedeutet hatte auf dem nächstbesten Stuhl Platz zu nehmen, beglückwünschte der Kardinal den jungen Gladstone zum energischen Einsatz seiner Mutter für die Interessen der Kirche. »Wir alle sind äußerst dankbar für die Unterstützung, die diese bewundernswerte Frau jüngst in der traurigen Affäre um die BNL geleistet hat.« Völlig ratlos konnte Chris nur das Lächeln des Kardinals erwidern und ihm für das beabsichtigte Kompliment danken. Er wusste nicht mehr als das, was er in den Zeitungen über den Skandal um den Zusammenbruch der italienischen Banca Nazionale del Lavoro gelesen hatte. Aber es war undenkbar, dass seine Mutter etwas mit solchen Angelegenheiten zu tun haben konnte.

»Und nun, caro Reverendo« - Maestroianni reichte das lockere Geplauder nun offensichtlich -, »sind auch Sie angehalten wie ein Mann für das Wohl der Kirche einzutreten.« Knapp, aber mit einer Geduld, die er unter anderen Umständen nicht gezeigt hätte, beschrieb Seine Eminenz in groben Umrissen die Aufgabe, die er für Gladstone im Sinn hatte. Christian würde seinen Vollzeitdienst in Rom als eine Art fliegender Abgesandter des Vatikans für einen Kreis ausgewählter Bischöfe beginnen. Maestroianni schob eine Aktentasche über den Tisch, ließ aber eine Hand darauf liegen. »Hierin finden Sie Informationen über Ihre erste Gruppe von Bischöfen. Natürlich müssen Sie sich nicht gleich die Mühe machen das Material durchzusehen. Dafür bleibt sicher noch reichlich Zeit, denke ich. Lassen Sie mich nur so viel sagen, dass Sie für uns zuerst in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland arbeiten. Wir haben zu jedem Bischof ein Dossier zusammengestellt - persönlich und beruflich. Und es liegt auch eine Analyse der Diözese jedes Bischofs bei. Das Übliche im Detail - Finanzen, Demographie, Medien, soziale Einrichtungen von Kindergärten über Universitäten bis zu Seminaren. Das Übliche eben, wie ich schon sagte.

Bevor Sie Rom verlassen« - Maestroianni hob jetzt die Hand von der Aktentasche -, »studieren Sie dieses Material und eignen es sich an. Sie sollen jede Diözese, die Ihnen zugewiesen wurde, und jeden Bischof, den Sie treffen werden, so gut kennen lernen wie sich selbst. Während jedes Besuchs werden Sie unsere grundlegenden demographischen Daten aktualisieren. Wir sind ständig an solchen Daten wie der Anzahl katholischer Familien interessiert, die noch in einem Gebiet wohnen; die Anzahl der Konversionen und Taufen; die Häufigkeit von Beichten, Kommunionen und annullierten Ehen; die Anzahl der Geburten und der Kinder, die Diözesanschulen besuchen; Berufungen zur Priesterschaft; Bücher, die im Religionsunterricht verwendet werden. Es ist alles für Sie vorbereitet. Und die Beamten in jeder Diözesankanzlei werden Ihnen derartige Daten sicher bereitwillig en bloc zur Verfügung stellen.

Es gibt allerdings andere Daten, die nur von einem vertrauten vatikanischen Gesandten in einem Gespräch unter vier Augen mit dem jeweiligen Bischof ermittelt werden können. Daten, die uns helfen werden Probleme zu überwinden, die unseren Bischöfen offenbar zu schaffen machen. Habe ich mich klar ausgedrückt, Reverendo?«

Nicht einmal halbwegs, dachte Chris bei sich. »In gewissem Maße, Euer Eminenz. Ich weiß natürlich noch nicht, von welcher Art vertraulicher Daten die Rede ist. Aber mir ist nicht ganz klar, warum ein Bischof einem Außenstehenden überhaupt Vertrauliches offenbaren sollte.«

»Mein lieber Pater!« Ein so grundlegendes Missverständnis schien Seine Eminenz zu schockieren. »Sie sind kein Außenstehender. Zumindest nicht mehr. Sie sind jetzt einer von uns. Jeder Ihrer Besuche bei einem Bischof wird von unserer Kanzlei im Voraus angekündigt. Von meinem eigenen Personal, um genau zu sein. Und ich versichere Ihnen, dass die Tatsache, den Mantel eines vatikanischen Abgesandten zu tragen, wahre Wunder wirken wird um Ihnen Türen zu öffnen. Dieser Mantel wird Ihnen sogar Zugriff auf Informationen ermöglichen, die anderen verborgen bleiben.«

Je länger er Maestroianni zuhörte, umso ratloser wurde Gladstone. Diese Gedanke widersprach dem Bild, das er von sich selbst hatte, so sehr, dass Christian alle Vorsicht fahren ließ. Er stellte eine direkte Frage. Das war sein einziger Fehler. »Wenn Sie die Frage gestatten, Eminenz: Was ist der eigentliche Zweck meiner ganzjährigen Versetzung nach Rom? Die Arbeit, die Seine Eminenz beschrieben haben, scheint mir von vorübergehender Natur zu sein - schließlich gibt es nicht unendlich viele Bischöfe. Und Kardinal O'Cleary hat von einer ganzjährigen Lehrtätigkeit im Angelicum gesprochen.«

Maestroianni erwiderte das Feuer dieser freimütigen Frage mit einem Blick, der hätte töten können, einem abschätzigen Zungeschnalzen und einem milden Tadel, der in einem rauen Ton ausgesprochen wurde. »Mein lieber Pater! Natürlich schätzen wir Ihre Leistungen als Lehrkraft. Auf diesem Gebiet haben Sie sich bereits das höchste Lob der römischen Autoritäten verdient. Nun werden allerdings neue Aufgaben Sie in Gebiete führen, wo Sie sich bewähren müssen. Was die Zukunft angeht ...« Seine Eminenz starrte Gladstone für einen Augenblick mit großen Augen an, dann wurde seine Miene weicher. »Was die Zukunft angeht, wer weiß? Wir müssen Gottes Willen täglich neu ergründen. Oder sind Sie anderer Meinung?«

Christian empfand Maestroiannis Berufung auf Gottes Willen fast als abstoßend. Der Rest der Botschaft war jedoch klar und unmissverständlich. Offenbar hatte der Kardinal ihn als einen einfältigen, gelehrten Priester eingeschätzt, der sich von bedingungsloser Loyalität und einem kindlichen Vertrauen in die Autorität seiner Vorgesetzten leiten ließ. Das Einzige, was Gladstone davon abhielt, die Vorstellung einer »römischen Karriere« nicht auf der Stelle zu verwerfen, war eine plötzliche Erinnerung an Pater Aldo Carnesecca. Vor allem erinnerte er sich an Pater Aldos passive Art und seinen klaglosen Gehorsam, wenn er mit Männern wie Maestroianni zu tun hatte. Doch Christian kannte Carnesecca als den unabhängigsten Geist, den er sich nur vorstellen konnte; und er hatte in seinem langen Dienst an der Kirche wahrscheinlich mehr Gutes geleistet als Heerscharen von Aufrührern.

»Nun, Pater Gladstone.« Maestroianni fasste das Schweigen des jungen Priesters als gehorsame Zustimmung auf. »Sie werden in nächster Zeit sicher den Großteil Ihrer Zeit reisen. Ein vatikanischer Pass wird Ihnen ... äh, viele Grenzüberquerungen erleichtern. Ja!« Maestroianni reagierte auf die völlige Verblüffung in Gladstones Blick. »Ein seltenes Privileg! Aber ich habe persönlich mit unserem neuen Staatssekretär darüber gesprochen. Kardinal Graziani ist über Ihren Termin bei mir unterrichtet und es wäre ihm ein Vergnügen, Ihnen das wertvolle Dokument heute Nachmittag persönlich überreichen zu können.«

Da war sie wieder, dachte Chris, diese Ausstrahlung von Überlegenheit, selbst über das Staatssekretariat. Doch ihm blieb keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn die Besprechung War fast vorüber. Gladstone sollte im Laufe der Woche noch zu einer letzten Besprechung eingeladen werden, erklärte Maestroianni. In der Zwischenzeit sollte er sich mit den Unterlagen beschäftigen, die man für ihn vorbereitet hatte. Die Aktentasche unterm Arm wurde der gehorsame neue Diener Seiner Eminenz daraufhin mit einer Geste, als habe er sich zu beeilen, zu seinem zweiten heutigen Termin bei einem hochrangigen Vorgesetzten losgeschickt. Zu einem weiteren Friss-Vogel-oder-stirb-Gespräch, diesmal mit dem neuen Staatssekretär.

Christian musste zugeben, dass Kardinal Graziani einen recht umgänglichen, sogar freundlichen Eindruck machte. Der Staatssekretär hatte die komische Angewohnheit ständig zu blinzeln. Aber sein Händedruck war fest und sicher.

 Als sei auch er sich bewusst, welche Macht Maestroianni mit sich genommen hatte, als er dieses Büro verließ, schien der Kardinalstaatssekretär mehr daran interessiert, eine eigene Beziehung mit dem Neuling aufzubauen.

»Unser beider Meilenstein, Pater.«

Der Sekretär schob Gladstone den druckfrischen Pass über den Schreibtisch zu. »Das ist einer der ersten, die ich ausgestellt habe.«

Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Ich hatte Gelegenheit, die Familienakte der Gladstones zu lesen. Sehr eindrucksvoll. Angesichts dieser engen und langen Bindungen zum Heiligen Stuhl verwundert es nicht, dass Ihre geschätzte Mutter in dieser leidigen Sache um die BNL wieder einmal zum Wohle der Kirche tätig werden konnte.«

Jetzt war Gladstone mit dem Blinzeln an der Reihe, doch nicht mit der Weisheit eines Buddhas. Dies war das zweite Mal binnen einer Stunde, dass Cessis Name in Zusammenhang mit dem internationalen Skandal um die Banca Nazionale del Lavoro fiel. Ebenso beunruhigend für Christian war die Erkenntnis, dass sein Familiendossier in den höchsten Rängen des Heiligen Stuhles kursierte. Vielleicht war das eine unvermeidliche Begleiterscheinung, wenn man, und sei es nur peripher, mit dem mächtigen Kardinal Maestroianni zu tun hatte. Aber er vermisste schmerzlich den schützenden Mantel der Anonymität, wie er sie als Teilzeitprofessor im Angelicum genossen hatte.

»Bevor Sie gehen, Pater«, Graziani sprach jetzt mit zwingender Aufrichtigkeit, »lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Sie sich, falls Sie je Hilfe benötigen sollten, vertrauensvoll an mich wenden können. In diesem Büro genießen Sie volles Vertrauen, ganz gleich, wer oder was beteiligt ist.«

Der Kardinal konnte nicht unumwunden sagen, dass jeder in Maestroiannis Machtspiel zum Gefolgsmann Ausersehene wissen sollte, wo ein Ausweg zu finden war; oder dass Maestroianni sich übernehmen könnte. Aber er konnte darauf hinweisen, dass jetzt nicht mehr Maestroiannis Gönnerschaft zählte, sondern seine eigene in seiner Rolle als Staatssekretär. Und er konnte diesen Aspekt betonen, indem er sein Angebot wiederholte.

»Jegliche Hilfe, Pater Gladstone. Sie brauchen nur zu fragen.« Danach stand Graziani auf und führte Christian auf liebenswürdigste Weise zur Tür. »Sie werden natürlich für uns alle beten. Besonders für den Heiligen Vater, damit er für seine schweren Entscheidungen Zuspruch erfährt.«

Gladstone brauchte nicht bis zum Abend zu warten um Damien Slattery schließlich doch noch zu treffen. Er lief dem Generalmagister in einem Korridor im Obergeschoss über den Weg, als er in sein Zimmer im Angelicum zurückkehrte. Typischerweise hatte Slattery das erste Wort. »Genau der Mann, nach dem ich gesucht habe. Können wir uns in Ihrem Quartier kurz unterhalten?«

Besser spät als nie, dachte Christian, als Pater Damien sich neben ihm auf einen Stuhl niederließ, der nicht für seine massige Gestalt gebaut war.

»Gerade wieder hier und schon eifrig in den Weinbergen beschäftigt, häh?« Slattery sah zu, wie Chris seine Aktentasche auf den Schreibtisch legte und ihm gegenüber Platz nahm. »Ich habe nur eine kurze Nachricht für Sie, Pater Gladstone. Vor einigen Tagen hat Seine Heiligkeit den Wunsch geäußert sich einige Minuten mit Ihnen zu unterhalten. Im Moment sind Sie sicher erschöpft, es ist ja Ihr erster Tag. Haben Sie trotzdem heute Abend etwas Zeit? Sagen wir, gegen Viertel nach acht?« Als der junge Amerikaner keine Antwort gab, wurde Slattery doch stutzig. »Halt, Pater. Ihnen geht doch etwas durch den Kopf.«

Christians Lachen hatte nichts Heiteres. Es war eine Sache, von Maestroianni, Graziani und ihresgleichen wie ein geistloser Spielball behandelt zu werden. Aber bei Pater Damien gefiel ihm diese Taktik schon weit weniger. Und hier saß der Dominikaner vor ihm und erteilte ohne Erklärung Befehle. Ja, mit Slattery erging es ihm sogar noch schlimmer. Maestroianni hatte sich immerhin zu einem Willkommensgruß aufgerafft, wie unaufrichtig auch immer. Und Graziani hatte zumindest seine Hilfe angeboten, was immer er auch im Hinterkopf gehabt haben mochte.

»Das Einzige, was mir durch den Kopf geht, Pater General«, erwiderte Chris wahrheitsgemäß, »ist eine lange Liste von Fragen und keine Antworten.«

Slattery schlug unter einem Meer wallender Gewänder seine gewaltigen Beine übereinander. »Lassen Sie uns einige dieser Fragen hören.«

h seinem Unbehagen begann Christian auf und ab zu gehen. Zum ersten Mal versuchte er sein Gefühl in Worte zu fassen, er sei in einen Fluss geworfen worden und hätte im Umkreis von vielen Kilometern keinen festen Boden unter den Füßen. »Die eigentliche Frage ist, was ich hier überhaupt soll. Auf lange Sicht, meine ich. Vielleicht geht das Ganze weit über meine Möglichkeiten hinaus. Je mehr ich darüber erfahre, welche Rolle ich spielen soll, desto mehr habe ich das Gefühl, ich sei unter die kleinen grünen Männchen vom Mars geraten.«

»Heilige Muttergottes, Gladstone!« In einer Mischung aus Zorn und Ungeduld, so schien es, verfiel der Dominikaner in seinen irischen Dialekt. »Was glauben Sie, wo Sie sind? In einem klerikalen Kindergarten? Sie sollten langsam mal erwachsen werden! Und wo Sie schon dabei sind, sollten Sie besser gleich lernen, dass es keinen festen Boden gibt. Nicht in Rom! Nicht jetzt! Und Sie lernen besser, dass Sie in dem reißenden Fluss, von dem Sie gesprochen haben, nicht mit kleinen grünen Männchen herumtollen! Sie schwimmen in einem Schwärm Barrakudas!«

Obwohl ihn Slatterys Ungestüm verblüffte und ihn die Einsicht schmerzte, dass der Pater die Wahrheit sagte, war Christian zumindest erleichtert darüber, dass Pater Damien nicht wie ein vatikanischer Roboter redete, der die romanüä virtuos beherrschte. Er hielt inne und setzte sich wieder. »Ich schätze, ich bin so lernwillig und -fähig wie jeder andere auch. Aber die Hoffnung kam mir nicht abwegig vor, dass zumindest etwas von dem, was Kardinal O'Cleary mir in New Orleans sagte, der Wahrheit entsprach. Als er sagte, dass ich im Angelicum unterrichten sollte, war ich nicht so dumm anzunehmen, das sei alles. Aber die akademische Welt hat eine eigene Art auf das Leben eines Mannes einzuwirken. Selbst in Rom.«

»Hören Sie, Pater.« Slattery hatte sich nun wieder besser im Griff. Sein Dialekt verschwand. »Kurz- und langfristig gibt es nichts, was einen Mann mit Ihren Anlagen überfordern könnte. Ich weiß nicht, was O'Cleary Ihnen über Ihre Lehrtätigkeit im Angelicum gesagt hat. Aber Tatsache ist, dass Ihnen eine besondere Aufgabe anvertraut wurde. Im vatikanischen Jargon sind Sie >für besondere Einsätze vom Staatssekretariat freigestellte. Sie brauchen also keinen Stundenplan für Aufnahmeprüfungen, Vorlesungen und Seminare. Was Sie brauchen, ist etwas gegen die Barrakudas.

Befassen wir uns für einen Moment mit den beiden, die Sie erwähnt haben. Ich nehme an, Sie waren heute bei Kardinal Graziani. Als Diplomat wird er recht gute Arbeit leisten. Aber wie man so sagt: Tief drinnen ist er seicht. Er ist jedermanns Freund und niemandes Verbündeter. Auch nicht Kardinal Maestroiannis Verbündeter. Er ist einnehmend und verschlagen. Er hat keine Ethik, aber er hält sich an die Spielregeln - selbst wenn es um seinen eigenen Vorteil geht. Es überrascht mich nicht, dass Sie mit ihm arbeiten werden. Ich habe eigentlich sogar damit gerechnet. Und ich kann Ihnen keinen besseren Rat geben als Ihre Gebete zu sprechen, auf jedes Wort zu hören und keine Fragen zu stellen. Nicht einmal die nächstliegenden.« Obwohl Slatterys Ratschläge recht düster klangen, musste Chris lachen. »Darauf bin ich selbst gekommen.«

»Sie haben also schon zu viele Fragen gestellt?«

»Ich habe eine Frage gestellt, mehr nicht. Dabei habe ich mir fast die Finger verbrannt. Aber ich stelle Ihnen eine. Sie wissen doch von dieser Affäre um die BNL, die durch die Medien gegangen ist? Nun, heute fiel zweimal der Name meiner Mutter in Zusammenhang mir dieser Sache. Ich blicke da nicht durch. Ich meine, wissen Sie etwas darüber?«

»Eine komplizierte Sache, Padre.« Slattery wollte Christian nicht vertrösten. Die Frage war in seinen Augen legitim. Aber er konnte eine Antwort auf die Sorge des jungen Priesters um seine Mutter nur erraten. »Ich versuche es in der Sprache, die wir finanztechnischen Fußgänger verstehen können. Die Vatikanbank arbeitet mit der BNL zusammen. Die BNL hat mit Saddam Hussein zusammengearbeitet und die Verlängerung von bis zu fünf Milliarden Dollar in illegalen Darlehen und Krediten unterstützt um Saddam bei der Finanzierung seines Condor-II-Raketenprojekts unter die Arme zu greifen. Und mit Billigung der BNL hat Saddam Geld für den illegalen Kauf strategischer Waffen gewaschen. Die BNL war natürlich nicht allein aktiv. Einige andere westeuropäische Banken waren an dem gemeinsamen irakisch-argentinisch-ägyptischen Raketenprojekt beteiligt. Auch einige unserer US-Banken. Und einige hohe Beamte in der US-Administration. Die Bush-Bande. Jede Menge illegales Treiben auf allen Seiten.

Als die Sache durch die Medien ans Licht kam, war eine Rettungsaktion nötig um die Vatikanbank aus der Schusslinie zu holen. Was genau Ihre Mutter damit zu tun hatte, kann ich nur raten. Aber schließlich kann man die Gladstones kaum als arme Schlucker bezeichnen. Und Sie sind privilegiati di Stato. Deshalb vermute ich, dass sie für diese Rettungsaktion um finanzielle Unterstützung gebeten wurde.«

Gladstone schüttelte den Kopf. Wann würde endlich einmal jemand seine Mutter verstehen, fragte er sich. Cessi verabscheute Roms gegenwärtige Einstellung zu religiösen Fragen. Aber wenn Slattery Recht behielt, dann hatte sie die Bank des Papstes unterstützt. Unversehens kam Chris ein anderer Gedanke. Ein Gedanke, der zu zynisch war, zu sehr mit der Sicht eines Eingeweihten im Einklang stand, wie sie sich allmählich in seinen Gedanken zusammenfügte. Der Gedanke, dass der Wunsch des Heiligen Vaters ihn zu sehen etwas mit der Vatikanbank und der finanziellen Nützlichkeit seiner Familie zu tun haben könnte.

Christian hatte Slattery seine Idee kaum anvertraut, da fuhr der Generalmeister von seinem Stuhl hoch. Mit zornigem, hochrotem Gesicht beugte er sich über Gladstone, dass ihre Nasen «ich fast berührten und er sich in seinem Stuhl gefangen fand. »Wie können Sie so etwas glauben, Pater? Wir führen gegen Satan persönlich Krieg! Vielleicht ist dieser Krieg schon zu unseren Gunsten entschieden worden. Aber im Moment haben wir verloren, verlieren noch und werden weiter Schlacht um Schlacht verlieren! Und da glauben Sie, der Heilige Vater habe nichts Besseres zu tun als Sie um Geld anzuhalten wie ein windiger Politiker? Überlegen Sie doch mal! Vielleicht sind Sie noch zu jung um zu wissen, was vor sich geht. Aber Sie sind nicht zu jung um zu lernen, dass viel kompliziertere Dinge vor sich gehen, als Sie ahnen. Viel höllischere, viel göttlichere, viel gefährlichere Dinge, als Sie sich auch nur vorzustellen vermögen !«

Slattery richtete sich zu seiner ganzen imposanten Größe auf und starrte mit glühend blauen Augen auf Chris hinunter. »Wenn Sie für eine Weile auf Ihr halbwüchsiges Schutzbedürfnis verzichten würden, könnten Sie sich diesem Krieg vielleicht anschließen. Aber ich warne Sie: Sie werden mit jeder Schlacht dazulernen. Wenn Sie nur etwas Ordnung in Ihrem armseligen Leben brauchen und wenn Sie meinen, dass eine kleine akademische Nische der richtige Ort sei sie zu finden, dann, sage ich Ihnen, sind Sie ein Haufen Müll, der nur Platz wegnimmt. Es gibt hunderte Akademiker dieser Sorte in Rom. Und wissen Sie, was ihr eigentliches Ziel ist? Ich sag's Ihnen in einem Wort: der Tod. Sie könnten denselben Weg einschlagen. Und Sie wären aus demselben Grunde verflucht ...«

Slattery brach mitten im Satz ab, das Gesicht von den hässlichen Und abstoßenden Gedanken verzerrt, die er fast ausgesprochen hätte; von seinen Kenntnissen als Exorzist und seinen eigenen Erfahrungen mit den Verfluchten. Er trat von Gladstone zurück und ging ans Fenster. Als er weitersprach, klang seine Stimme weicher, doch umso eindringlicher. »In der Schlacht, aie zurzeit stattfindet, sind durchaus noch einige von uns auf der Seite der Engel. Aber es sind nicht viele, verglichen mit der Masse der Mitläufer, die sich bereitwillig an die Rockzipfel derer hängen die zerstören wollen, was wir zu retten hoffen.

Ich weiß nicht, vor welche Wahl Kardinal O'Cleary Sie gestellt hat, Padre. Aber ich stelle Sie vor eine Wahl und ich mache es ganz einfach. Sind Sie einer von uns oder nicht? Wenn die Antwort Ja ist, dann marschieren Sie von Schlacht zu Schlacht wie die anderen von uns. Wenn die Antwort Nein ist, dann verschwinden Sie von hier.«

Chris hielt Slatterys starrem Blick noch eine ganze Weile stand. Der Dominikaner hatte ihn nicht nur vor eine klare Wahl gestellt; er hatte sie auch in Worte gefasst, die ihm unheimlich vertraut waren. »Sagen Sie, Pater General. Ist Pater Carnesecca einer von ... äh, einer von uns?«

»Warum fragen Sie?«

»Mir ist nur etwas eingefallen. Ihre Äußerungen über die Schlacht und den Satan erinnern mich daran, wie er mir vor langer Zeit einmal sagte, dass wir mitten in einer globalen Schlacht des Geistes stünden. Und über das spirituelle Wesen, das über den wahren Sieg oder die Niederlage entscheide. Er sagte, im Mittelpunkt dieser Schlacht stehe Rom, es sei aber aus der vatikanischen Hierarchie heraus eine Belagerung gegen den Pontifex im Gange.«

»Dann im Namen des Himmels, Gladstone!« Slattery ließ seine ganze Körpermasse so schwer auf den Stuhl fallen, dass er unter der plötzlichen Belastung knackte. »Wenn Sie so viel begriffen haben, warum verstehen Sie dann das Gesamtbild nicht?«

»Ist Carnesecca einer von uns?«, Christian brauchte seine Antwort.

»In dem Sinne, wie Sie die Frage gemeingtnhaben, lautet die Antwort Ja. In einem größeren Zusammenhang müsste ich antworten, dass Pater Aldo ein besonderer Fall ist. Er gehört bereits ganz und gar Gott. Aber hier steht nicht Pater Carnesecca zur Debatte.« Slattery war entschlossen die Sache auf die eine oder andere Art zu entscheiden. »Die Frage ist, Padre, ob Sie einer von uns sind!«

»Ja!« Seine Antwort kam so spontan, als detoniere eine scharfe Ladung. »Ich bin einer von Ihnen!«

»Aha! Sie wollen also heute Abend mit Seiner Heiligkeit reden?« »Ja! Das werde ich tun!«

»Gut! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Junge?« Der Generalmagister erhob sich aus seinem Stuhl, ging zur Tür hinaus und ließ sie hinter sich offen stehen. »Um Viertel nach acht wird unten an der Tür ein Wagen auf Sie warten«, rief er aus dem Korridor.

 

Als Monsignore Daniel an diesem Abend Christian ins private Arbeitszimmer des Papstes im dritten Geschoss des päpstlichen Palastes führte, verflog jede Spur von Zynismus gegenüber dem polnischen Papst, die trotz Damien Slatterys Ausbruch noch übrig geblieben sein mochte, wie Rauch.

Der Pontifex saß in einem Lichtkegel an seinem Schreibtisch und hob fast unmerklich den Kopf, als sie leise eintraten. Den Stift noch in der Hand sah er ihm anfangs fragend, dann gleich freundlich in die Augen. Es schien so, als habe Christian, indem er nur in diesem Zimmer erschien, die Aufmerksamkeit für sich gewonnen und alles, was ihn sonst beschäftigen mochte, aus seinen Gedanken verdrängt. Mit einfachen Bewegungen, zügig, doch ohne Hast, legte Seine Heiligkeit den Stift weg und kam mit ausgestreckten Händen hinter dem Schreibtisch hervor. Das Lächeln in seinen Augen ließ seine Züge weich erscheinen.

In dem Augenblick als er niederkniete um den Papstring zu küssen, hatte Gladstone keinen Zweifel, dass er selbst dann, wenn er diesen Mann nie wieder sehen würde, dennoch immer unter dem Einfluss dieses lächelnden Blicks und der Erhabenheit stehen würde, die die Persönlichkeit dieses Papstes ausstrahlte. Mit beidem drückte der Pontifex auf seine persönliche Art die grundlegende Beziehung eines jeden Papstes zu allen Priestern aufrechten Glaubens aus. So zerbrechlich sie auch in ihrer scheinbaren Immaterialität wirkte, so sollte diese Beziehung sich für Christian doch als dauerhafter erweisen als gehärteter Stahl; als so ursprünglich wie das Gefühl, das einst den Apostel Paulus zu seinem Aufschrei »Abba! Vater!« bewegt hatte; als so vergeistigt wie Kardinal Newmans kindlicher Seufzer, als er in die Kirche aufgenommen wurde: »Unglaublich - endlich daheim!«

Im persönlichen Gegenüber wirkte dieser weiß gewandete Mann, der Christian an der Hand nahm und zu einem der beiden Armstühle in einer Ecke des Zimmers führte, nicht anders als jeder andere Mensch, den er bisher kennen gelernt hatte. Der Heilige Vater war offensichtlich vorzeitig gealtert. Er hatte eher ein hageres Gesicht als volle Wangen, wirkte eher zerbrechlich als lebhaft, strahlte mehr aus sich selbst heraus, als dass er durch sein Auftreten beeindruckte. Seine tiefe Stimme, sein akzentbehaftetes Italienisch, der slawische Rhythmus seiner Aussprache waren ähnlich bei zahllosen anderen Menschen anzutreffen. Doch er hatte einen eigentümlichen Zug an sich. So wie ein fernes Licht auf eine Lampe hindeutet, ein gesprochenes Wort auf einen Sprecher, eine auslaufende Welle am Strand auf einen tiefen Ozean, so deutete alles an diesem slawischen Papst - Sprache, Blick, Ausdruck von Auge und Hand - auf eine größere, ungesehene Präsenz hin.

Als Erstes dankte der Heilige Vater seinem jungen amerikaschen Besucher für seine Hilfe bei der Beschaffung von Fotos jer Bernini-Statue Noli me tangere. »Es ist ein Segen, den wir jmrner teilen werden, Pater Gladstone.«

»Das war doch eine Kleinigkeit, Euer Heiligkeit.«

»Vielleicht.« Der Papst schürzte die Lippen. »Trotzdem, als Priester wird von Ihnen erwartet, dass Sie immer der Sache unseres Herrn dienen, auf diese oder jene Weise. Das bedeutet, dass Ihnen immer Sein besonderes Wohlwollen gilt. Doch Pater Slattery sagt mir, dass Sie sich im Rom unserer Tage orientierungslos fühlen.«

Ohne Kardinal Maestroiannis Namen zu erwähnen beantwortete Christian die unausgesprochene Frage des Heiligen Vaters mit einer vorsichtigen Beschwerde über das »Geschiebe und Gezerre«, das er zu erdulden hatte. Der Druck, gestand er, war schwer zu verkraften.

»Allerdings.« Der Heilige Vater verlagerte sein Gewicht im Stuhl, als bereite ihm der Gedanke körperliche Schmerzen. »Ich verstehe das, glauben Sie mir. Aber man sollte nie vergessen, Pater Gladstone, dass Gott mit dem Schwanz des Hundes wedelt; und ohne ihn kann der Hund nicht einmal das!«

Chris konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sich den mächtigen, rot gewandeten Maestroianni als einen Hund vorstellte, der mit dem Schwanz wedelte.

»Sagen Sie mir, Pater.« Der Papst schien sich wieder zu entspannen. »Könnte Ihr Unbehagen Sie davon abhalten, uns mit allen Kräften beim Aufbau des neuen Jerusalem zu helfen? Bei der Neuschaffung des Leibes unseres Erlösers? Wir sind nur wenige. Aber Christus ist der große Baumeister. Und« - der Pontifex lächelte nun sogar ein wenig - »Seine Mutter hat die Hände im Spiel.«

Chris konnte sich nie genau an die Worte erinnern, mit denen er Seiner Heiligkeit versicherte, dass nichts als sein Tod ihn davon abhalten könne, jeden Dienst zu leisten, zu dem er fähig sei. Und er wurde sich auch nie ganz darüber klar, was der Heilige Vater gemeint hatte. Woran er sich aber erinnerte - was ihm über sein Verstehen hinaus Gewissheit spendete und von da an ein ständiger Refrain in seinen Gedanken blieb -, waren die genauen Worte, mit denen der Papst ihn in diesem Krieg begrüßte. »Dann kommen Sie, Pater Gladstone! Kommen Sie! Leiden Sie ein Weilchen mit uns und ertragen Sie den gegenwärtigen Schmerz zum Segen der einen großen Hoffnung!«

 

»Jerusalem!« Generalsekretär Paul Thomas Gladstone hielt den Telefonhörer für eine Sekunde vom Ohr weg und starrte ihn ungläubig an.

»Jerusalem, Mr. Gladstone!« Die Erbitterung in Cyrus Benthoeks Stimme war dick wie ein Londoner Nebel. »Haben wir eine schlechte Leitung erwischt? Ich sagte Jerusalem. Freitagabend wird am Flughafen von Brüssel ein Privatflugzeug auf Sie warten. Wir haben für Sie eine Suite im König-David-Hotel gebucht. Sie werden früh genug zurück sein um Ihren Termin am Montag wahrzunehmen.«

»Wir, Mr. Benthoek?« Paul war zu klug um zu widersprechen. Aber die Frage schien ihm unter den gegebenen Umständen legitim.

»Ja.« Benthoek klang wieder wie sein normales, herrisches Ich. »Einer meiner wichtigsten Vertrauten wird sich uns anschließen. Dr. Ralph Channing. Sie haben vielleicht einige seiner Monografien gelesen. Wenn nicht, sollten Sie es nachholen. Auf jeden Fall werden Sie diese kleine Pilgerreise zu schätzen wissen und nicht für eine Vergeudung Ihrer Arbeitszeit halten.« Benthoek legte auf und ließ Gladstone verstimmt über diese Störung seiner knappen Terminplanung für die EG zurück.

Paul hatte nicht damit gerechnet, mit ähnlichen Schwierigkeiten wie sein Bruder kämpfen zu müssen, während er sich in seinen neuen Job einarbeitete. Er steckte täglich fünfzehn Stunden in sein Amt im Berlaymont-Gebäude. Und obwohl es noch Anfang Oktober war, hatte er bereits der ersten Plenarsitzung der EG-Ratsminister beigewohnt. Er hatte noch die Protokolle früherer Sitzungen zu lesen; deshalb war er über einige der Einzelheiten, die unter den Ministern diskutiert wurden, nicht auf dem Laufenden. Aber er hatte insofern Glück gehabt, als der wichtigste Tagesordnungspunkt die allgemeine Vereinbarung } über Handel und Zölle betraf.

Diese Sitzung hatte deutlich gemacht, dass die Blockade in der so genannten Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen weit weniger mit dem Preis landwirtschaftlicher Erzeugnisse als mit dem Streit zwischen Euro-Atlantikern und Eurozentristen zu tun hatte. Paul hielt es für wenig wahrscheinlich, dass das viel gerühmte Ziel der politischen und finanziellen Einigung Europas schon zum ersten Januar 1993 zu erreichen wäre.

Gladstone war allerdings so klug gewesen während der Sitzung zu diesem Thema zu schweigen und hatte dieselbe vorsichtige Politik während eines kleinen Empfangs eingeschlagen, den die Minister unmittelbar danach zur förmlichen Begrüßung des neuen Generalsekretärs veranstaltet hatten. Er hatte mühelos in die Gemeinschaft dieser hochrangigen Diplomaten hineingefunden und mit jedem in seiner eigenen Sprache gesprochen.

Dieser Empfang hatte Gladstone außerdem eine Gelegenheit verschafft die EG-Mitglieder des Besetzungsausschusses zu begrüßen, die ihn gewählt hatten. Als parlamentarische Staatssekretäre begleiteten sie ihre Außenminister zu jeder Plenarsitzung; und sie schienen ebenso neugierig darauf zu sein, einen Blick auf diesen amerikanischen Eindringling zu werfen, wie er neugierig darauf war, jeden Einzelnen von ihnen kennen zu lernen.

Paul hatte bereits eine ziemlich klare Vorstellung, was er von diesen zwölf Männern und Frauen erwarten konnte, die ihm gemeinsam den Weg geebnet hatten. Er hatte jedem Einzelnen die Hände geschüttelt. Aber nur mit dem Belgier Jan Borliuth hatte er spontan und aufrichtig Freundschaft geschlossen.

Paul Gladstones einziges echtes Problem bestand zu Anfang darin, eine dauerhafte Bleibe zu finden. Unter den gegebenen Umständen hatte er sich an einen örtlichen Immobilienmakler gewandt und ein Wochenende mit der Suche nach einem geeigneten Haus verbracht. Das war auch der wirkliche Grund für seine Bestürzung über Benthoeks unverschämtes Ansinnen. Er täte viel besser daran, brummte er bei sich, noch ein paar verfügbare Grundstücke in der Umgebung unter die Lupe zu nehmen, als eine Pilgerfahrt nach Jerusalem zu unternehmen. Glücklicherweise wollte Paul heute mit Jan Borliuth zu Mittag essen. Als fünffacher Großvater schien Borliuth von Natur aus ein väterliches Interesse an jedem zu haben, der seiner Hilfe bedurfte. Während sie zusammensaßen, erfuhr der Belgier zu seinem Kummer, dass Gladstone dieses Wochenende verlieren würde. Deshalb war er umso entschlossener, seine Hilfe anzubieten. »Wenn Ihre Frau nichts dagegen hat und Sie mir Ihre Familie anvertrauen, setzen sie und ich an diesem Wochenende die Suche fort.«

Paul war begeistert von dieser Idee. Er rief Yusai an, um ihr seine missliche Lage und Jans Angebot zu erklären. Und auf ihre konfuzianische Art stimmte Yusai dem Plan mit einer Mischung aus weiser Hoffnung und klaren praktischen Erwartungen zu. »Der Himmel muss auf uns herablächeln, Paul. Denn sonst könnte das wohl nie funktionieren.«

»Also abgemacht!« Borliuth hob ein Glas, als Paul an den Tisch zurückkehrte. »Wenn wir Glück haben, wird Sonntagabend nach Ihrer Rückkehr nach Brüssel Ihr Problem gelöst sein!«

Als Paul Gladstone sich am Freitagabend kurz nach neun Uhr m König-David-Hotel in Jerusalem anmeldete, wartete an der Rezeption eine handschriftliche Notiz von Benthoek auf ihn. >Wenn Sie nach dem Flug nicht zu müde sind, erwarten Dr. Channing und ich Sie zu einem leichten Abendessen im Speisesaal.« Das war keine höfliche Einladung, sondern ein Befehl, paul faltete die Notiz zusammen, ließ seine Tasche auf die Suite bringen und begab sich in den Speisesaal.

»Freut mich Sie in Jerusalem zu begrüßen, Paul!« Benthoek war beeindruckend in seiner körperlichen Haltung und der Ausstrahlung seiner Weisheit von achtzig Jahren, als er Paul an seinem Tisch begrüßte. »Dr. Channing hat sich schon geraume Zeit auf unser kleines Treffen gefreut.«

»Das stimmt, Mr. Gladstone.« Ralph Channing lächelte durch seinen tadellos geschnittenen Spitzbart und hob ein Glas israelischen Weins. »Willkommen in der Königin der Städte.«

Paul konnte sein Erstaunen über Channings Trinkspruch kaum verhehlen. Er hatte nicht gewusst, was er sich von dieser so genannten Pilgerfahrt erwarten sollte; aber er hatte nicht erwartet, dass sie mit den Worten aus einem Gebet beginnen würde, das schon in den Tagen Davids uralt gewesen war.

Er fühlte sich mit Channing geistesverwandt. Der Professor hatte offensichtlich seinen Spaß an akademischer Konversation. Aber er erwies sich auch als ein Mann, der in großen Begriffen zu denken gewohnt ist, und war über alle vulgäre Eingenommenheit oder geschmackloses Parteiendenken erhaben. Während sie über Gladstones Arbeit in Brüssel diskutierten, nannte Professor Channing die EG beispielsweise »diese kontinentale Organisation«, ihr Ziel »Großeuropa« und die Gemeinschaft der Nationen »unsere menschliche Familie«. Paul fand all das sehr anregend.

So wie das Arbeitsfeld des jungen Amerikaners betrachtete er auch die Religion. »Ihre eigene Tradition, Mr. Gladstone«, behauptete Channing, »war eine ganze Zeit lang eine Art Globalismus in komprimierter Form. Trotz einiger Überreste früherer Idiosynkrasien ist die römisch-katholische Tradition sicher unsere größte Verbündete in der letzten Phase der Globalisierung unserer Zivilisation. Würden Sie dem zustimmen?« Trotz eines langsamen, aufmunternden Nickens von Benthoek hielt Paul es für das Beste, Zurückhaltung zu bewahren. Es war nicht schwer, wahrheitsgemäß und vage zugleich zu antworten. »Wo immer ich mich selbst vom Katholizismus entfernt habe, Professor, lag dies in gewissen Idiosynkrasien begründet. Besonders in Fragen der persönlichen Moral.«

Channing brachte eine so vorsichtige Erwiderung nicht aus der Fassung. »Ich muss offen zu Ihnen sein. Uns allen läuft die Zeit davon. Und es sind so viel fruchtbare Zusammenarbeiten möglich, um eine bessere Welt zu schaffen. Viele unserer Freunde in Rom glauben, dass es höchste Zeit für einer Veränderung sei. Und sie hoffen, dass sich eine Lösung finden lässt.« Gleichzeitig musste Professor Channing zugeben, dass die Situation ein wenig kompliziert war. »Wenn der Vatikan beteiligt ist, wird die Situation immer kompliziert. Aber soweit es Ihre beschränkte Rolle betrifft, kann die Sache ganz einfach formuliert werden.«

Die zweite Überraschung war für Paul der Umstand, dass er, ob beschränkt oder nicht, überhaupt eine Rolle in Angelegenheiten des Vatikans spielen sollte.

Das sei verständlich, gestand Dr. Channing ein. Aber vielleicht sei Gladstone mit der Karriere des berühmten Kardinals Maestroianni vertraut, der kürzlich als Staatssekretär des Vatikans zurückgetreten war ... Nein? Nun, das mache nichts. Es gehe darum, dass Seine Eminenz nicht nur einer der höchstgeschätzten Freunde Cyrus Benthoeks, sondern auch ein Freund Channings war. Und entscheidend sei, dass Seine Eminenz, wenn es um das künftige Europa ging, die Meinung der drei Männerteile, die sich an diesem Tisch hier versammelt hatten. Seine Eminenz wolle die Jahre seines Ruhestands dem Wohlergehen und der intensiveren Ausbildung der römisch-katholischen Bischöfe in Fragen der großeuropäischen Gemeinschaft widmen.

»Ich gebe gern zu, dass eine solche Ausbildung dringend vonnöten ist«, fügte Benthoek hinzu. »Römisch-katholischen Bischöfen mangelt es in beklagenswertem Maße an einem echten Geist der Zusammenarbeit mit diesem großen Ideal eines Europas, das größer sein wird denn je zuvor. Sie sind sicher sehr erfreut darüber, dass Ihr Bruder eng mit Kardinal Maestroianni zusammenarbeitet.«

»Christian?« Paul versuchte nicht einmal seine Bestürzung zu verbergen. Soviel er wusste, konnte es Chris nach wie vor nicht erwarten, seine Doktorarbeit über den Isenheimer Altar zu beenden und Rom für immer zu verlassen. Zurzeit sollte Christian eigentlich im Seminar von New Orleans unterrichten.

»Ich sehe, wir haben Sie auf dem falschen Fuß erwischt, Mr. Gladstone.« Professor Channing war ein aalglatter Typ. »Aber ich versichere Ihnen, Ihr Bruder arbeitet jetzt ganzjährig in Rom. Ich glaube, Sie und Pater Gladstone werden oft miteinander zu tun haben.«

Diese dritte Überraschung stürzte Gladstone in völlige Verwirrung. Paul begriff nicht, was die Beteiligung seines älteren Bruders an Kardinal Maestroiannis Bildungsprojekten mit seiner eigenen Arbeit zu tun haben sollte. Es freute ihn, dass sein Bruder irgendwo an der Spitze der vatikanischen Hierarchie auf die Füße gefallen war. Aber ...

 

Paul durchlebte eine unruhige Nacht, in der er erneut von jenen unermüdlichen Dämonen heimgesucht wurde, die ihm seit seinem Einführungsgespräch mit Benthoek in London nachsetzten. Aber am Samstagmorgen war er ausgeruht und begierig das Gespräch fortzuführen, das sie am Abend zuvor mittendrin abgebrochen hatten. Zu seiner großen Enttäuschung aber hatten Benthoek und Dr. Channing anderes im Sinn.

»Wir haben eine Limousine gemietet, Mr. Gladstone«, verriet Channing mit gurrender Stimme über Kaffee und Eiern.

»Allerdings!«, stimmte Benthoek begeistert zu. »Ich habe Ihnen eine Pilgerfahrt versprochen. Und heute wird sie beginnen. Wir haben eine Rundfahrt zu den archäologischen Sehenswürdigkeiten der Heiligen Stadt vorbereitet.«

So begann ein offenbar genauestens geplanter Ausflug. Während seiner früheren Reisen um die Welt hatte Paul all diese Sehenswürdigkeiten natürlich schon einmal besucht. Doch mit Channings professionellen Anmerkungen als unablässigem Hintergrund und mit Benthoek als griechischem Ein-Mann-Chor begann Gladstone alles an diesen antiken Stätten mit tieferem Verständnis zu betrachten.

Während der Rückfahrt ins Hotel sann Channing über die Kraft der Tradition und das von allen religiös gesonnenen Menschen empfundene Bedürfnis nach die - wie er es nannte - »grundlegenden Ereignisse ihrer Tradition« wieder zu beleben. Gladstone empfand ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ein Gefühl privilegiert zu sein. Ein Gefühl der Kameradschaft, gemeinsamer Ideale und Sympathien. Alle Überraschungen und Verwirrungen des gestrigen Abends machten einem angenehmen, nachdenklichen Frieden Platz.

Erst als die drei Weggefährten sich zum Abendessen wieder trafen, kam zur Sprache, was diese beiden bemerkenswerten Männer mit Paul Gladstone im Sinn hatten. Der Professor wandte sich mit herrisch erhobenem Kopf an Paul. »Wir haben gehofft«, begann er mit einem Unterton von Mitgefühl in der Stimme, »dass dieser Papst den Universalismus Ihrer Kirche aUf eine wahrhaft globale Ebene ausweiten könnte. Sagen Sie, jylr. Gladstone, wie schätzen Sie den gegenwärtigen Pontifex ein?«

»Ich sehe ihn in einem widersprüchlichen Licht. In mancher Hinsicht scheint er der letzte Papst der alten Schule zu sein. Aber er nimmt einiges vorweg, was wir wohl von zukünftigen Päpsten erwarten dürfen. Im Ganzen, würde ich sagen, betrachte ich ihn als eine Übergangsgestalt.«

»Eine hochinteressante Ansicht.« Channing fuhr sich mit einer Hand über den kahlen Schädel. »Unserer eigenen Auffassung nicht unähnlich. Aber sagen Sie mir eins, junger Mann. Wie sieht es mit Ihnen selbst aus? Stehen Sie auch noch mit einem Fuß in der Vergangenheit?«

»Sir?« Paul wusste, dass dieses Gespräch ebenso bis ins Detail geplant war wie ihre Fahrt durch Jerusalem. Es machte ihm nicht mehr viel aus. Aber er brauchte noch einige zusätzliche Hinweise.

»Lassen Sie mich die Frage deutlicher stellen«, gab Channing nach. »Soweit Cyrus und ich feststellen konnten, haben Sie die Grundlagen Ihrer Arbeit als Generalsekretär schnell gemeistert. Die Außenminister und die EG-Kommissare haben durchweg eine hohe Meinung von Ihnen. Es geht daher um Folgendes. Sind Sie bereit auf eine höhere Ebene des Verständnisses zu gelangen? Fühlen Sie sich imstande sich dem zu stellen, was in unseren Bemühungen um eine globalisierte Zivilisation wirklich auf dem Spiel steht? Natürlich können Sie Ihren Pflichten lr> Brüssel auch ohne einen solchen Übergang nachkommen. Viele Ihrer Vorgänger haben genau dies getan und sind doch auf fettere Weiden gelangt. Gewöhnliche, doch fette Weiden.«

Eben diese fetten Weiden hatte Paul im Sinn. Aber er hielt es für besser zu schweigen.

»Oder«, fuhr Channing fort, »Sie können in einen Bereich privilegierten Wissens und der Zusammenarbeit mit jenen eintreten, die die ganze globalistische Bewegung überwachen. Das würde eine gewisse Unparteilichkeit auf Ihrer Seite voraussetzen. Eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils. Cyrus und ich wollen Sie nicht über Gebühr beeinflussen.« Dr. Channing betonte diesen Punkt mit einstudierter Gelassenheit. »Aber nach allem, was ich gesehen habe, verfügen Sie über all diese Qualitäten und mehr.«

»Ganz richtig!« Benthoek lächelte großmütig. »Ganz richtig! Aber ist es nicht an der Zeit, unserem jungen Bundesgenossen etwas mehr Klarheit zu verschaffen?« Cyrus wandte sich Gladstone zu, wie ein Dirigent seinem Orchester. »So wie Ihre Fähigkeiten in der EG hoch geschätzt werden, genießen auch die Fähigkeiten Ihres Bruders als Gelehrter und Kirchenmann bei seinen Vorgesetzten im Vatikan hohes Ansehen. Wie es das Schicksal will, hat mein lieber Freund Kardinal Maestroianni unserem Pater Gladstone eine äußerst heikle und wichtige Mission anvertraut. Eine Mission, an der viele mächtige Männer ein vitales Interesse haben.«

Es gab keinen Zweifel, dass Benthoek sich und Professor Channing zu diesen mächtigen Männern zählte. Paul staunte allerdings, dass auch er selbst gemeint zu sein schien; und ebenso sein Bruder.

In vollem Bewusstsein seines Vorteils - ja, er war überhaupt nur nach Jerusalem gekommen um sich diesen Vorteil zu sichern - beugte Cyrus sich vor. In vertraulichstem Ton erklärte er, dass Pater Christian Gladstone im Laufe seiner Arbeit in Europa Pauls Hilfe in Zusammenhang mit bestimmten Bischöfen brauchen würde. »Beschaffung von Bankdarlehen und Hypotheken, Beratung in Fragen wie Grundbesitz, Steuererleichterungen und so weiter. Lassen Sie mich Ihnen jetzt ein Szenario vorstellen. Eine Vision von mir, in der es Ihre engen Beziehungen mit dem europäischen Ministerrat Pater Gladstone ermöglichen werden, den Bischöfen in diesen Dingen Gefälligkeiten zu erweisen. Eine Vision, in der die so begünstigten Bischöfe ihrerseits den Ministern gegenüber zu Entgegenkommen bereit sind; in der sie eher geneigt sind sich einem echten Geist der Zusammenarbeit mit unserem großen Ideal einer Europäischen Gemeinschaft anzunähern; eher geneigt die Kirche durch diese, wie Sie richtig erkannt haben, Übergangsphase zu führen, über die noch der gegenwärtige Pontifex wacht.«

Gladstone hörte aufmerksam zu. Obwohl ihm einige Lücken und Auslassungen in Benthoeks Schilderung seiner Vision auffielen, freute es ihn, dass sich Christian offenbar sehr viel mehr auf Globalisierungstendenzen des Weltgeschehens eingestimmt hatte, als er je angenommen hätte. Dennoch hatte Paul seine Zweifel. Dass die Außenminister der EG von ihm als Generalsekretär eine hohe Meinung hatten, war eine Sache. Aber es schien unwahrscheinlich, dass solche Männer einem Neuling leichthin Gefälligkeiten erweisen würden, wie Benthoek sie beschrieben hatte. Zumindest nicht so ohne weiteres, wie das Gespräch implizierte; und vor allem nicht zugunsten Roms. Ob es einem gefiel oder nicht, solche Türen öffneten sich nicht so einfach.

Indem er seine Bedenken offen zur Sprache brachte, öffnete Paul Gladstone, ob er wollte oder nicht, die Tür zu seiner letzten Versuchung. Der Weg war frei in ihm einen Geist heranzuziehen, der den Zwängen seines Tun und Handelns als EG-Generalsekretär gewachsen war.

Cyrus Benthoek brachte den Ball mit einem scheinbar neuen Thema wieder ins Spiel, das Gladstone ebenso überraschte wie der Umstand, dass man ihn vertraulich beim Vornamen ansprach.

»Dr. Channing und ich haben Sie deshalb gebeten sich uns anzuschließen, Paul, weil wir Ihnen viele Türen öffnen können. Türen der Zusammenarbeit, des Vertrauens, der Sorge und der gemeinsamen Interessen. Und wir haben Sie gerade jetzt gebeten sich uns anzuschließen - und gerade in diesem Teil der Welt -, weil hier zurzeit die Zusammenkunft einer hoch angesehenen Loge stattfindet. Ist Ihnen bewusst, Paul, dass viele hochrangige Prälaten im Vatikan der Loge angehören?«

Es kostete Paul einige Sekunden, um zu antworten. »Ja. Aber offiziell bestehen immer noch einige Vorbehalte gegenüber der Freimaurerei.«

Dr. Channing beeilte sich ihn zu verbessern. »Der einzige nennenswerte Grund für Verstimmungen ist der gegenwärtige Heilige Vater. Aber - wie Sie so klug bemerkt haben - er ist in vieler Hinsicht der letzte Papst der alten Schule.«

Benthoek hakte mit einem väterlichen Lächeln nach. »Professor Channing und ich haben beschlossen Sie zu einem Teil unserer kleinen Enklave zu machen.

Denn Sie gehören zur Familie, mein Junge. Das sind wir doch ab heute, oder? Mitglieder derselben Familie.«

Allmählich dämmerte aus den tiefsten Winkeln von Pauls mühelos eingenommener Seele die Einsicht empor, dass er nicht in diese uralte Stadt eingeladen worden war um auf die verstaubte Vergangenheit zurückzublicken, sondern um den Übergang in eine neue Lebensweise zu vollziehen; um sich der privilegierten Gemeinschaft der Männer anzuschließen, die am neuen Jerusalem bauten; um sich einer kleinen Anzahl von Individuen anzuschließen, die einander für dieses edle Ziel Türen öffnen konnten und jederzeit öffnen würden; um die Voraussetzungen für seinen Erfolg zu schaffen.

Alles, was Benthoek sagte, bestätigte Gladstones Annahmen. »Während des ganzen Tages, Paul, sind wir an die Bedeutung brüderlicher Liebe unter allen Menschen guten Willens erinnert worden. Das ist Bethlehems Botschaft und die Botschaft Golgathas. Aber am Fuße des Kreuzes - in der Kirche des Heiligen Grabmals - sind wir auch daran erinnert worden, wie schwer fassbar diese Botschaft für die Bürger dieser alltäglichen Welt ist. Was mich so stolz macht, mit Ihnen verbündet zu sein - und ich weiß, dass Dr. Channing mir darin zustimmt -, ist die universalistische Sichtweise, die Sie uns bewiesen haben. Denn dies ist das Wesen unserer Sichtweise; das Wesen unserer Lebensarbeit. Sie sind sehr weit gekommen, mein junger Freund. Erst letzten Monat in London haben wir uns darüber unterhalten, was es bedeutet, das Tal zu verlassen und auf den Berggipfel zu steigen. Doch Sie werden bereits auf die Höhen berufen, wo es keine Konflikte mit rivalisierenden Glaubensrichtungen gibt. Keine Streitereien um den Vorrang oder um besondere Privilegien oder religiöse Exklusivität. Morgen werden Dr. Channing und ich Sie zum Höhepunkt Ihrer Pilgerreise führen. Wir werden Sie auf den Berg bringen, wo alle dieselbe göttliche Macht und Autorität unter den Menschen anerkennen. Wir werden Sie in eine Welt vollkommener >Ökumene< geleiten.« Cyrus machte eine kurze Pause, dann beugte er sich vor, als hingen alle Hoffnungen der Welt, die er eben beschrieben hatte, von Pauls Antwort ab. »Werden Sie mit uns diesen Berg besteigen?«

Paul spürte kein Gezerre unermüdlicher Dämonen mehr, keine Spur von Panik oder Selbstvorwürfen, wie sie ihn in London heimgesucht hatten.

Stattdessen war ihm, als müsse er seine Zustimmung laut hinausschreien. Dennoch gab Paul Gladstone einfach die Antwort, die ihn zu einer ungewollten, aber bedeutsamen Zusammenarbeit an seinen Bruder binden würde um die Bischöfe seiner Kirche zu einem gemeinsamen Beschluss gegen den derzeitigen, polnischen Papst zu bewegen.

»Ich werde Ihnen folgen, Mr. Benthoek. Aus ganzem Herzen.«

 

Es stellte sich heraus, dass die Einladung auf den Berggipfel mehr als eine Metapher war.

»Aminadab«, erklärte Ralph Channing, als die drei Amerikaner am nächsten Morgen gemeinsam ihr Hotel verließen, »ist einer der höchsten Punkte in der Umgebung von Jerusalem.«

Auf dem letzten Stück Weg nach Aminadab brach mit voller Gewalt ein Sturm über sie herein. Der schwere Nebelschleier, die schärfen Donnerschläge und die für Sekundenbruchteile aufflackernden Lichtblitze über der grauschwarzen Landschaft erweckten den Eindruck, als sei eine alte lokale Gottheit über ihr Erscheinen erzürnt und allem Menschlichen, Wohltuenden und Gastlichen feindlich gesinnt. Dann brach plötzlich, als die Straße auf eine flache Ebene einschwenkte, die Sonne durch und breitete ihre goldroten Banner über den Himmel aus.

»Sehen Sie mal!«, lachte Cyrus in ausgelassener Laune. »Der Himmel selbst lächelt auf unsere Fahrt herab! Es wird alles gut enden!«

In diesem magischen Augenblick trug der Wagen sie sicher in das kleine, friedlich auf dem Berggipfel liegende Dörfchen Aminadab.

Paul sah sich etwas enttäuscht um. Nach den Wundern Jerusalems war dies kein anregender Ort. Etwa ein halbes Dutzend Schlackensteinhäuser gruppierten sich um eine Hand voll etwas eindrucksvollerer Gebäude. Von den dreißig, vierzig Fahrzeugen abgesehen, die auf dem Parkplatz gleich neben dem größten Gebäude parkten, schien der Ort verlassen.

Vor diesem Gebäude brachte ihr israelischer Fahrer Hai den Wagen zum Stehen. Gladstone stieg aus dem Jeep und folgte Channing und Benthoek zur Tür, wo der Professor seine Aufmerksamkeit auf eine Plakette über dem Eingang lenkte.

»Wie Sie sehen, sind der Davidstern, das christliche Kreuz und der Halbmond vom Kreis und Rechteck der Freimaurerei umschlossen. Und jetzt folgen Sie Cyrus und mir um dieses überaus menschliche Wunder in Fleisch und Blut zu sehen.«

Channing ging eine Treppe voraus, die in einen lichten, geräumigen, spärlich möblierten Raum führte, der die ganze Grundfläche des Gebäudes einnahm. In der Mitte des Raums stand eine Art Miniaturarche. Solide gezimmert, etwa einen halben Meter hoch, einen halben Meter breit und vielleicht einen Meter lang, ruhte sie auf einem königsblauen Kissen und war umgeben von Ständern mit je einer entzündeten Wachskerze. Eine riesige Bibel lag aufgeschlagen auf der Arche und nahm ihr ganzes Deck ein.

Stirn- und Rückwand des Saals waren fast vom Boden bis zur Decke mit schwarzen Samtvorhängen drapiert, von denen der eine in silbernen Fäden mit den Emblemen des Judentums, der Christenheit und des Islam bestickt war, der andere mit Kreis und Rechteck der Freimaurerei. An den langen Seitenwänden standen je drei Reihen von Kirchenbänken, auf denen schweigende Männer, als Paul zwischen Channing und Benthoek eintrat, sich den Neuankömmlingen zuwandten. Ein Mann mit sanftem Gesicht und einem üppigen weißen Schöpf trat vor und streckte die Hände aus.

»Willkommen, Brüder.« Er wandte sich zuerst an Channing, dann an Benthoek.

»Bitte heißen Sie Paul Thomas Gladstone willkommen.« Dr. Channing richtete einen ernsten Blick auf Paul. »Mr. Gladstone, ich habe die Ehre, Ihnen den Allerhöchsten Groß-Kommandeur Shlomo Goshen-Gottstein vorzustellen.«

»Sie sind uns sehr willkommen, Mr. Gladstone«, erwiderte der Groß-Kommandeur hochherzig. »Bitte setzen Sie sich doch alle zu uns.«

Von seinem Platz in der Mitte des Saals neben der Miniaturarche richtete der Groß-Kommandeur eine kleine Ansprache an Paul. »Wie Sie vielleicht wissen, wurde unsere Loge 1953 gegründet, gerade fünf Jahre nach der Gründung des Staates Israel selbst. Wir verfügen inzwischen über fünfundsiebzig Freimaurerlogen, die in drei verschiedenen Zeremoniellen und in acht Sprachen arbeiten - Hebräisch, Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Rumänisch, Spanisch und Türkisch. Die Männer, die Sie hier sitzen sehen, sind eins in ihren Anstrengungen die Botschaft des Freimaurertums zu verbreiten. Die Botschaft brüderlicher Liebe, Fürsorge und Wahrheit. So bauen sie Brücken des Verstehens zwischen sich und ihren Völkern.«

Ohne Eile standen ein halbes Dutzend Männer, die ebenso viele Traditionen vertraten, nacheinander auf und boten Paul mit ernsten Worten an ein ordnungsgemäß initiierter Bruder zu werden.

»Ich bin Lev Natanyahu«, erklärte der Erste. »Der Gott Israels ist der Eine Gott. Nehmen Sie unsere brüderliche Umarmung an, Paul Thomas Gladstone.«

»Ich bin Hassan El-Obeidi.« Der zweite Mann stand auf. »Es gibt nur den Einen Gott und Mohammed ist sein Prophet. Nehmen Sie unsere brüderliche Umarmung an, Paul Thomas Gladstone.«

»Ich bin Pater Michael Lannaux, Priester und Benediktinermönch.« Ein dritter Mann stand auf und wandte sich dem Neubekehrten zu. »Gott liebt die Welt so, dass er Seinen Sohn geschickt hat um Seine Kirche unter den Menschen zu gründen. Nehmen Sie unsere brüderliche Umarmung an, Paul Thomas Gladstone.«

Paul Gladstone fielen die Schleier vom inneren Auge. Ihm wurde fast schwindlig, als er in diesem ruhigen und beruhigenden Moment die Einheit aller Religionen begriff. Er begriff die Gründe für ihre Verschiedenheit. Und, ja, sogar ihre traditionelle Opposition gegeneinander. Und in diesem höchsten Augenblick seiner Versuchung fehlten Paul die Worte oder geistigen Bilder, in die er sein neues Verständnis kleiden konnte. Doch endlich stand er so hoch über den Partikularismen der Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime, wie Aminadab hoch über der Heiligen Stadt Jerusalem lag. Nie zuvor hatte er sich Gott und seinen Mitmenschen näher gefühlt. Nie zuvor hatte er einen so sicheren Hafen für seinen Geist und sein Wesen gekannt.

Als die letzte ernste Einladungsformel ausgesprochen war, antwortete Paul mit Entschlossenheit und großer Freude. »Ja!«

Er stand von seinem Platz neben seinen beiden Mentoren auf. »Ja! Ich nehme Ihre brüderliche Umarmung an!«

Die angebotene und angenommene Vereinbarung wurde mit einem kurzen Ritual besiegelt. Der Groß-Kommandeur forderte von der Versammlung eine Antwort auf eine einzige Frage. »Gibt es einen Grund, warum Paul Thomas Gladstone nicht in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden sollte?«

»Nein«, antwortete die Versammlung wie aus einem Munde.

»Es gibt nichts, was gegen ihn spricht.«

»Mr. Gladstone.« Der Kommandeur bedeutete Paul einen Schritt vorzutreten. »Zu einem passenden Zeitpunkt wird in einem angemessenen Ritual eine förmlichere Aufnahme durchgeführt werden. Aber kommen Sie jetzt bitte nach vorn. Knien Sie nieder, legen Sie Ihre Hände auf das Buch mit Gottes Wort und wiederholen Sie unseren schlichten Eid.«

Paul sah, dass man in eine Seite des archeartigen Gebildes das Siegel der Großloge von Israel geprägt hatte. Die Bibel lag so aufgeschlagen, dass auf der linken Seite die Heilige Schrift, auf der rechten der Buchstabe G, umrahmt von Kreis und Rechteck der Freimaurer, zu sehen war. Indem er eine Hand auf jec}e Seite legte, wiederholte Paul die Worte des Eides, die ihm der Groß-Kommandeur vorsprach.

»Ich, Paul Thomas Gladstone, der den Söhnen des Lichts ewige Treue gelobt hat, erkläre mich ernsthaft bereit dieser Gemeinschaft beizutreten, so wahr mir Gott, der Vater aller Menschen, helfe.«

»Und Weisheit ist Sein Name!« Der Kommandeur senkte den Kopf.

»So sei es!«, fiel der Chor ein.

Es lag nun am Groß-Kommandeur, den jungen Generalsekretär in der Rolle zu bestätigen, die er in Jerusalem auf sich genommen hatte, und zu bestätigen, dass diese schwer zu öffnenden Türen, von denen er vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden gesprochen hatte, kein Hindernis darstellen würden.

»Von heute an, Bruder Gladstone, wenn so schwerer Staub auf die Herzen der Menschen zu fallen scheint, werden Sie in Frieden Ihrer Wege gehen. Denn Sie haben den Tempel des Verständnisses unter allen Menschen betreten.«

 

Als er wieder allein in seiner Suite im König-David-Hotel saß und seine gepackte Tasche im Foyer bereits auf ihn wartete, nahm Cyrus Benthoek sich einige Augenblicke Zeit um Kardinal Maestroiannis Privatnummer im Collegio Mindinao in Rom zu wählen.

Seine Eminenz war erfreut zu hören, welch ein fabelhaftes Wochenende sein alter Freund in Jerusalem verbracht hatte. Und er war ebenso erfreut zu hören, dass sein zweiter amerikanischer Pfeil platziert war.

Nachdem Paul Gladstone sein Gepäck ins Foyer des König-David-Hotels gebracht hatte beschloss er, nochmals auf sein 7immer zu genen/ um von dort seine Frau in Brüssel anzurufen.

»Paul, Liebling. Wunderbare Neuigkeiten!« Yusai war nicht in jer Stimmung für Untertreibungen. »Jan hat sich als unser privater Engel erwiesen.«

»Jan?« Paul musste lachen, als er sich vorstellte, wie dem großen Belgier Engelsflügel wuchsen.

»Du wirst schon sehen!« Yusai lachte auch. »Wir können's kaum erwarten, dir das Haus zu zeigen, das er für uns gefunden hat! Oh, Paul, es ist einfach wundervoll. Es heißt Guidohuis nach einem Ahnen Jans, der im frühen neunzehnten Jahrhundert gelebt hat. Der größte Lyriker, den Flandern je hervorgebracht hat, sagt er. Jedenfalls steht Guidohuis draußen in Gent. Nun, eigentlich ist es eine kleine Gemeinde namens Deurle. Über die autostrade sind wir im Handumdrehen da, deshalb brauchst du dich um deine Termine nicht zu sorgen.«

Ein Blick auf seine Armbanduhr mahnte Gladstone, dass er auflegen musste, wenn er noch rechtzeitig den Flughafen von Tel Aviv erreichen wollte.

»Aber, Paul«, klagte Yusai. »Ich muss dir so viel erzählen! Warum hast du es denn so eilig?«

»Ich will schnell wieder bei dir zu Hause sein, Liebling! Ich steige vom Gipfel herab.«

 

Als Christian Gladstone allein in seinem Zimmer im Angelicum saß und bereits gepackt hatte, las er noch einmal die Notiz, die er gerade noch rechtzeitig von Pater Angelo Gutmacher erhalten hatte.

Chris fand, dass er bereit für seine Jungfernfahrt im Auftrag Kardinal Cosimo Maestroiannis sei. Er hatte sich alle Daten einverleibt und war von Kardinal Aureatini näher unterrichtet worden, wie er die Bischöfe so subtil befragen könne, dass sie Vertrauen fassten und ihre Hoffnungen bestärkt fanden. Seine Audienz mit dem Papst beschäftigte Christian noch immer und hatte seine schlimmsten Befürchtungen im Hinblick auf Rom besänftigt. Chris wusste jetzt, dass Rom der Ort war, an den er gehörte.

Doch in anderer Hinsicht war er verwirrter denn je. Er spürte instinktiv, dass vor seiner Nase eine Nebenhandlung ablief, doch er hatte keinen Hinweis, in was er da hineingeraten war. Er hatte es geschafft, sich etwas Zeit für ein Gespräch mit Aldo Carnesecca freizuhalten. Aber weil auch Carnesecca im Begriff war zu einer zweiwöchigen Mission für den Heiligen Stuhl nach Spanien abzureisen, hatten sie kaum Gelegenheit gehabt solche Rätsel zu ergründen wie die Frage, was der Papst gemeint haben könnte, als er vom Aufbau des neuen Jerusalem und von der Neuschaffung des Leibes unseres Erlösers sprach.

Doch von solchen Fragen abgesehen hatte Christian gehofft etwas Zeit mit seinem alten Freund und Beichtvater Pater Angelo zu verbringen, bevor er sich ins Ungewisse stürzte. Gutmacher war gerade aus Galveston eingetroffen und selbst ein Neuling im römischen Eingeweihtenspiel. Dennoch gab es niemanden, der besser wusste, wie man sich im unbekannten Gelände einen Weg suchte. Und es gab in Christians Leben keinen Menschen, dessen Urteil er mehr vertraute. Sosehr er es aber auch versucht hatte, es war Christian nicht gelungen, Pater Angelo in Rom ausfindig zu machen. Er hatte für ihn eine Reihe von Nachrichten in Collegium Teutonicum hinterlassen, da er wusste, dass Gutmacher dort einquartiert war; doch ohne Ergebnis.

Schließlich hatte er in der Post eine wenn auch kurze Notiz gefunden. Obwohl Pater Angelo nur wenige Worte flüchtig hingekritzelt hatte, boten sie ihm den besten Fingerzeig, den Christian sicn vorstellen konnte. Sie waren voller priesterlicher Anteilnahme. Sie lieferten den Kompass, den seine Seele brauchte. »Verzeihen Sie mir.« Chris las sich Pater Angelos Notiz ein letztes Mal laut vor, ehe er nach Frankreich abreiste.

»Ich hatte gehofft Sie nach Ihrer Rückkehr in die Ewige Stadt wieder zu sehen. Doch auf Anweisung des Heiligen Vaters musste ich kurzfristig in mein Heimatland reisen. Erst in Königsberg, dann in anderen Städten soll ich Kapellen einrichten, die Unserer Lieben Frau von Fatima geweiht sind. Unterrichten Sie bitte Ihre Mutter über diese Neuigkeit, denn ich werde keine Zeit haben, ihr zu schreiben. Vielleicht wird es ihre Sorge um die Kirche und um Sie als ihren Sohn mildern, wenn sie erfährt, wie ernst der Pontifex solche Unternehmungen nimmt. Beten Sie für mich, so wie ich für Sie bete. Dienen Sie Petrus, Christian. In allem, was Sie tun, dienen Sie ihm treu. Dienen Sie Petrus im Heiland und dem Heiland in Petrus. Denn das ist der Grund, warum Sie nach Rom zurückgekehrt sind.«

 

 

XXVII

 

Trotz ihres Ruhms Kardinälen, Bischöfen, Priestern und irrigen Politikern getrotzt zu haben hatte Cessi Gladstone niemals ernsthaft daran gedacht, sich mit dem Papst anzulegen.

Doch nicht lang nach Christians Abreise nach Rom hatten scheinbar unzusammenhängende Ereignisse während einer verheerenden Woche Anfang Oktober ihre Aufmerksamkeit unter einem neuen Blickwinkel auf den Vatikan gelenkt.

Der Besuch Traxi Le Voisins auf Windswept House markierte denBe ginn dieses Umschwungs. So wie er vor über zwanzig Jahren die Gründung der Kapelle des Erzengels Michael in Danbury vorangetrieben und so wie er ihr Pater Angelo Gutmacher als Seelsorger gesichert hatte, so hatte Traxi sich erneut in die undankbare Arbeit gestürzt nach Pater Angelos unerwarteter Berufung in den Dienst des Vatikans einen neuen Priester für die Michaelskapelle zu finden.

Traxis Schwierigkeit bestand nicht darin, Bewerber zu finden. Auf eine einzige Anzeige in einer militant traditionalistischen katholischen Publikation hatte er mehr Antworten erhalten, als er bearbeiten konnte. Das Problem bestand darin, dass Traxi trotz der überraschenden Anzahl von Priestern da draußen, die sich nach traditionellen römischen Sakramenten und Bräuchen sehnten, und trotz der Tatsache, dass viele von den Bischöfen, die nicht bereit waren, ihre traditionalistischen Neigungen zu dulden, aus ihren Gemeinden verjagt worden waren, keinen einzigen Mann gefunden hatte, der an Gutmachers praktizierte Priesterlichkeit, seine solide Theologie, seine seelsorgerische Erfahrung und seine Hingabe heranreichte.

»Ich sage Ihnen, Cessi« - Traxi ging im Arbeitszimmer von Windswept House auf und ab -, »wenn dieser Scharlatan von einem Papst die Dinge weiter so schleifen lässt, wird es nicht mehr lange dauern, bis wir überhaupt keine Priester mehr haben!« Traxi blieb ein Sedisvakantist, mehr denn je davon überzeugt, dass die Kirche seit 1958 keinen echten Papst mehr hatte.

Cessi nahm anfangs an, dass sie nur einen seiner üblichen übertrieben dramatischen und leidenschaftlichen Auftritte erlebte. Doch als sie die Dossiers einiger Bewerber durchsah, die er mitgebracht hatte, begann sie eine andere Dimension der kirchlichen Tragödie zu erkennen, gegen die sie auf Windswept House so lang gekämpft hatte. Sie bekam einen Eindruck von der Anzahl guter und williger Priester, die von ihren eigenen Bischöfen fortgeschickt worden waren. Als aufsässige Kleriker gebrandmarkt und deshalb außerstande einen Bischof zu finden, der sie eingestellt hätte, blieb ihnen keine Möglichkeit ihrer göttlichen Berufung nachzukommen. Traurig musste Cessi zugeben, dass sie keine Lösung für ihr Problem wusste.

Selbst die Nachricht, dass der Pontifex Pater Angelo damit beauftragt hatte, eine Reihe von Kapellen einzurichten, die Unserer Lieben Frau von Fatima geweiht waren, hatten ihr die Sorge um die Kirche, von der auch Gutmacher wusste, nicht nehmen können. Denn es ergab für Cessi keinen Sinn, wie ein Papst, der Fatima solch innige Hingabe entgegenbrachte, es überhaupt zulassen konnte, dass Priester von untadeligem Glauben unzureichend ausgebildet und dann, ohne dass Rom protestierte, von ihren eigenen Bischöfen kaltgestellt wurden.

Sosehr Cessi diese Entwicklungen auch beunruhigten, eine plötzliche gesundheitliche Krise Tricias zwang sie für ein paar Tage alles andere beiseite zu schieben. Ihr wurde ein Spezialist in Toronto empfohlen, der einigen Erfolg damit hatte, zumindest die Symptome der Keratoconjunctivitis sicca zu behandeln. Weil er in seiner Therapie Substanzen verwendete, die die amerikanische Gesundheitsbehörde nicht zugelassen hatte, reisten Cessi und Tricia gemeinsam nach Kanada.

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr wurde Cessis Aufmerksamkeit durch einen dringenden Anruf ihres New Yorker Finanzberaters Glenn Roche V. gewaltsam wieder auf den Vatikan 8erichtet. Er hatte viele Male bewiesen, was er wert war. Unter seiner Anleitung hatte sich das Vermögen der Gladstones von etwa 143 Millionen Dollar, die der alte Declan bei seinem Tod lrn Jahre 1968 hinterlassen hatte, mühelos vervielfacht. Dies und die Tatsache, dass die Roches zu den führenden katholischen Familien New Yorks gehörten, hatte dazu beigetragen, nass er Cessis unerschütterliches Vertrauen genoss.

»Ich bin froh, dass ich Sie zu Hause angetroffen habe.«

»Hört sich ernst an.« Cessi reagierte mehr auf die Spannung jn Roches Stimme als auf seine Worte.

»Eine neue Krise des IRA, fürchte ich.«

»Großer Gott, Glenn!« Als sie die Initialen des vatikanischen Instituts für Religiöse Arbeiten vernahm, traute Cessi kaum ihren Ohren. »Wieder die Vatikanbank? Es ist doch kaum die Tinte meiner Unterschrift unter der Darlehensbürgschaft trocken, mit der ich ihnen aus dieser dummen Geschichte rausgeholfen habe, in die uns die BNL wegen Saddam Husseins Condor-Rakete oder was immer es war, verwickelt hat. Sie können doch nicht schon wieder in Schwierigkeiten geraten sein!«

»Sieht so aus, Cessi.«

Nach ihren Problemen mit Tricia, ihrer Sorge um Christians Wohlergehen und Traxi Le Voisins ständigen Anrufen sah Cessi eigentlich keine Veranlassung sich wieder in etwas hineinziehen zu lassen. Wieder einmal wurde von ihr erwartet dem IRA unter die Arme zu greifen.

Unter gewöhnlichen Umständen hätte Cessi keine Bedenken gehabt die finanziellen Mittel bereitzustellen, die Glenn vorschlug. Aber die konkreten Begleitumstände, unter denen der Vatikan um ein neuerliches Eingreifen der Familie Gladstone bat, verliehen der Situation unvermittelt einen ganz neuen Reiz. Cessi kam der Gedanke, dass die Gladstones, nachdem ihre Millionen dem IRA jahrelang nützlich gewesen waren, durchaus erwarten konnten ein Wörtchen mitzureden. Schließlich, überlegte sie, arbeitete einer ihrer Söhne inzwischen fest im Rom der Päpste. Und zu Hause hatten sich die Dinge so unglücklich entwickelt, dass Traxi Le Voisin trotz seines Eifers als Sedisvakantist vermutlich Recht hatte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis den Gläubigen überhaupt keine Priester mehr blieben.

»Ich sage Ihnen etwas, Glenn.« Der scharfe Unterton in Cessis Stimme war nicht zu überhören. »Ich werde die neuen Dokumente unterzeichnen. Aber diesmal will ich es in Rom tun. Und diesmal will ich Dr. Giorgio Maldonado persönlich gegenübersitzen. Und Kardinal Amedeo Sanstefano.« Maldonado, ein Laie und Bankier, war Direktor des IRA. Und als Vorsitzender der vatikanischen Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten - der legendären Finanzpräfektur - verwaltete Kardinal Sanstefano Ökonomie und Finanzen des Heiligen Stuhles und übte innerhalb und außerhalb von Rom beträchtlichen Einfluss aus.

»Meinen Sie, man würde mich empfangen, Glenn?« Cessi hielt es für das Beste, die Sache frontal anzugehen.

»Sie empfangen?« Roche lachte vor Erstaunen über diese Frage. »Bei den Schwierigkeiten, in denen sie im Moment stecken, würden sie um drei Uhr morgens aus den Betten springen, wenn Sie plötzlich vor der Tür stünden.«

»Dann sind wir uns also einig. Natürlich werden Sie mich etwas einweisen müssen, damit ich vernünftig mit den IRA-Beamten reden kann. Wenn nötig, mache ich auf dem Weg zum Vatikan einen Abstecher nach New York.«

Roche bereitete ihr Vorschlag einigen Kummer. »Lassen Sie sich von den Römern nicht einschüchtern«, warnte er. »Manche haben es sich zu einfach vorgestellt, in die inneren Angelegenheiten des IRA einzugreifen. Aber da drüben geht mehr vor sich. Mehr als die Machenschaften geschickter Bankiers.«

»Wenn sie geschickte Bankiers hätten, Glenn«, wandte Cessi ein, »würden wir so kurz nach dem BNL-Debakel kein solches Gespräch führen. Aber in einem sind wir uns einig: Da drüben geht Größeres vor sich. Jedenfalls sollte dem so sein. Vielleicht wird es Zeit, dass man sie daran erinnert. Werden Sie die nöti-8en Absprachen mit dem IRA treffen?«

Roche hatte keine Ahnung, welchen Plan Cessi ausbrüten mochte; aber er wusste, dass er kaum eine Wahl hatte. Er würde die nötigen Absprachen treffen. Er würde Cessi sogar begleiten Aber er stellte selbst eine Bedingung. »Ich habe unseren ausländischen Freunden zahlreiche solcher Besuche abgestattet, Cessi. Ich meine, äußerst vertrauliche Besuche um über Angelegenheiten von ernster internationaler Bedeutung zu beraten. Uns selbst und dem Vatikan zuliebe sollte unser Besuch kurz und geheim sein. Grundsätzlich darf niemand erfahren, was vor sich geht. Das bedeutet auch kein Besuch bei Christian, während Sie dort sind, nicht einmal ein Telefonanruf oder eine kurze Begrüßung. Wir gehen rein, wir tun das Nötige für das IRA und wir verschwinden wieder. Alles in einer römischen Stunde. Einverstanden?«

»Einverstanden«, schnurrte Cessi ins Telefon. »Wir tun das Nötige für das IRA. Und vielleicht auch ein bisschen für die Kirche.«

 

Cessi Gladstone war nicht die Einzige, die von dringlichen Umständen gezwungen wurde den Vorgängen im Vatikan ein lebhaftes Interesse zu widmen. Noch war sie die Mächtigste. Im Drama des weltweiten Sturms auf eine neue ökonomische und politische Ordnung unter den Nationen begriffen alle Hauptprotagonisten, dass die kommenden zwei bis vier Jahre von grundlegender Bedeutung für die konkurrierenden Pläne der Vereinigten Staaten, Europas und der Gemeinschaft aller Nationen wären. Bis zum Herbst dieses Jahres hatte einer dieser Protagonisten - das Zehnerkomitee des Präsidenten in Washington - sich der Aufgabe gestellt die Politik des Heiligen Stuhles zu klären, insbesondere im Hinblick auf die kurzfristige Politik des Pontifex in Beziehung zur Sowjetunion und deren veränderter Rolle im Weltgeschehen. Der Mann, der dieses Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, war Admiral Bud Vance, der geschäftsführende Direktor des Komitees. Und der Mann, jer die Beinarbeit erledigen sollte - der Mann, den man für ein ernsthaftes Gespräch mit dem polnischen Papst ausersehen hatte -, war Gibson Appleyard, der stellvertretende Direktor.

Im offiziellen Washington, wo das Verständnis für die vatikanische Politik so tief ging wie eine Wasserpfütze, ergab diese Verfahrensweise einen Sinn. Appleyard hatte als früherer Geheimdienstmitarbeiter der Marine nicht nur ausgiebige Erfahrungen mit der Sowjetunion. Außerdem war er derjenige, den Cyrus Benthoek angehalten hatte dieser seltsamen antipäpstlichen Sitzung in Straßburg beizuwohnen. Und nachdem während der EG-Sitzung in Brüssel der Papstbrief über das »arme, arme Europa« verlesen worden war, hatte Gib als Erster ernste Fragen über die Europapolitik des Pontifex gestellt. Das genügte um Gib Appleyard als Experten von Rang zu qualifizieren.

Das Treffen, bei dem Appleyard von Admiral Vance seine Anweisungen erhielt, hatte einen besonderen Zweck und behandelte weit reichende Themen. »Wir beide kennen die Lage in der Sowjetunion, Gib.« Bud Vance setzte sich hinter den Schreibtisch in seinem Washingtoner Büro und trank einen Schluck schwarzen Kaffee. Er hielt nicht viel von Einsatzbesprechungen bei Sonnenaufgang. »Dennoch ist mir aufgetragen worden Ihnen alles darzulegen; also hier das Wesentliche in Kürze:

Wir kennen die wacklige Position Michail Gorbatschows seit dem Putschversu